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"Dshan" und "Die glückliche Moskwa"
Utopische Träume von Andrej Platonow

In der UdSSR konnten Andrej Platonows Hauptwerke erst während der Perestroika erscheinen. Da waren Bücher wie "Dshan" und "Die glückliche Moskwa" schon 50 Jahre alt und ihr Autor lange tot. Heute gilt er bei uns als visionärer Klassiker des 20.Jahrhunderts und als früher Denker des Ökosozialismus.

Von Uli Hufen | 12.12.2019
Andrej Platonow und die Bücher „Die glückliche Moskwa“ und „Dshan oder Die erste sozialistische Tragödie“
Andrej Platonow und die Bücher „Die glückliche Moskwa“ und „Dshan oder Die erste sozialistische Tragödie“ (Foto: picture alliance/dpa/Novosti, Buchcover 1.: Suhrkamp Verlag, 2.: Quintus Verlag)
Einer schönen, klugen, mutigen jungen Frau fliegen im Moskau der 30er Jahre die Herzen der Männer nur so zu. Aber vielleicht sind Liebe und privates Glück Sünde, wenn der Sozialismus offensichtlich noch nicht fertig aufgebaut ist? Ein schöner, kluger, mutiger junger Mann zieht aus dem Moskau der 30er Jahre nach Süden in die Wüsten Mittelasiens rund um den Aralsee. Er soll ein hungerndes Nomadenvolk in den Sozialismus führen. Aber was heißt Sozialismus, wenn das nackte Überleben jeden Tag auf dem Spiel steht?
Andrej Platonow schrieb nicht für Hollywood, aber worum es in seinen Romanen geht, lässt sich gut in jene berühmten Zwei-Satz-Loglines packen, die man angeblich parat haben muss, um in Kalifornien eine Filmidee zu verkaufen. Die Titelheldin des unvollendeten Kurzromans "Glückliche Moskwa" heißt wie die Stadt, in der sie lebt: Moskau. In ihrem Nachnamen Tschestnowa verstecken sich die Wurzeln der russischen Worte für Ehre und Ehrlichkeit.
Jugend und Revolution
Allerdings verdankt sie diese Namen nicht ihren Eltern, sondern gewissermaßen der Revolution selbst. 1917 war Moskwa ein Kleinkind. Der Typhus nahm ihr den Vater. Wie Millionen andere Kinder verbrachte sie Jahre auf der Straße, bevor der neue Staat ihr Bildung, Nahrung, ein Dach über dem Kopf und einen Namen schenkte.
Von ihrem ersten Mann läuft Moskwa fort, weil der sich "an sie klammerte, als wäre sie sein unabdingbarer Besitz". Dann hilft der Zufall, wie noch oft. Auf einer Parkbank trifft Moskwa einen sanften Fremden. Der Mann würde Moskwa gern lieben, aber zunächst verschafft er ihr eine Zukunft:
"Unterwegs forderte Moskwa ihren Begleiter auf, sie irgendwo zum Lernen unterzubringen - mit Verpflegung und Wohnheim.
'Was lieben Sie denn am meisten?', fragte er.
'Ich liebe den Wind in der Luft und noch so dies und das', sagte die erschöpfte Moskwa.
'Also die Schule für Luftfahrt, etwas anderes kommt für Sie nicht in Frage', stellte Moskwas Begleiter fest. 'Ich werde mich bemühen.'"
Zu den Ärmsten der Armen
Nasar Tschagatajew, die Hauptfigur in "Dshan", hat viel gemein mit Moskwa Tschestnowa. Seine turkmenische Mutter gehörte zu den Ärmsten der Armen, sein Vater war ein zaristischer, russischer Kolonial-Soldat, der für die Benutzung des Körpers der jungen Frau mit Nahrung bezahlen konnte. Ohne die Revolution wäre Tschagatajew nie am Moskauer Ökonomischen Institut gelandet:
"Hier, über diesen Hof, war er mehrere Jahre gegangen, und hier war seine Jugend verronnen, doch er trauerte nicht um sie - er ist nun hoch hinaufgestiegen, auf den Berg seines Verstandes, von dem man eine bessere Sicht hat auf diese ganze sommerliche Welt, die erwärmt wird von der zur Ruhe gekommenen Abendsonne."
Die Geschwindigkeit, in der die obdachlose Moskwa Tschestnowa Fallschirmspringerin wird und Nasar Tschagatajew aus Moskau in die Wüsten Mittelasiens aufbricht, ist verblüffend. Platonow genügen häufig zwei Sätze, um Welten zu erschaffen und Biografien rabiat umzulenken. Doch wer aus der Geschwindigkeit schließt, dass es sich hier um Satire handelt, der liegt falsch. Platonow, geboren 1899 als Sohn eines Eisenbahners und gelernter Bewässerungsingenieur, hatte als Teenager die Revolution unterstützt und glaubte mit jeder Faser seines Daseins an das sozialistische Projekt.
Ein Gesellschaft wie Treibsand
Allerdings war er weder blind noch feige, was ihn schon seit den späten 20er Jahren immer wieder und zunehmend in größte Schwierigkeiten brachte. Sein literarisches Projekt zielte darauf ab, die Welt, in der er lebte, genau so zu zeigen, wie er sie erlebte. Wenn diese Welt heutigen Lesern mindestens merkwürdig vorkommt, dann liegt es daran, dass die Sowjetunion der 20er und frühen 30er Jahre ein Land war, in dem alle sozialen Beziehungen umgewälzt wurden.
Alle Institutionen, sämtliche überlieferten Glaubenssätze, die Art wie Millionen seit Generationen oder Jahrhunderten gelebt hatten - alles war im Umbruch. Gleichzeitig. Eine Gesellschaft wie Treibsand, in der Millionen untergingen oder sich außer Landes wiederfanden, eine Welt, in der aber ebenso auch Millionen daran glaubten, eine gerechtere Zukunft sei greifbar. Menschen wie Nasar Tschagatajew und Moskwa Tschestnowa. Menschen wie Platonow selbst. In "Dshan" beschreibt Platonow ein Gemälde, das diesen Glauben an eine bessere Welt und den Versuch sie zu erreichen versinnbildlicht:
"Tschagatajew … betrachtete fasziniert ein altes, zweiteiliges Bild, dass über dem Bett dieser jungen Frau aufgehängt war. Das Bild zeigt die Vision einer Epoche, als man glaubte, die Erde sei flach und der Himmel nah. Da stellte sich irgendein großer Mensch auf die Erde, stieß mit dem Kopf ein Loch durch die Himmelskuppel, streckte sich bis zu den Schultern hinaus in den jenseitigen Himmel, in die wundersame Unendlichkeit jener Zeit, und schaute gebannt in die Weite."
Kreuz und quer durch Moskau
Vor der wundersamen Unendlichkeit, vor dem Kommunismus auf Erden also, lag die Sowjetunion der 30er Jahre. Platonow beschrieb sie wie keiner sonst. Er schickt Moskwa Tschestnowa kreuz und quer durch Moskau, in Krankenhäuser und in U-Bahn-Schächte, auf Parties junger Komsomolzen, in verwahrloste Hinterhöfe, auf moderne Flugplätze und in überfüllte Kommunalwohnungen. Und immer wieder in die Betten junger Ärzte und Ingenieure, die ihrer Klugheit und ihrem verführerischen Körper erliegen.
Doch je mehr sich Moskwa in die Abenteuer der Epoche stürzt - vom Fallschirmspringen bis hin zum Metrobau - umso deutlicher wird, dass das neue kalte System, das da in Moskau erbaut wird, keine Verwendung hat für die menschliche Wärme, für das Glück und die Zärtlichkeit, die Moskwa zu geben bereit und fähig ist.
Nasar Tschagatajew hat es unterdessen in Mittelasien mit ganz anderen Problemen zu tun. Er muss, und die biblischen Anspielungen sind deutlich, das Volk der Dshan durch die Wüste führen und also beinah Tote zum Leben erwecken. Dshan bedeutet soviel wie Seele oder Leben in den Turksprachen, die diese Nomaden und Ausgestoßenen unterschiedlicher Herkunft sprechen. Der Auftrag, den Tschagatajews Vorgesetzte in Moskau und Taschkent erteilt haben ist klar: Er soll hier "den Sozialismus machen". Ergo: Modernisierung, Vergesellschaftung, Sowjetisierung.
Den Kommunismus hat man sich anders vorgestellt
Für die Elenden des Dshan-Volkes bedeutet das in erster Linie: sie müssen sesshaft werden, ob sie wollen oder nicht. Nach langen Irrungen findet Tschagatajew am Rande des Ust-Urt-Plateaus tatsächlich einen Ort, an dem die Dshan leben können. Den Kommunismus hat man sich anders vorgestellt, als die Notunterkünfte, die hier entstehen. Aber ein erster Schritt ist gemacht und die Kinder der Dshan, die werden in Moskau studieren.
Für die stalinistische Literatur-Bürokratie waren "Dshan" und "Die glückliche Moskwa" untragbar. Zu viele Zweifel, zu viel Elend und vor allem: viel zu wenig klares politisches Bewusstsein. Das Bild über Veras Bett mit dem Mann, der seinen Kopf durch den Himmel gestoßen hatte, es hatte noch einen zweiten Teil.
"Auf der anderen Hälfte des Bildes war derselbe Anblick dargestellt, aber in einer anderen Situation. Der Rumpf des Menschen war ausgezehrt, abgemagert und wahrscheinlich tot, der abgestorbene Kopf aber war hinabgerollt ins Jenseits - über die Außenseite des Himmels, der wie eine Blechschüssel aussah."
Ökosozialismus 1935
In den Herzen und Köpfen von Platonows Helden mischten sich utopische Träume aller Art aufs Wunderlichste mit Versatzstücken von Parteirhetorik und Resten jener alten, patriarchal-kollektivistischen, bäuerlichen Welt, aus der sie fast alle kamen. Egal ob Turkmenen oder Russen. Der Kern von Platonows Kunst bestand abgesehen von Mut und Ehrlichkeit in der Fähigkeit, diese unverdauten Ideencocktails im Bewusstsein seiner Helden sichtbar zu machen, ohne sich je über sie zu erheben. Platonow schrieb als begnadeter Stilist und furchtloser Neuerer aus dem Inneren tatsächlich neuer Menschen. Genau deshalb lernt man aus Büchern wie "Die glückliche Moskwa" oder "Dshan" mehr über die Revolution und die frühe Sowjetunion, als aus vielen Geschichtsbüchern.
Wie Renate Reschke, Lola Debuser und Michael Leetz Platonows gewiss nicht einfaches Russisch in all seinen Schattierungen ins Deutsche gebracht haben, das ist im Übrigen schlicht großartig. Aber Platonow spricht nicht nur von der Vergangenheit, er spricht auch von der Zukunft. Die Essays und Briefe, die Michael Leetz "Dshan" an die Seite gestellt hat, zeigen, dass Platonow ein früher Verfechter eines ökologischen Sozialismus war. 1989 konnte niemand absehen, wie relevant das noch einmal werden würde. 2019 ist es offensichtlich.
Andrej Platonow: "Dshan oder die erste sozialistische Tragödie"
Prosa. Essays. Briefe
Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Michael Leetz
Quintus Verlag, Berlin. 376 Seiten, 25 Euro.
Andrej Platonow: "Die glückliche Moskwa"
Aus dem Russischen von Renate Reschke und Lola Debüser
Suhrkamp Verlag, Berlin. 222 Seiten, 24 Euro.