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Du also. Gedichte

Es sind nur wenige Wörter, die ein Gedicht von Doris Runge in schönste Poesie verwandeln. Kein Wort ist zu viel. Kein Wort ist zu wenig. Das Wenige, das sich die Dichterin aus der Fülle von Schöpfung und Leben, Fest und Alltag herausnimmt, ergreift sie traumwandlerisch sicher mit ihrem poetischen Instinkt. Doris Runge-Wörter sind auf ein Tausendstel Gramm abgewogen. Die sind der Stoff, der nun in der poetischen Werkstatt in Form gebracht werden muss. Diese Arbeit, die einen Weg geht und Zeit und Energie kostet, entscheidet darüber, ob aus der Fundsache "Wort" auch große Kunst wird. Um es gleich zu sagen: Die Gedichte von Doris Runge sind große Kunst.

Jochen Missfeldt | 03.09.2003
    Auf den ersten Blick mögen sie als filigrane, zerbrechliche Sprachgebilde erscheinen. Der zweite und dritte Blick lässt aber tiefer blicken. Hier ist eine erfahrene poetische Hand zu Werke gegangen. Sie hat solide Arbeit geleistet und kräftige Spuren hinterlassen. Genau berechnetes Tragwerk und ein mit Bedacht und Umsicht eingezogener doppelter Boden machen aus den Gedichten stabile Gehäuse, die voller Leben sind und Wind, Wetter und Zeitgeist trotzen. Sie zeugen nicht nur von der poetischen Einfühlungs- und Erfindungskraft der Dichterin, sondern auch von der handwerklichen Leistung, mit der sie erarbeitet worden sind. Doris Runge hat immer wieder das Handwerk der Poesie betont. Sie selber hat dazu in der ersten Vorlesung ihrer Kieler Liliencron-Dozentur für Lyrik Folgendes gesagt: "Wie Aschenputtel die Linsen, so müssen die Autoren die Wörter auslesen, die , guten', ..schlechten'. Wort für Wort ins Licht ziehen und prüfen, ob sie noch für die Dichtung zu retten sind."

    Bedenkt man den Zusammenhang der wenigen, vor- und hintereinander, über- und untereinander gestellten Wörter, dann spricht ein komplexer, sich wie von selbst erweiternder Sprachkörper, der solchen Reichtum an Perspektiven und Durchblicken, Gedanken und Erinnerungen, bereit hält, den nur große Kunst sichtbar machen kann und der seinesgleichen sucht.

    Himmelblau

    wer kann / fliegt taumelt übt / andere gangarten / zwischen pflicht / und kür / der frosch klettert / der wurm traut sich / der biber sägt / das eichhörnchen forstet auf / die vielbeinige zieht faden / jeder tut sein bestes / das richtige im falschen leben / spinnt webt schlitzt mehrt sich meuchelt / ich schlafe / unterm himmelblauen schamlos wie die Götter

    Hier zieht die Dichterin Natur, Philosophie, Mythos und Alltag in den Bann des Gedichts. Alles macht sie ihm Untertan, alles ist ihm gehorsam. Nur das dichterische Ich hält sich auf wunderbare Weise aus allem heraus. Es macht sich nicht Untertan, leistet sich frechen Ungehorsam, ist also frei und schläft deswegen "unterm himmelblauen schamlos wie die Götter". Solche Kraft vermag Poesie zu spenden, wenn ihr Handwerk auf goldenem Boden steht.

    Ohne poetischen Grund ist das Handwerk vergebliche Liebesmüh. Ohne Handwerk ist der poetische Grund wertlos.

    Die Titel der seit 1985 erschienen Gedichtbände der Hölderlin-Preisträgerin und Poetik-Professorin verweisen auf die starken statischen und dynamischen Kräfte, die in der Poesie dieser Dichterin sinnvoll walten: "jagdlied" (1985), "kommt zeit" (1988), "Wintergrün" (1991), "grund genug" (1995) und "trittfeste schatten" (2000).

    Nun, zu ihrem sechzigsten Geburtstag, ist im Juli "du also" erschienen, der schmalste unter den genannten Gedichtbänden mit 59 Gedichten. Auch dieser Titel spricht die starke Sprache, die Doris Runge in ihren Gedichten reden lässt. Scheinbar einfach, unscheinbar kompliziert, mal lakonisch, mal ironisch, immer tief ernst. Leichtes schleppt Schweres, offene Rätsel werden geschlossen, geschlossene werden geöffnet - so singt ihre Sprache von Liebe, Leben und Tod. "Du also" - das ist die Begegnung mit einem alten Mann. Der alte Mann ist der Tod, den die Dichterin mit den starken Worten "du also" zur Kenntnis nimmt.

    du also

    mit deiner Schiebermütze / deiner schwarzen hombrille im / schlotternden englischen cord in / pferdeschuhen mit pfeifendem / atem / du hier / im gemüseladen / um die ecke / nur ein kleiner schwinde! / ein fliegendes herz / ein griff nach der kehle / du also