Samstag, 20. April 2024

Archiv


"Dr. Sex"

Mit T.C.Boyle bin ich in den kalifornischen Seqouia-Bergen verabredet, in einer Lodge zwischen uralten meterdicken Baumriesen, den Seqouias. - Boyle ist hager, das einzig auffällige sind seine blaue Sonnenbrille und eine Baseballmütze, die das wild wuchernde Haar kaum bändigt. Ein rastloser, auf eine Sehne gespannter Mann, dessen Nervosität unter einem Lachen pulsiert.

Von Antje Ravic-Strubel | 18.02.2005
    Das ist eine tolle Art, ein Interview zu führen, Antje, ein perfekter Tag, ich war schon wandern und schwimmen, und jetzt ein Bier, ich meine, was könnte es Besseres geben?

    Ein struppiger Hund zu seinen Füßen, eine Horde Harley-Davidsen-Fahrer hat gerade vor der Berglodge halt gemacht, die Sonne wirft die länglichen Schatten des Nachmittags. Es muss leicht sein hier oben, sich auf den Radius des Lichts zu konzentrieren und an einem neuen Roman zu schreiben, leicht allerdings auch, Zurückliegendes zu vergessen wie den Roman "Dr. Sex", der unter dem Titel "Inner Circle" bereits letztes Jahr in den USA erschien.

    Aber weißt du, nach einer Weile, nachdem ich diverse Interview gegeben habe, fange ich an, mich zu erinnern, ja, ich bin ein Autor und ich habe dieses Buch geschrieben, und ich glaube es bedeutet das und das, naja – (lacht)

    Die Harley-Fahrer an den Bänken ringsum ordern Bier, Langbärte, Rauhbeiner mit einem Gemütlichkeitsdruck, Ex-Kommunarden wie sie vielleicht Boyle vorschwebten, als er Drop City schrieb. Drop City schildert die langsame Verdrängung einer Landkommune in den späten Sechzigern; auseinander fallende Hippiezeit. In "Dr. Sex" geht es um die Vorläufer der sexuellen Revolution, um den Forscher Alfred C. Kinsey, der in den 40er Jahren das Institut für Sexualforschung an der University of Indiana in Bloomington gründete. Mit einer kleinen Forschergruppe führte er Sexualität als wissenschaftlichen Gegenstand ein, nicht ohne vorher in der Gruppe diverse Praktiken wie Partnertausch und Gruppensex selbst auszuprobieren.

    Drop City erzählt über die Hippie-Zeit, über 1970, freie Liebe, das Konzept von freiem Sex und so weiter, also bin ich noch weitere zwanzig Jahre zurückgegangen, in die 40er, 50er Jahre, als es in Amerika sexuell gesehen ziemlich deprimierend aussah, und dort tauchte dann Doctor Kinsey auf mit seinen zwei Bänden über menschliche Sexualität, und ich fragte mich, also, wie kommt man von dort zum Konzept der Freien Liebe. Also bin ich zurück zu ihm, um zu untersuchen, wie in Amerika damals zum ersten Mal über den Stellenwert von menschlicher Sexualität in der Öffentlichkeit nachgedacht wurde, nachdem man es zuvor so unterdrückt hatte.

    Es geht in Dr. Sex weniger um die nackte Geschlechtlichkeit. Vielmehr werden Begriffe wie Treue oder Liebe den biologischen Trieben gegenübergestellt; ein hier so postulierter Zwiespalt, der auf Boyles Faszination am Gegensatz zwischen den spirituellen, geistigen und den tierischen Anteilen im Menschen weist.

    Kinsey sagte, die Dichter hatten zweitausend Jahre, um uns was von Liebe, von romantischer Liebe zu erzählen, jetzt werde ich euch was erzählen über die Physiologie und die Wissenschaft der sexuellen Beziehungen dieses Tieres namens Mensch, er nannte uns immer menschliche Tiere. Er begann, über Sex auf eine Weise zu sprechen, die das Körperliche vom Emotionalen vollkommen trennte, und ich habe mich einfach gefragt, wie das aussehen könnte, ob man das wirklich real darstellen kann, ob jemand tatsächlich Sex erleben und das nur auf tierische Weise wahrnehmen kann, ohne weitere emotionale Verästelungen, ohne irgendeine Andeutung von Liebe, mir schien das ideal, Kinsey war Darwinist und Empiriker, und er tat so, als wäre er ein kühler, uninteressierter Wissenschaftler, aber eigentlich war er einer der ersten wirklichen sexuellen Enthusiasten.

    Im gegenwärtigen Amerika scheint es ja eher wieder in die umgekehrte Richtung zu gehen; Aufklärungsveranstaltungen wie der Aids-Kampagne werden von der Bushregierung die Mittel drastisch gekürzt. Stattdessen fließt das Geld in ultrarechte, religiös-fundamentalistische Bewegungen, die den Sex vor der Ehe und vor allem Verhütungsmittel verteufeln. Da scheinen die frühen Jahre des vorigen Jahrhunderts nicht mehr so weit zurückzuliegen. Aber Boyle bleibt unspezifisch.

    Es war eine andere Zeit, was es für mich umso interessanter macht; ich kann zurückgehen in eine Phase, in der viele Teenager und auch Erwachsene um die zwanzig nicht mal genau wussten, was Sex eigentlich war, welche Organe daran beteiligt waren, wie sie angeordnet waren und was eigentlich passiert, ich meine, wir kamen direkt aus einer viktorianischen Ära hier in Amerika.

    Und ich interessiere mich jetzt dafür, weil Sex so normal geworden ist in gewisser Weise und doch, und doch ist es nicht normal, weil es mit einem Kick zu tun hat, mit Liebe, es gibt eine emotionale Seite, die Kinsey natürlich ablehnen würde.


    Sexualität hat Boyle schon immer beschäftigt, in Riven Rock taucht ein Sexualstraftäter auf, auch historische Persönlichkeiten faszinieren ihn schon länger: etwa in "Wassermusik" oder in "Willkommen in Wellville" wo der Gesundheits- und Fitness-Guru John Harvey Kellog im Mittelpunkt steht. Gibt es also bevorzugte Stoffe?

    Alle Bücher sind untereinander auf eine Weise verbunden, die ich nicht vorhersehen kann. Aber natürlich gibt es hier eine Verbindung zu der unterdrückten Sexualität in "Riven Rock" und auch zu "Willkommen in Wellville". Erkennbar ist auch mein Interesse an autoritären Figuren. Kinsey war ja erstmal antiautoritär, er schleuderte den Amerikanern die Sexualität offen ins Gesicht, sagte, das sei normal. Das war großartig, das war überhaupt das Beste, was er getan hat. Andererseits war er eine sehr autoritäre Gestalt wie etwa Dr. Kellog, wie viele Menschen, denen ich zutiefst misstraue, große Führer, die uns weismachen wollen, dass wir unsere Identität aufgeben, uns ihnen unterordnen sollen, so dass sie uns ins Gelobte Land führen können. Aber ich war immer eine Art Punk, ich gehe meinen eigenen Weg und bin sehr sehr misstrauisch, was das angeht.

    Was mich interessiert, hat aber immer mit dem zu tun, was ich vorher gemacht habe. Es passiert zufällig, aber so entsteht ein komplettes Oeuvre all dessen, was ich jemals geschrieben habe, und mein großer Beitrag für die Gesellschaft besteht darin, dass Studenten ihre Thesen schreiben können, denn guck dir an, wie leicht das dann für sie ist -


    Ordnen die Studenten ihn denn als postmodernen Autor ein oder als Realisten?

    Ich habe als postmoderner Autor angefangen, aber ich komme langsam davon weg, eigentlich bin ich eine Art Verbindung zwischen den Schriftstellern der 60er, 70er Jahre wie Günter Grass und Garcia Marquez, Robert Coover, Thomas Pynchon, die Schriftsteller, mit denen ich aufgewachsen bin, die ich geliebt habe, und einem eher naturalistischen Stil, dem ich mich heute stärker verbunden fühle.

    Ich liebe die lateinamerikanischen Schriftsteller und viele große amerikanische Autoren wie Raymond Carver, er ist der größte Kurzgeschichten-Erzähler, den wir hatten seit Cheever.

    Ich glaube, Ray beeinflusste mich in den 80ern, als er überhaupt seinen größten Einfluss hatte und ich noch studierte, oder waren es die 70er, die späten 70er...

    Er schrieb eine sehr minimalistische realistische Art Kurzgeschichte und ich schrieb eine ziemlich riesige, verrückte Günter Grass mäßige, Garcia Marquez mäßige Sache – Rays Geschichten brachten mir ein bisschen was über Charaktere bei und psychologische Tiefen und klar, er hatte einen Einfluss auf mich.

    Aber dann muss ich doch sagen, ich bin ja hier mit meinem eigenen Auftrag unterwegs, ich habe ja doch einen eigenen Kopf, so oder so, ich versuche einfach herauszufinden, was das alles bedeutet: warum sind wir hier, was machen wir hier und besonders, wie verhält sich unsere tierische Natur gegenüber der geistigen, spirituellen, und was heißt das für mich selbst im Besonderen und warum interessiert mich gerade ein bestimmtes Thema. – Und da ist kein Ende absehbar.


    Viele seiner Texte sind engagiert, sie liegen nah am Zeitgeschehen, sie reflektieren politische Tendenzen. Würde er sich denn als moralischer Autor bezeichnen? Boyle bestellt ein neues Bier.

    Ich glaube zutiefst an alles, woran ich glaube: an Literatur, Schutz der Umwelt, die gleichen Rechte für Frauen, ich bin da sehr liberal, aber ich würde niemals versuchen, diese Sicht einem Leser aufzuzwingen. Dafür ist Kunst nicht da, ich bin einfach genauso verstört von der Welt wie andere auch und ich kann mich schlecht auf sie beziehen, es sei denn, ich mache Kunst daraus. Und wenn diese Kunst den Menschen auf einer politischen Ebene etwas sagt, ist das in Ordnung, das zeugt von einem tiefgründigen Lesen, und jeder Leser bringt in den Text das mit, was er oder sie fühlt. Es ist nicht meine Aufgabe, irgendjemandem etwas zu predigen oder vorzuschreiben, was man tun soll.

    Das Publikum ist für Boyle ein wichtiger Seismograf; für seine Fans führt er auf seiner Homepage regelmäßig Tagebuch; er ist ein Fährtenleger, aber er erwartet auch, dass die Fährte aufgenommen wird. In unserem Gespräch redet er mich immer wieder direkt an; als wäre die Namensnennung eine Versicherung, verstanden worden zu sein.

    Selbst, als ich noch experimenteller war, als ich gerade zu schreiben begann und viel mit der Form gespielt habe, habe ich doch begriffen, dass Kunst immer auch Unterhaltung ist, und Unterhaltung muss irgendeinen Inhalt haben, und Inhalt bedeutet für mich eine Geschichte, und diese Geschichte zu erzählen, das ist für mich wichtiger als alles andere.
    Boyle hat das bereits als zwanzigjähriger Student am inzwischen berühmten Writers Programm in Iowa gelernt. Seine eigenen Studenten unterzieht er als Inhalber des Lehrstuhls für kreatives Schreiben an der Univercity of Southern California einer eher amerikanischen, auf ein Publikums-Feeback gerichteten Art der Textkritik. Ist das Unterrichten nicht hinderlich beim Schreiben?

    Es ist großartig, weil es mich rausholt aus allen Problemen, die ich gerade mit dem Schreiben habe, es ermöglicht es mir, mich gut zu fühlen aufgrund von etwas komplett anderem, an das ich auch sehr glaube, nämlich Leuten zu helfen, die Talent zum Schreiben haben. Ich hatte selbst großartige Lehrer und Förderer, die aus mir das gemacht haben, was ich heute bin, und ich hoffe, dass ich dasselbe für andere Leute tun kann.

    Meinen Studenten gebe ich eine sehr genaue Analyse ihrer Arbeiten, ich lektoriere Zeile für Zeile, natürlich habe ich ein bestimmtes Vokabular dafür, und sie haben ein bestimmtes Vokabular, und das gibt ihnen dann eine Art Training. Sie lernen nicht, wie man schreibt, sie wären gar nicht in diesem Kurs, wenn sie nicht ohnehin schon eine große Begabung hätten. Aber wenn sie es geschafft haben, kann ich ihnen helfen, indem ich sie zum Beispiel an Schriftsteller heranführe, die sie vielleicht mögen könnten, oder indem ich ihnen meine Meinung zu ihren Texten sage, so wie ihre Mitstudenten auch ihre Meinungen sagen, und dadurch wissen sie, was ein Publikum von ihren Texten hält. Das ist alles. Aber man kann nicht unterrichten, wie man schreiben soll, die wissen sowieso instinktiv, wie das geht. – Es gibt keine Regeln in der Kunst, und wenn es welche geben sollte, würde ich morgen früh als erstes die brillianteste Geschichte so schreiben, dass sie alle diese Regeln unterläuft und das würden meine Studenten auch machen. – Die Struktur entsteht allein durch die jeweilige Kultur und durch andere große Künstler, die man bewundert.


    Aber welche Gewichtung hat denn in dieser publikumsorientierten Art zu schreiben eigentlich die Arbeit an der Sprache?

    Der Rhythmus der Sprache ist für mich sehr wichtig und die Art, wie ein Text präsentiert wird, was wiederum schwer übersetzt werden kann. Die Deutschen sind ja sehr gebildet, mein Publikum sowieso: ich meine, die Hälfte aller meiner in Deutschland verkauften Bücher sind auf englisch, das ist großartig, weil man dann wirklich den Beat hören kann, und manchmal, wenn ich auf der Bühne bin, weiß ich, da sind jetzt sechs bis achthundert Leute im Saal, die lachen und kapieren´s, und danach kriege ich mit, dass einige dieser Leute sagen, Mann, du redest so schnell, ich habe nicht alles mitgekriegt, aber das ist o.k., wenigstens haben sie gehört, wie es klingen muss, natürlich ist eine Performance was anderes als ein Buch zu lesen, aber der Rhythmus ist mir sehr wichtig, ich lese auch meiner Frau fast jeden Tag vor, was ich geschrieben habe, nicht, um kritisiert zu werden, sondern nur, um den Rhythmus zu hören und ob es funktioniert.

    Hat er sich den zweiten Namen, diesen Kunstnamen Coreghassan dann als eine Art Bühnenidentität zugelegt? Oder gibt es ein verstecktes zweites Leben in ihm, das sich in diesem Namen ausdrückt? Die Frage nach der Freiheit der Identität, nach ihrer Unabhängigkeit von der Biografie, könnte sich ja gerade in Zeiten, wo genetische Fingerabdrücke Personen vereindeutigen und biologisch dingfest machen, ganz anders stellen.

    Wenn ich über Identität schreibe und über Doppelgänger wie in meinem nächsten Buch, wo eine Person die Identität einer anderen stielt, dann ist das ja ungefähr dasselbe, was ein Autor mit jedem Buch macht. Jeder Charakter ist ein Amalgam anderer Leute, und natürlich ist jeder Charakter im Buch, egal wie fern er dir eigentlich sein mag, auch immer ein Stück von dir, ein Alter ego.

    Mein Name ist gewissermaßen ein Stück solch einer anderen Identität. In der Vergangenheit gab es jede Menge Leute, die unter Pseudonym geschrieben haben, wie George Sand etwa, nur ich muss das ja im heutigen Amerika nicht mehr unbedingt machen. Aber ich habe mit 17 doch irgendwie gespürt, dass ich ein großer Star bin, ich meine, ich hatte nichts dergleichen getan, und ich hatte auch nicht gerade vor, irgendwas zu tun, aber, mein Gott, warum schaut die Welt nicht auf mich, hier bin ich! Also Tom Boyle, oder Thomas John Boyle junior ist so gewöhnlich, weißt du, es ist der allergewöhnlichste Name der Welt. Und so dachte ich, ich bräuchte eine besondere Identität, und ich glaube, dass ich auch wenigstens für eine Weile der einzige Coreghassan in einer Welt mit immerhin 6,2 Billionen Menschen war.


    Wenn T.C. Boyle von der Selbsterfindung redet unter den uralt gleichgebliebenen Seqoiua-Bäumen, erinnert das an die Fantasy-Nummernschilder von Autos, daran, dass Amerika aus einer Idee heraus entstanden ist. Und schon möchte man dieses Land überall dort suchen, wo es die Anmaßung gibt, glücklich sein zu wollen und über das Angepaßte hinauszureichen.

    In Deutschland, glaube ich, habe ich ein sehr großes, vor allem junges Publikum. Auch junge Autoren fühlen sich zu mir hingezogen, vor allem die, die außerhalb der Institutionen der älteren Schriftsteller stehen, die sie eher unter Druck setzen. Die älteren kontrollieren das Geld, sie kontrollieren die Institutionen, die Zeitschriften und sie erwarten irgendwie, dass die jüngeren in ihrem Sinne schreiben: es gibt eine bestimme Art von Roman, der dann auch so geschrieben werden muss: introspektiv, ernsthaft usw. Ich kam vor fünfundzwanzig Jahren das erste Mal nach Deutschland und zwar als Punk, scheiß auf dies, scheiß auf das, mir egal, ich mach hier nur ne Show und zeig dir den Weg zu was Neuem! Die deutsche Öffentlichkeit ist verrückt nach mir, weil ich frech bin, ich mach unerhörte Sachen, Spaß eben, weißt du, ja, ich habe einen Doktortitel, ja, ich bin ein Professor, aber ich werde das niemandem aufdrängen, ich bin frei.

    Aber ist dieses boylsche Amerika nicht doch eine Utopie, deren Inhalt die einfachen Gegensätze sind; Komplementärfarben anstelle der Schattierung, das Gespräch läuft glatt, tiefere Unterströmungen sind nicht in Sicht. Oder T.C.Boyle diskutiert sie nicht in Interviews. Er versteht sein Handwerk, er weiß, was er macht, auch der Wirkungen seiner Bücher ist er sich sicher. Für "Dr. Sex" hat er einen Ich-Erzähler gewählt.

    Ich glaube, die Leser werden Inner Circle sehr lustig finden. Es ist lustig, weil der Erzähler, ein Ich-Erzähler, keinen Schimmer hat, er weiß nicht, in was er da hineingerät, er hat keine Ahnung von Sex, er schätzt es nicht richtig ein, so dass die Leser, die mehr Erfahrung haben, denken werden, meine Güte, was macht der denn da, und vielleicht drüber lachen -