Donnerstag, 28. März 2024

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Drei französiche Debüts
Über den Tod, die Liebe und Transsilvanien

Unterwegs mit den eigenen Erinnerungen, mit einer Nagelschere an zwielichtigen Orten und mit der Postkutsche in den Bergen von Transsilvanien: Die drei Debütromane aus Frankreich von Anne Philipe, Julie Estève und Mathias Menegoz zeigen, wie lebendig und vielfältig die Literatur des Nachbarlandes ist.

Von Tanya Lieske | 03.01.2018
    Eine französische Fahne weht im Wind
    Die drei Autoren kommen aus Frankreich (imago stock&people)
    Man kann sich den französischen Schauspieler Gérard Philipe durchaus als Naturgewalt vorstellen, er hat Schelmenrollen, Heldenfiguren und große Liebhaber gespielt, für die Bühne, für das Kino: In Stücken von Shakespeare, Corneille, Stendhal, Schnitzler, Camus. In seinem kurzen Leben war außerdem Platz für die Résistance während des Zweiten Weltkriegs und für ein politisches Engagement gegen Nuklearwaffen in den 50er Jahren. 1959 starb Gérard Philipe im Alter von nur 37 Jahren an Krebs. Die Frau an seiner Seite war Anne Philipe. Es war ihre zweite Ehe und ihr zweites Leben. Anne Philipe gehört zu jenen faszinierenden Frauengestalten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer von Männern dominierten Welt viel gewagt haben. Sie hat die Taklamakanda Wüste in Zentralasien durchquert, sie war Reiseschriftstellerin, Schauspielerin, Autorin. Einer großen Öffentlichkeit bekannt wurde Anne Philipe1963 mit dem nun wieder aufgelegten Abschiedsbuch: Nur einen Seufzer lang, Le Temps d’un soupir. Darin beschreibt Anne Philipe die letzten Tage und Wochen an der Seite ihres sterbenden Mannes Gérard Philipe.
    "Bis dahin hatte der Tod mich nie beschäftigt. Ich rechnete nicht mit ihm. Einzig das Leben war wichtig. Der Tod? Ein unausweichliches und zugleich ewig versäumtes Rendezvous, da sein Vorhandensein unser Nichtvorhandensein bedeutete. Er stellt sich im selben Augenblick ein, da wir zu sein aufhören. Es heißt: er oder wir."
    Anne Philipe entscheidet, die Prognose – einen Monat noch, höchstens sechs – für sich zu behalten. Die damit verbundenen Ausflüchte, die sie vor ihrem Mann ab nun finden muss, werfen die Autorin in eine Zwischenzeit. Eine Zeit, in der sich der Abschied schon vollzieht, da die Wahrheit gehen muss. Anne Philipe hat mit ihren eigenen strengen Prinzipien gebrochen.
    "Vor die Wahl zwischen Nichtwissen und Wissen gestellt, würde ich mich immer für das zweite entscheiden. Also war ich mit mir selbst nicht im Reinen. Ich verlangte, dass man sich auf eine bestimmte Weise zu mir verhielt, und dir gegenüber verhielt ich mich anders. Ich zerstörte unsere Gleichheit, ich wurde zur Beschützerin."
    Der Schleier der Diskretion
    Gewissensbisse, Zorn, Verzweiflung, Ohnmacht, all das behält Anne Philipe für sich in der Hoffnung, die gemeinsame Zeit um die titelgebende Zeitspanne eines Atemzugs zu verlängern. Diese zweifache Geste von Liebe und von Selbstkontrolle findet sich auch in ihrer Prosa wieder. Den starken Emotionen der Erzählerin stehen ihre beherrschten Formulierungen entgegen, aus denen auch der Abstand zur erzählten Zeit spricht, vier Jahre sind zwischen Abschied und Niederschrift vergangen. Anne Philipe gelingt es, ihrem Buch das allzu Private zu nehmen, insbesondere verbirgt sie das Eheleben des Schauspielers Gérard Philipe vor den Blicken der Leser. Durch diesen Schleier der Diskretion bekommen ihre Erinnerungen etwas allgemein Gültiges. Anne Philipe hält Zwiesprache nicht nur mit ihren Erinnerungen, sondern mit der Trauer und mit der Endlichkeit des Menschen. Nur einen Seufzer lang ist in Frankreich ein Klassiker und wurde zu recht wieder aufgelegt.
    "Ihr Rock liegt eng an den Schenkeln an. Er ist wie immer zu kurz. Der Stoff kräuselt sich. In der Regel kauft sie ihre Röcke eine Nummer zu klein. Sie verlässt das Haus, siegesgewiss lächelnd. Die langärmelige, kragenlose weiße Bluse ist bis zu dem Spalt zwischen den Brüsten aufgeknöpft. Die Bluse klebt an ihrer Haut. Die Absätze klackern, hämmern über den Asphalt. In Sachen Blickfang fährt sie das volle Programm."
    Jeden Freitagabend ist sie auf Jagd, sie sucht willige Männer, sie sucht den flüchtigen Sex. Lola heißt die Protagonistin dieses Debütromans von Julie Estève. Mit ihrem Namen ist Nabokovs Lolita herbeizitiert. Doch diese Lola ist nicht mehr jung, sie ist kein Kind, und sie ist auch kein wehrloses Objekt der Begierde. Estèves Lola befindet sich auf einem Beute- und einem Rachefeldzug. Die Schauplätze ihrer Taten? liegen im Halbdunkel, es sind Hinterzimmer von Gaststätten, Kellerräume, eine Kirmes, ein Kino. Hinterher schneidet sie dem jeweiligen Mann ein Stück Fingernagel ab. – Dies ist ihre ganz persönliche Trophäensammlung.
    "Sie schüttelt das Gefäß und betrachtet die Nägel, die wie in einer Schneekugel durcheinander wirbeln. Es sind Hunderte. Beim Anblick ihrer Beute regt sich in ihrem Herzen eine Mischung aus Ekel und Trost. Wie viele Kerle, wie viele Mistkerle waren es genau? Wie viele werden noch kommen?"
    Lola - Spielart des Feminismus
    Es ist in der Tat wenig Trost in diesem Buch. Lola ist in einer Art dekadentem Hyperrealismus geschrieben, die Erzählstimme sucht sprachlich nach der Ästhetik des Hässlichen. Dabei spart sie weder mit Körpersäften noch mit Worten, es wird gespritzt, gelutscht und gefickt, was das Zeug hält. Das ganze Tableau wirkt ausgestellt und grell, ein bisschen wie Rummelplatz mal Porno. Damit schreibt sich Julie Estève ein in die französische Spielart des Feminismus, dem es immer auch wichtig war, Begehren und Begierde zu verweiblichen. Leider ist die Absicht spürbar, der Roman wirkt etwas thesenhaft, und in jedem Fall überzeichnet. Das gilt besonders für das Innenleben der Hauptfigur Lola: Sie ist eine Halbwaise, hat als Kind ihre Mutter verloren; ihr Vater ist seitdem Alkoholiker. Das Ende einer frühen Liebe scheint Lola mit Anfang 20 den Rest gegeben zu haben. Wir halten fest: Das sind viele harte Fakten, die eine schöne junge Frau gerne mal zur Sexmaschine werden lassen, regressive Momente inbegriffen:
    "Zu Hause reißt sie sich die Kleider vom Leib und wischt die spektakuläre Schminke ab, doch die Scham geht damit nicht ab. Sie tut den Fingernagel des Vogesers ins Glas zu den anderen. Wie viele Nägel werden noch vonnöten sein? Die Mutter würde die Augen verdrehen, wenn sie sehen könnte, wie ihre Tochter ihre Haut zu Markte trägt, denkt sie."
    Die Nägel werden nicht gezählt werden, denn Lola verliert ihr Nägelglas in Griechenland. Der letzte ihrer Liebhaber, dem es zum Verhängnis wird, dass er schnarcht wie Lolas Vater, verliert sein Leben unter einem japanischen Seziermesser. Damit ist Lolas Geschichte erst mal zu Ende. Wie die Laufbahn der 38jährigen Autorin Julie Estève weiter gehen wird, bleibt abzuwarten.
    "Am Morgen des sechzehnten und letzten Tages ihrer Reise verließen die Korvanyis den szeklerschen Sitz von Neumarkt am Mieresch auf der Straße nach Norden. In Bistritz gelangten sie erneut auf sächsischen Boden. (...). Beim nächsten Halt, in der Festung von Sächsisch Regen, stiegen sie erleichtert aus der Postkutsche, die weiter nach Bistritz, zum Pass von Borgo, in die Bukowina und zur Grenze von Moldawien fuhr, das von den Russen besetzt war."
    Die beschwerliche Reise des Ehepaars Korvanyi
    Man schreibt das Jahr 1834, fast drei Wochen ist ein jung verheiratetes Ehepaar unterwegs, um von Wien aus nach Transsilvanien zu gelangen. Dort will der Ehemann, er heißt Alexander Korvanyi und war bislang Offizier in Wien, eine Burg wieder in Besitz nehmen, die zu seinem Familienerbe gehört. 50 Jahre lang war diese Burg verwaist. Ein wenig Gesinde ist noch da, es begrüßt die Neuankömmlinge nun verwirrt und schüchtern:
    "Die späte Ankunft des Burgherrn schreckte die Burg auf wie ein Unglück. Verschwommene Gestalten arbeiteten sich im Halbdunkel durch ein Wirrwarr an Fragen und Befehlen. Sie luden das Gepäck ab, ohne sich ihrem Herren zu nähern, sogar vermeintlich ohne ihn zu sehen. Der Mann, der das Geschehen überwachte, kniete als Einziger nieder, um die Hand des Grafen Korvanyi zu küssen."
    Zwei Kapitel hat der Autor sich Zeit gelassen für die beschwerliche Reise des Ehepaars Korvanyi mit Pferd, Postkutsche und einem neumodischen Schaufelraddampfer. Der erzählerische Zugriff von Mathias Menegoz ist am Tempo der Epoche geschult. Damit öffnet er einen Zeit- und einen Erfahrungsraum. Sein Duktus ist episch und deskriptiv. Menegoz gönnt sich den langen Atem auch, wenn es darum geht, die Vielfalt der Akteure im Feudalsystem des frühen 19. Jahrhunderts zu sortieren. In Transsilvanien leben Adelige, Bauern und Leibeigene, es gibt Ungarn, Sachsen, Walachen und Zigeuner, es gibt Schmuggler, Waldläufer, Hirten und Vogelfreie. Es ist ein brodelndes Völkergemisch in einem abgeschiedenen Winkel Europas, über das anderswo bereits erste Revolutionen hinweg fegen. Der neue Burgherr Alexander Korvanyi ist ein Mensch militärischer Schulung. Er ist auch ein konservativer Geist, bringt restaurative Gedanken mit und will sein Reich mit strenger Hand regieren. Korvanyi ist die Hauptfigur dieses Romans. Dennoch spart der Erzähler sein Innenleben fast gänzlich aus, er hält ihn auf Abstand, quasi in einer Totalen.
    "Alexander gab die Diener in Caras und Reinholds Obhut und ritt allein zu den Anführern, die den Kern der von den Zigeunern abgesonderten Gruppe bildeten. Die Männer trugen keine Waffen, die von weitem sichtbar waren, aber im Näherkommen erkannte der Graf, dass ihre Stoffgürtel reichlich mit Griffen von Pistolen und Dolchen versehen waren. Die herrschaftlichen transsilvanischen und imperialen Gesetze zum Tragen von Waffen wurden in dieser gewalttätigen Gegend oft vernachlässigt."
    Ein historischer und einen historisierender Roman
    Mathias Menegoz entführt seine Leser auf ein von Abenteuergeschichten und Legenden gesättigtes Terrain. Graf Dracula wohnte hier, doch der existiert auch bei Menegoz nur als Aberglaube. Sein erzählerisches Interesse liegt eher jenseits der Fiktion, es geht ihm um die ethnischen und politischen Verwerfungen der Zeit und der Region. Dazu braucht er ein gewaltiges Personal, und nicht immer reichen seine schriftstellerischen Fähigkeiten aus, um der bloßen Faktizität der Ereignisse eine literarische Dimension hinzuzufügen. Menegoz hat mit Karpathia einen historischen und einen historisierenden Roman geschrieben, er zitiert die Techniken des französischen Naturalismus. Das liegt nahe, Menegoz ist Naturwissenschaftler, und genau so, mit umfangreicher Recherche und einer Anordnung der Ereignisse nach den Prinzipien von Ursache und Wirkung, wollten auch die Literaten um Emile Zola im späten 19. Jahrhundert verfahren.
    "Alexander, der bei weitem kein Krösus war, ahnte, dass seine Ländereien ohne einen Sieg dem Untergang geweiht waren. Einige der Gutsherren sorgten sich wegen der Auswirkungen, die ein solcher Präzedenzfall für ihren eigenen Besitz und ihre Leibeigenen haben könnte, aber sie wagten nicht, Korvanyi Vorwürfe zu machen. Die praktisch allumfassende Macht, die jeder Lehnsherr über seinen Besitz hatte, war ein zu fest in ihren Köpfen verankerter Glaubenssatz."
    Und so beeindruckt dieser Roman vor allem mit der Fülle des ausgebreiteten Materials, mit der genauen Kenntnis der Zeit und der Umstände, in denen sich die Menschen in diesem abgeschiedenen Teil Europas um 1830 befanden. Für die Gewalt, die sich anbahnt und unausweichlich ihren Lauf nimmt, kann auch ein einzelner Held keine Lösung finden. So wirft die Geschichte, die Menegoz mit Karpathia erzählt, bereits einen Blick in das kommende blutige Jahrhundert, in dem kollektive Gewalterfahrungen das Individuum scheinbar auslöschen.
    Anne Philipe: "Nur einen Seufzer lang"
    Geschichte einer Liebe, aus dem Französischen von Margarete Bormann
    144 Seiten gebunden, 18,00 Euro
    Ebersbach & Simon, Berlin, 2017
    Julie Estève: "Lola"
    Roman, aus dem Französischen von Christian Kolb
    160 Seiten gebunden
    Rowohlt Verlag, Hamburg. 2017-09-23
    Mathias Menegoz: "Karpathia"
    Roman, aus dem Französischen übersetzt von Sina de Malafosse
    636 Seiten gebunden
    Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt a. Main, 2017