Donnerstag, 28. März 2024

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Drei Stunden Null

Es gibt tausend Gründe, über Deutschland nicht zu schreiben. Man könnte sich einreden, ein einziger Tag in New York sei spannender als ein ganzes Jahr in Berlin. Man könnte glauben, Deutschland sei kein Ort für Poesie, weil sich zwischen Fußgängerzonen und Plattenbauten jede Metapher sofort aus dem Staub macht. Vielleicht könnte man sogar behaupten, die Bundesrepublik verflüchtige sich allmählich in ein gesichtloses europäisches Irgendwo. Auf die Idee, Deutschland einen merkwürdig sperrigen Erzählgegenstand zu nennen, weshalb ihm selten ein konkretes Interesse entgegengebracht worden sei, wie es im Klappentext zu Wolfgang Büschers erstem Buch "Drei Stunden Null" heißt, muß man aber erst einmal kommen.

Gregor Dotzauer | 13.03.1998
    Wenn nicht allein die Heroen der Nachkriegsliteratur Böll, Grass und Walser die Erzählbarkeit der Republik - aus der Sicht ihrer Generation - verbürgen, dann ist dem Urheber dieser These nicht zu helfen. Ansonsten gilt auch für Deutschland: Schreiben ist immer eine Frage des Blicks und nicht des Gegenstands. Daß die intellektuellen Definitionshoheiten sich verschoben haben, daß leichtgewichtigere Autoren wie Jakob Arjouni oder Christian Kracht auftreten und daß die Ästhetische und die politische Wahrnehmung, nicht anders als im Alltag selbst, mehr und mehr auseinanderfallen, ist etwas anderes.

    Was ihr politisches Bewußtsein betrifft, sind die Deutschen wahrscheinlich längst vaterlandslose Gesellen, Wirtschaftspatrioten allenfalls. Amerika zehrt von einem Gründungsmythos, der hierzulande fehlt, und Frankreich hält ein Verständnis von Nation hoch, das man den Deutschen erst wieder einbläuen müßte - ein Unternehmen, von dem Wolfgang Schäuble noch lange träumen kann. Was Deutschland zusammenhält, ist eher ein Arsenal von Vorurteilen und Ressentiments, das sich der einfachen Darstellung tatsächlich entzieht, ein ideologischer Leim, der sich hartnäckiger hält als jede konkrete Idee, ein Sediment der vergangenen 50 Jahre.

    Insofern klafft zwischen der Sozialreportage, der historischen Analyse und dem traditionellen Roman tatsächlich eine Lücke, der man nur mit einem ethnographischen Interesse beikommt, das eine Geste, wenn es darauf ankommt, wichtiger nimmt als eine komplette Biographie und soziale Wirklichkeit nicht gleich mit Armut verwechselt. Harun Farocki versucht so etwas in seinen Filmen und Botho Strauß in manchen Prosaskizzen. In diese Lücke stößt jetzt auch Wolfgang Büscher vor, und sein Ernst ist ihm dabei die wichtigste Moral. Deshalb ist "Drei Stunden Null" ein Ereignis - und sein Untertitel eine kleine Provokation.

    "Deutsche Abenteuer" - das klingt wie ein Widerspruch. Abenteuer ereignen sich in Zeiten der Unsicherheit. Die äußere Unsicherheit aber beseitigten mit dem Ende des Weltkriegs die Siegermächte, indem sie Deutschland demokratische Verhältnisse verordneten, und die innere verloren die Deutschen in dem Maß, wie sich ihre ökonomische Sicherheit bis zu einer Wohlstandsarroganz steigerte, die im heraufdämmernden Brachialliberalismus gerade eine neue Heimat sucht.

    "Drei Stunden Null" spannt ein erzählerisches Netz zwischen dem Kriegsende im Frühjahr 1945, dem gesellschaftlichen Aufbruch 1968 und dem Mauerfall im Herbst 1989 - und darüber hinaus. So, wie es sich in die Zeit ausdehnt, greift es auch aus in den Raum. Es folgt den Flüchtlingen der letzten Kriegsmonate aus dem zerstörten Westen in den schlesischen Osten und, mehr als vier Jahrzehnte später, den in die Freiheit entlassenen Ostbewohnern in den Westen. Es zeichnet die Faszination der Deutschen durch die Neue Welt nach und schildert das rußlanddeutsche Leben in Kirgistan.

    Wolfgang Büscher, 1951 bei Kassel geboren und seit langem in Berlin zu Hause, untersucht einige exemplarische und einige wunderliche Lebensläufe und verknüpft dabei das autobiographische Fragment mit der Reiseerzählung und die Reportage mit der Reflexion. Er entwirft ein Doppelporträt von Konrad Henlein, dem Gauleiter des Sudetenlandes, und Ferdinand Porsche, dem Autobauer. Er berichtet von seiner Freundschaft mit Frau Sophie, einer obskuren Geschäftemacherin aus einem fernen unbekannten Osten. Er forscht nach Charly Rohn, einem Wuppertaler Metzger, der sich zeit seines Lebens als Jude ausgab, bis ihm ein paar Skinheads den Garaus machten, und er sucht nach der Besatzung des amerikanischen Bombers Betty Lou, der im März 1945 über Luckenwalde abgeschossen wurde, während sich unten in einem Luftschutzkeller der kleine Rudi Dutschke versteckt hielt.

    Mühelos schlägt Büscher einen Bogen von den letzten Tagen Breslaus zur chinesischen Kulturrevolution oder von den Berliner Graffitikünstlern zu Masaccio, einem Florentiner Maler des 15. Jahrhunderts. Und wenn er Karl Hanke, den Reichsverteidigungskommissar und Gauleiter Breslaus als Bruder, Todfeind und Genossen von Stalin, Mao Tse-tung und Pol Pot deutet, zeigt sich, wie wenig ihn die üblichen Grenzen seines Berufs, des Journalismus, kümmern.

    In seiner Lust, Schneisen durch die Geschichte zu schlagen, ist er so wagemutig wie Alexander Kluge. In seinen literarischen Strategien gibt er sich so dichterisch wie Wolfgang Koeppen, dessen Reiseprosa auch nicht mehr als höherer Journalismus durchgeht: Büscher schreibt ein reich orchestriertes Deutsch, dessen lange Sätze immer wieder in hingekürzelten Bildern auslaufen. Als Wanderer entlang der sich 180 Kilometer erstreckenden Stadtgrenze von Berlin schließlich verhält er sich so aufmerksam wie Peter Handke, der in "Mein Jahr in der Niemandsbucht" die Pariser Banlieue durchstreifte.

    Das Faszinierendste an diesem kleinen Buch ist aber, daß es sich um eine politische Perspektive auf Deutschland bemüht, die nichts beweisen will. So sehr "Drei Stunden Null" einer spezifisch ostdeutschen Reportagenkunst verwandt ist, die den Geheimnissen rund um die Currywurstbude mehr Aussagekraft über den Zustand eines Landes zutraut als einem Gang durch die Chefetagen - Büscher käme nie auf den Gedanken, daß die Wahrheit nur bei den kleinen Leuten zu finden sei. Und so sehr er manchmal Botho Strauß ähnelt, dessen Prosasammlung "Paare Passanten" das aufschlußreichste (und arroganteste) Bild vom Alltag der Bundesrepublik Anfang der 80er Jahre zeichnet - er scheut die Automatismen des ideologiekritischen Blicks, dessen linke Wurzeln sich früher oder später zu einem gestandenen konservativen Weltekel auswachsen.

    Dieser Mann sieht hin, und so wie Deutschland zurückschaut, ist es weder liebenswürdig noch verachtenswert. Es ist das Land, in dem wir leben. Schlüsse muß schon jeder selber ziehen. Auch davon erzählt dieses schöne Buch.