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Drei Jahre nach dem Breitscheidplatz-Attentat
Von Helfern, die selbst Hilfe brauchen

Am 19. Dezember 2016 lenkte der IS-Terrorist Anis Amri einen gestohlenen polnischen LKW in den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. Zwölf Menschen starben, mehr als 50 wurden verletzt. Viele von ihnen leiden bis heute. Auch Rettungskräfte und ehrenamtliche Helfer sind noch immer traumatisiert.

Von Claudia van Laak | 19.12.2019
Rettungsarbeiten nach dem Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt Breitscheidplatz im Dezember 2017.
Rettungsarbeiten nach dem Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. (dpa)
Beim "Süßen Friesen" duften die gebrannten Mandeln, der "Schnitzel-Palast" lockt mit großen Fleischstücken, vor der Bude vom "Strammen Max" stoßen sie an mit Grog, Glühwein und heißem Caipirinha.
"Business as usual" auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz, wären da nicht die Anti-Terror-Maßnahmen, die sich der Berliner Senat hat 2,5 Millionen Euro kosten lassen: die Straße vor dem Weihnachtsmarkt auf eine Spur verengt, nur Anlieger und öffentliche Busse dürfen durch. Dazu Poller und schwere Metallkästen als Barrieren, mit Weihnachtsbeleuchtung aufgehübscht. Polizeistreifen.
Vor drei Jahren, am 19.Dezember 2016 trifft sich Gerhard Zawatzki auf dem Weihnachtsmarkt abends mit Freunden aus München. Um 20 Uhr schlendern sie zu einem polnischen Stand. Genau an der Stelle, an der sie wenige Sekunden vorher standen, rast Anis Amri mit dem gekaperten LKW in die Menge.
"Ich hab erstmal überprüft, ob es meinen Freunden gut geht, hab dann eine Sekunde meinen Gedanken gefasst. Und für mich beschlossen, ich muss zurückgehen, um meiner Pflicht nachzukommen."
Eine spontane Entscheidung, die das Leben des ehrenamtlichen Katastrophenhelfers Gerhard Zawatzki für immer verändert. Der IT-Experte hätte sich auch umdrehen und vom Terrorort fliehen können, so wie es fast alle anderen gemacht haben. Nein, Zawatzki ist geblieben.
"Ich bin als Deutscher natürlich verpflichtet zur Ersthilfe. Ich bin als Christ verpflichtet zur Nächstenliebe. Und wenn jemand meine Hilfe braucht, dann muss ich ihm die geben."
Ein gestandener Mann, der Hilfe braucht
Es brauchen viele seine Hilfe an diesem Abend des Terrors. Einem rettet er mutmaßlich das Leben, eine andere sieht er sterben. Als Zawatzki Stunden später – die Hände voller Blut – von einem Notfallseelsorger gefragt wird, ob er selber Unterstützung braucht, lehnt der Katastrophenhelfer ab.
"Ich bin stabil, es ist normal, ich hab Erfahrung."
Reporterin: "Das kam dann erst später?"
"Das kam erst dann später, ja."
Gerhard Zawatzki steht vor draußen vor einer weißen Wand. Der IT-Spezialist half nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz Verletzten. Die Erlebnisse haben ihn arbeitsunfähig gemacht.
Gerhard Zawatzki half nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz Verletzten. Die Erlebnisse haben ihn arbeitsunfähig gemacht. (Deutschlandradio / Claudia van Laak)
Zum Zeitpunkt des Terroranschlags ist Gerhard Zawatzki 52. Ein gestandener Mann, ein hoch bezahlter IT-Experte, langjährige Erfahrung beim Rettungsdienst. Erst ein halbes Jahr später gesteht er sich ein – ich schaffe es nicht. Ich komme damit nicht klar, sagt er,
"Dass vor mir Menschen gestorben sind. Und dass ich eigentlich nur um Sekunden nicht bei diesen Verstorbenen, diesen Verletzen liege. Es ging maximal um 10 Sekunden. Und dass jemand anders an meiner Stelle gestorben ist. Und das ist natürlich auch ein sehr schwerer Gedanke für mich."
Ab und zu geht Gerhard Zawatzki, der Helfer vom Breitscheidplatz, in den Bundestag. Donnerstags tagt der Untersuchungsausschuss. Er soll aufklären, welche Fehler die Behörden gemacht haben. Warum konnte der Anschlag geschehen, obwohl Anis Amri bei so vielen Sicherheitsbehörden bekannt war? Der Tunesier stand offiziell auf der Liste der islamistischen Gefährder, sein Telefon wurde abgehört, mehrere V-Leute berichteten über ihn.
"Ich stehe immer noch etwas vor dem Nichts"
Eine Klingel ruft die Abgeordneten zur Abstimmung, der Untersuchungsausschuss wird kurz unterbrochen. Gerhard Zawatzki holt sich einen Kaffee. Auch Astrid Passin ist da – sie hat ihren Vater beim Terroranschlag verloren. Und Andreas Schwartz – er entkam nur knapp dem Tod. Die Drei beobachten die Auftritte der Zeugen genau - am letzten Donnerstag einen Beamten vom Bundeskriminalamt. Dieser hatte vor dem Attentat Hinweise zur Gefährlichkeit von Anis Amri heruntergespielt. Vor dem Ausschuss verwickelt sich der Zeuge in Widersprüche. Gerhard Zawatzki – normalerweise ein ruhiger, überlegter Mann, wird auf einmal emotional.
"Ich würde gerne, sehr gerne denjenigen packen und sagen: Weißt Du, was Du getan hast? Sag einfach mal die Wahrheit."
Der frühere IT-Manager ist auch drei Jahre nach dem Anschlag nicht arbeitsfähig. Bis Ende des Jahres erhält er noch Geld von der Unfallkasse. Dann ist es auch damit vorbei – dem Helfer vom Breitscheidplatz droht Hartz IV.
"Ich wollte 2017 wieder eine feste Tätigkeit annehmen, die ich nicht annehmen konnte wegen des Anschlags. Ich stand quasi vor dem Nichts. Ich stehe immer noch etwas vor dem Nichts."
Heute am frühen Abend wird Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller einen Kranz am Breitscheidplatz niederlegen, anschließend findet in der benachbarten Gedächtniskirche ein Gedenkgottesdienst statt. Anders als an den Jahrestagen zuvor haben die Betroffenen keine Einladung erhalten – weder die Hinterbliebenen, noch die Opfer, und auch Helfer wie Gerhard Zawatzki nicht.