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Drehort Rajasthan

Bollywood-Filme werden zumeist im Studio gedreht. Doch wenn ein Regisseure auf Originalatmosphäre setzt, schlägt die Stunde von Dilip Kungwani in Jaipur. Der Locationscout kennt die Drehorte, die den Ansprüchen der Traumfabrik genügen. Und die liegen oft im Wüstenstaat Rajasthan. Was kein Zufall ist.

Von Christiane Zwick | 19.05.2013
    Über die Wände des Saals rollen schwungvolle Wellen aus Gips wie Zuckerbaiser, Art-déco-Leuchter und Stuckfontänen in Pastellfarben schmücken den wahrscheinlich schönsten Kinopalast Indiens, das Rajmandir Cinema in Jaipur. 1200 Zuschauer finden vor der Leinwand Platz. Jetzt am Nachmittag lümmeln nur ein paar Hundert in den roten Polstersesseln, Platzanweiser leuchten Nachzüglern den Weg, Dilip Kungwani liebt dieses Kino. Er ist beruflich hier - als Filmschaffender muss er wissen, was läuft.

    "Das Rajmandir Cinema ist der Ort, an denen es jeden zieht, der Filme auf der ganz großen Leinwand in schöner Atmosphäre sehen will."

    Die Zuschauer tauchen begeistert ein ins Bad der Gefühle. In Agneepath ringen drei Stunden lang Gut und Böse miteinander. Es geht um Rache und Gerechtigkeit. Und natürlich Liebe. Schon am Eröffnungswochenende wurde der Neunmillionen-Euro-Blockbuster zum Kassenschlager. Auf der Leinwand werden Götter gefeiert, die Macht der Familie beschworen, es regnet Geld. Die Szenen entfalten sich vor malerischen Hintergründen. Solche idealen Drehorte zu finden, ist Aufgabe von Dilip Kungwani. Der Locationscout sucht sie in Rajasthan. Denn der Nordwesten Indiens zieht Filmleute magisch an:

    "Indiens Wahrzeichen, das sind Elefanten, Kamele, Pferde, Männern mit Turbanen, Mönche, indische Straßen. In Rajasthan findet man alles. Hier ist das echte, das wahre Indien."

    Draußen vor der Tür steckt das wahre Indien gerade im Stau. Was nichts weniger ist, als ein Zeichen für wirtschaftliche Entwicklung. Kungwani in seinem weißen Mittelklassewagen, auf dem Weg in sein Büro, hupt kaum. Eine kleine Ganesha-Figur klebt auf der Ablage. Ganesha, der Gott mit dem Elefantenkopf, Bezwinger aller Hindernisse, hat jetzt viel zu tun.

    Die Innenstadt ist ein Parcours aus kleinen und großen Baustellen an deren Rändern Kartenspieler sitzen, Rikschafahrer auf Kundschaft warten und Straßenhändler sonnengebleichte Hemden verkaufen. In schwarzen Pfannen brutzeln Jalebis, Spritzgebäck, das in Sirup getränkt wird. Aufgewirbelter Staub filtert das Licht, er wirkt wie ein Weichzeichner für die Szenerie. Viele Fassaden sind seit britischen Kolonialzeiten rosa getüncht, was Jaipur den Namen "Pink City" eingebracht hat. Aromen von Rosenwasser, Kuhdung und Sandelholz vermischen sich mit den Abgasen. Der Locationscout betrachtet die Entwicklung aus seiner Perspektive:

    "Früher, so vor zwanzig Jahren, war es einfacher, auf der Straße Filmaufnahmen zu machen, es gab weniger Menschen und weniger Verkehr. Jetzt gibt’s viele Menschen und viel Verkehr. Wenn wir drehen, drängeln sich die Leute um uns und starren in die Kamera."

    Weil die Bevölkerung schnell wächst und Jobs rar sind, fallen Personalkosten - von den Gagen der Stars abgesehen - kaum ins Gewicht. Das Jahresdurchschnittseinkommen liegt in Indien bei umgerechnet 1000 Euro, in Rajasthan deutlich darunter. Kabelträger und Statisten bekommt Kungwani für zwei Euro am Tag. Fürs ZDF besorgte er Statisten in Regimentsstärke. Auf Anfrage ist der Locationscout auch Produktionsassistent.

    Sein Büro befindet sich im oberen Stockwerk eines schlichten Flachdachhauses. Der Mann im Karohemd setzt sich auf einen noch plastikverpackten Bürostuhl und fährt ein schweres Notebook hoch. Auf dem Monitor erscheinen Fotos von Drehorten: Wüstenlandstriche, Lehmhütten, ein Salzsee, Grabmäler und Ghats. Die Ansichten der Märchenschlösser hat er ausgedruckt. Rajasthan, das "Land der Könige" beherrschten Generationen repräsentationsfreudiger Maharadschas.

    "Hier, das sind die Paläste, wir sind einen Monat rumgefahren und haben sozusagen mit der Kamera Paläste gejagt. Die Auswahl wird nicht einfach, wie man sieht. Wir haben in Rajasthan einfach zu viele Prachtbauten."

    Im Augenblick wird über eine Fernsehserie verhandelt, die zur Zeit der Moguln spielt, im 17. Jahrhundert. Als Drehort geeignet wäre vielleicht Amber Fort, eine gewaltige Sandsteinfestung, nur elf Kilometer von Jaipur entfernt. Kungwani unternimmt eine Stippvisite zum Palast des Maharadscha Man Singh. Kaum durchs Eingangstor getreten, sieht er Filmbilder vor sich.

    "Die Einstellung begann am großen Tor. Der Held kommt, um den König herauszufordern. Hier am Set in diesem Hof standen 2000 Statisten. Der Hof war voll mit Statisten. Eine große Szene."

    Amber war einst tatsächlich ein eigenes Königreich. Bis die islamischen Moguln die Herrschaft übernahmen. Heute ist das Fort ein Museum. Künste und Architektur im Nordwesten Indiens zeigen deutlich persischen Einfluss. Und vermitteln feudalen Machtanspruch. Die Kulisse passt gut zum Drehbuch der TV-Serie, findet Kungwani.

    "Wir sehen große Steinbögen und Kuppeln über den Altanen, auf denen früher die Wache stand. Dieses riesige Gebäude war einmal bernsteingelb gestrichen, daher der Name Amber Palace. Jetzt ist es eher ein Gelb, aber wenn die Sonne scheint, erstrahlt der Palast golden. Heute müsste er "Goldpalast" heißen. Hier kann man 50 Elefanten einsetzen und 100 Pferde für eine Schlachtszene verwenden. Man kann sagen, es ist der größte Palast in Rajasthan. Wir verwenden ihn für historische Filme, wenn keine modernen Anbauten stören dürfen."

    "Veer und Zaara" sowie "Ashoka" wurden hier gedreht, beide mit Indiens Kino-Star Nummer eins, Shah Rukh Khan, in der Hauptrolle. Und "Kamasutra" unter der Regie von Mira Nair. Dilip Kungwani war damals als Produktionsassistent dabei, mit diesem Film begann seine Karriere. Mira Nair bewundert er bis heute.

    "Sie ist fantastisch. Mira Nair hat einen ganz eigenen Arbeitsstil. Wenn sie hinter der Kamera steht, ist sie ein ganz anderer Mensch. Sozusagen ein Regisseur, wie er im Buche steht. Sie weiß, wie man Charaktere erschafft, wie man eine Szene abrundet und aus welcher Perspektive man am besten dreht. Sie ist eine Perfektionistin."

    Die große Konfrontation zwischen Kurtisane und Königin, den Höhepunkt von "Kamasutra", inszenierte Mira Nair im dritten Innenhof von Amber Fort. Lasziv badet Maya zwischen den Säulen, Tara schaut ihrer Konkurrentin verbittert zu. Ihre Schwiegermutter versucht Tara zu beruhigen.

    Schwiegermutter der Königin (Filmton): "Füge Dich mein Kind. Es ist eine alte Geschichte. Er hatte sie schon in eurer Hochzeitsnacht. Bei mir war es Rassa, die meinen Mann besaß. Es gibt Kurtisanen und es gibt Ehefrauen. Es gibt Dutzende wie sie. Aber du bist die Königin."

    Dilip Kungwani: "Das Kamasutra ist sehr umstritten in Indien. Wer das Kamasutra als Vorlage verwendet, bekommt Probleme. Deswegen haben sie den Namen "Taja und Mara" genommen. Der Name wurde verändert, nachdem der Film fertig war."

    Indische Produzenten sorgen sich sehr um die Familientauglichkeit eines Films. Freizügigkeit kostet Zuschauer. Kasse macht, was ganze Familien am besten mehrfach sehen wollen. Und die staatliche Zensur trifft alles, was politisch oder religiös heikel sein könnte. Gegen sich niedermetzelnde Gauner hat dagegen niemand etwas, das dürfen auch Kinder sehen.

    Die Verhandlungen in Amber Fort waren erfolgreich. Der weitläufige Palast kann für 4000 Euro pro Tag gemietet werden. Den Dreharbeiten steht nichts im Wege. Auf der Rückfahrt kommt Kungwani noch einmal am Rajmandir Cinema vorbei. Eine lange Schlange windet sich vor den drei Ticketschaltern. Die Halb-Sieben-Vorstellung beginnt gleich. Sechzig Rupien, etwa einen Euro, kostet die kleine Flucht aus dem Alltag. Die auch nach dem Kinobesuch noch nicht vorbei ist. Aus Geschäften und Autos schallen Fetzen von Filmsongs. Das Rezept des indischen Kinos ist uralt, Gott Brahma soll die Regeln der dramatischen Kunst verfasst haben. Ihnen zufolge erfahren wir durch das Kosten verschiedener Gefühle die Bedeutung des Universums. Zu den neun Geschmäckern gehören Liebe und Wut, Ekel, Angst und Humor. Bollywood bedient sich ihrer wie einer Gewürzmischung, eines Masala.

    "Masala-Filme sind eine Mischung aus Liebe, Sex, etwas indischem Tanz, Tanznummern, die sexy sind, ein paar Songs, was zum Lachen - eine Mischung aus all dem ist ein Masala. Die Leute wollten unterschiedliche Geschmacksnoten. Die Masalafilme laufen immer noch, aber mit neuen Geschmacksnoten. Horror, Tragödie, Comedy, ein paar vulgäre Dialoge. Das sind Masala-Filme."

    Das Publikum verlässt den Saal, kaum dass der Held seine Rache vollendet hat. Bis zum Abspann wartet niemand. Die warme Nacht, die schnell den Tag abgelöst hat, wird von Straßenlaternen erhellt, die Straßenszenen wie Filmspots ausleuchten. In ihren Lichtkegeln schreiten Kühe gemächlich durch den Verkehr als seien sie unverwundbar, ein Kamel zieht seinen Lastkarren, vor einem Tempel fädelt ein altes Ehepaar orangefarbene Ringelblumen zu Opferketten. Jeder Passant ist Zuschauer und Akteur zugleich. Nun, vielleicht noch etwas lieber Zuschauer.