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Droht ein zweites Chaos?

Geologie.- In Folge des Erdbebens auf Haiti starben im Januar zwischen 250.000 und 300.000 Menschen. Geophysiker aus aller Welt suchen nun Antwort auf die Frage, ob die größte Gefahr für die Menschen vorbei ist, weil sich die Spannungen in der Erde abgebaut haben.

Von Dagmar Röhrlich | 25.10.2010
    Direkt nach dem Beben kamen die Geophysiker. Seitdem sind sie damit beschäftigt, Daten zu sammeln und auszuwerten. Dazu setzen sie auch auf GPS- und Radarsatelliten. Mit Messungen aus dem All rekonstruieren die Wissenschaftler die Bodenbewegungen während des Januar-Bebens. Das Ergebnis:

    "Zu unserer Überraschung ist nicht - wie gedacht - die Enriquillo–Plantain-Störung für dieses Beben verantwortlich gewesen. Vielmehr war es eine uns unbekannte."

    Diese bislang unbekannte Störung liegt unter Sedimenten "vergraben", beschreibt Eric Calais vom Institut für Geologie und Atmosphärenforschung der Purdue University in Indiana. Vor dem Beben wäre sie - falls überhaupt - nur sehr schwer aufzuspüren gewesen.

    "Sie liegt ganz in der Nähe der Enriquillo–Plantain Störung,und beide verlaufen teilweise parallel, sie kreuzen sich meiner Meinung nach sogar und sind dann wieder bis zu zehn Kilometer weit voneinander entfernt. Auf jeden Fall unterscheiden sie sich klar voneinander."

    Dabei ist unklar, ob die beiden Teil eines einzigen Störungssystem sind oder vollkommen unabhängig voneinander reagieren. Deshalb wird derzeit darüber diskutiert, wie sich die Enriquillo–Plantain Störung während des Bebens verhalten hat:

    "Unserer Meinung nach hat sie sich überhaupt nicht gerührt. Der Geologische Dienst der USA hingegen vertritt die Ansicht, dass sie sich zu Beginn des Bebens zwar ein wenig bewegt hat, die Hauptbewegung jedoch an dieser neuen Störung stattgefunden hat."

    Einig sind sich die Wissenschaftler darin, dass die Einwohner Haitis damit rechnen müssen, bald wieder ein schweres Beben zu erleben:

    "Unglücklicherweise ist das Erdbebenrisiko nach dem Januar-Beben genauso hoch wie zuvor. Im Grunde war das aber schon klar gewesen, bevor wir diese unbekannte Störung entdeckt haben. Die Enriquillo–Plantain Störung ist 300 Kilometern lang, und wir wussten, dass nur ein 30 Kilometer langes Stück gebrochen ist und seine seismische Spannung abgemacht hat. Der Rest sollte noch "geladen" sein. Nun ist klar, dass die gesamte Störung jederzeit mit einem weiteren Beben reißen."

    Und dieses Beben kann sehr stark werden. Forscher des Geologischen Diensts der USA haben Satellitendaten eingesetzt, um die seismische Vergangenheit der Zone zu rekonstruieren. Dazu werten sie Spuren aus, die frühere Beben in der Landschaft hinterlassen haben. Starke Beben versetzen Flussbetten, die die Störung kreuzen, gegeneinander. Ihr Verlauf knickt dann ab, und daraus lässt sich abschätzen, was passiert ist. Das Ergebnis: Anscheinend waren die beiden historischen Beben von 1751 und 1770 stärker als das von 2010.

    "Die Bebengefahr für Haiti ist offensichtlich nicht vorüber. Wir wissen zwar nicht, wann das nächste Beben kommt, aber es wird kommen. Und es kann bald passieren, während das Land noch daran arbeitet, die Schäden des Januar-Bebens zu beseitigen. Deshalb ist einmal sehr wichtig, die Geologie der Gegend besser zu verstehen. Außerdem müssen unter anderem auch Neubauten und die Infrastruktur erdbebensicher gebaut und die Menschen geschult werden, wie sie sich im Ernstfall zu verhalten haben."

    Jetzt sei die Zeit, bessere Bauvorschriften durchzusetzen und erdbebensichere Gebäude zu errichten, urteilt Eric Calais. Die Politiker, so hofft der Geologe, haben das verstanden.