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Dreck gegen Devisen

1974 brauchte die DDR Devisen und die Westberliner wollten möglichst geräuschlos ihren Müll loswerden. Ein Vertrag war schnell geschlossen. Jährlich landeten etwa 2,5 Millionen Tonnen West-Müll auf vier DDR-Deponien.

Von Claudia van Laak | 04.10.2012
    "Dann sind wir da durch, durch den Maschendrahtzaun und standen plötzlich im Westmüll. Und der sah etwas anders aus als der Müll der DDR, bunter."

    Wir schreiben das Jahr 1984. Der 17-jährige Eik Galley und fünf seiner Freunde suchen das Abenteuer. Sie schwingen sich auf ihre Fahrräder, fahren zur 15 Kilometer entfernten Mülldeponie Schöneiche. Wilde Geschichten kursieren über diese Halde, auf der Westberlin seinen Müll entsorgt. Jeans sollen da rumliegen, begehrte Zeitschriften wie Bravo oder Stern.

    "Ich wusste nicht, wie der Westen roch, ich war nie da, aber es roch ein Stückchen nach Westen."

    Eik Galley ist begeistert. Der 17-jährige Sportverrückte sucht Zeitungen und Zeitschriften aus Westberlin, die über die Olympischen Spiele in Los Angeles berichten. Und natürlich Bravos mit Starschnitten – die kann man zu dieser Zeit für 50 Ostmark weiterverkaufen.

    "Ich hatte, glaube ich, ein, zwei Bravos und Reisekataloge von Neckermann in den schönen Süden hinein. Waren Bilder, die man in der DDR ja so nicht kannte."

    Im abgeriegelten West-Berlin herrschte in den 70er-Jahren Müllnotstand. "Recycling" war in dieser Zeit noch ein Fremdwort. Papier, Glas, kaputte Waschmaschinen, Krankenhausabfälle, Farben, Lösungsmittel, alles landete ungeprüft auf der Deponie, erzählt Peter Muder, früher Werkleiter bei der Berliner Stadtreinigung BSR.

    "Die Müllverbrennungsanlage hätte diese Mengen nie bewerkstelligt, das verbrennen zu können, und man hätte das dann woanders hinfahren müssen, nach Westdeutschland zum Beispiel. Das wäre ja alles viel teurer geworden."

    West-Berlin hatte keinen Platz, aber Devisen, in der DDR war es umgekehrt. Ideale Voraussetzung für den Vertrag aus dem Jahre 1974, den der VEB Bergbau-Handel - ein Unternehmen aus dem Imperium von Alexander Schalck-Golodkowski – mit der Industrieplanungsfirma Berlin-Consult schloss. Bis 1994 sollten jährlich etwa zweieinhalb Millionen Tonnen Hausmüll, Bauschutt und Klärschlämme auf vier DDR-Deponien geliefert werden, später kam der Bau einer Sondermüllverbrennungsanlage hinzu. Der Westen ließ sich all dies rund 170 Millionen DM kosten. Der meiste Abfall landete im brandenburgischen Schöneiche südöstlich von Berlin. Deponie und Verbrennungsanlage sind bis heute in Betrieb.

    Neben der Einfahrt die Reste eines Betonfundaments. Unscheinbar heute, wichtig zu DDR-Zeiten. Hier stand nämlich der Intershop – Kaffee, Brötchen und Bockwürste für die Müllfahrer von der Westberliner Stadtreinigung – nur gegen Devisen, versteht sich. Und von der Stasi kritisch beäugt. "Leiterin legt großen Wert auf gepflegtes Äußeres, ist modisch gekleidet und unterhält intensive verwandtschaftliche Westkontakte" notierte IM "Kaelble". Helmut Müller-Enbergs arbeitet in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagenbehörde.

    "Wenn es nicht so zynisch wäre, müsste man sagen, die Deponie war ein Marktplatz der Ost-West-Begegnung."

    Die IMs berichteten über deutsch-deutsche Partys, über einen Müllfahrer, der im Intershop 100 Stangen Zigaretten kaufte und nach Westberlin schmuggelte. Und über verseuchtes Grundwasser.

    "Die Daten sind von der Staatssicherheit erhoben, systematisch auch an den politischen Raum gespeist worden und folgt man den Ausführungen der Staatssicherheit in ihren eigenen Akten, ist nichts passiert."

    Die Bäckerei Wolter in Kallinchen am Motzener See, drei Kilometer von der Mülldeponie entfernt. Hier ist der Mann zuhause, der 20 Jahre lang die DDR-Behörden mit der Mülldeponie nervte. Ulrich Wolter, Bäckermeister in dritter Generation. Allein gegen sieben DDR-Gesetze wurde bei der Standortgenehmigung verstoßen, erzählt der 62-Jährige. Aber die Devisen waren wichtiger.

    "Was haben sie zu mir gesagt, war ja kurios: Herr Wolter, Sie wollen doch auch eine Banane und Apfelsinen zu Weihnachten haben. Aber wir haben nie eine mehr gekriegt, muss ich Ihnen sagen, seit den 70er-Jahren, nie eine. Die sind alle in Berlin geblieben, immer."

    Ulrich Wolter sitzt im Wintergarten hinter der Backstube, an der Wand seine Jagdtrophäen. Er kann stundenlang erzählen. Wie er und seine Mitstreiter es schafften, dass die Mülldeponie nicht direkt neben dem Motzener See errichtet wurde – wie zunächst geplant. Wie sie heimlich Kontakt mit den West-Berliner Grünen aufnahmen, um gemeinsam gegen die Deponie zu kämpfen. Und wie die Bewohner des Dorfes Kallinchen die DDR-Oberen ständig an ihre eigenen Gesetze erinnerten.

    "Das Schärfste war dann ’87, da haben sie aus der Schweiz Giftmüll hochgefahren. Wir haben dann wieder eine Eingabe gemacht, hier wird die Standortgenehmigung, die der Rat der Gemeinde erteilt hat, nicht eingehalten, hier wird aus einer Hausmülldeponie eine Giftmülldeponie gemacht. Dann war natürlich das Theater groß."

    Das Westfernsehen berichtete über Schöneiche, Greenpeace machte den Müllexport in die DDR zum Thema. Zur Jahreswende 1989/90 hatten die Anwohner endgültig die Nase voll. Sie blockierten einen Tag lang von 6 bis 22 Uhr die Straße zur Deponie. Mit Erfolg.

    "Jingle 17 Uhr – Rias Aktuell – kein bundesdeutscher Müll mehr nach Schöneiche und Vorketzin."

    Heute stinkt es nicht mehr in Schöneiche. Der Giftmüll aus der Schweiz wurde ausgebaggert, die Halde saniert und abgedichtet. Und der Intershop neben der Mülldeponie nebst modisch gekleideter Chefin mit Westverwandtschaft ist Geschichte.