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Lettische Einwanderungspolitik
Ein "Nichtbürger" in Riga

Sie haben keinen lettischen Pass und nicht die gleichen Rechte: die etwa 230.000 russischsprachigen "Nichtbürger" in Lettland. Der Status ist ein Erbe der sowjetischen Besatzungsgeschichte des Landes. Bis heute ist das Verhältnis der "Nichtbürger" zum lettischen Staat belastet.

Von Gesine Dornblüth | 13.01.2020
Surab Prtskhalaishvili mit seinem Nichtbürger-Pass
Surab Pirtskhalaishvili zeigt seinen Nichtbürger-Pass (Deutschlandradio/Gesine Dornblüth)
Es ist Abend. Surab Prtskhalaishvili sitzt mit seiner Familie um den Wohnzimmertisch herum. Seine Frau Schanna trinkt Tee. Sohn Amiran, 20 Jahre und Informatikstudent, streichelt den Hund. Tochter Lina, 13 Jahre, übt Gitarre. Es sind Akkorde eines Songs von Kino, der legendären sowjetischen Rockband aus Leningrad.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Bürger oder Besatzer? Lettland und seine russischsprachige Minderheit
Surab und seine Familie leben in einer Altbauwohnung in der lettischen Hauptstadt Riga. Sie sind russische Muttersprachler und pflegen die russische Kultur. In der Schrankwand stehen Harry Potter und die Krimis von Stieg Larsson auf Russisch. Daneben ein Röhrenfernseher.
"Ich gucke einmal am Tag Nachrichten aus Russland", so Surab. "Ich will wissen, was die russische Regierung denkt."
Roter Pass - blauer Pass
Surab – der wie seine Frau in einer Werbeagentur arbeitet – gehört zu den knapp 230.000 sogenannten "Nichtbürgern", die es in Lettland gibt. Beide legen ihre Pässe auf den Tisch. Ihrer ist rot, seiner blau. "Pass" steht auf dem einen Ausweis, "Nichtbürger-Pass" auf dem anderen.
Schanna: "Bei mir steht 'Staatsangehörigkeit: lettisch'. Und bei dir, Surab? Die Kategorie Staatsangehörigkeit gibt es bei dir gar nicht."
Der Unterschied zwischen den beiden hängt mit der Geschichte des Landes zusammen. Schannas Vater, ein Pole, wurde 1934 in Lettland geboren, vor der Okkupation durch die Sowjetunion, deshalb bekam sie die Staatsbürgerschaft nach Lettlands Unabhängigkeit 1991 automatisch. Ebenso die Kinder Amiran und Lina.
Surabs Eltern dagegen, er Georgier, sie Russin, zogen erst in der Sowjetzeit zu. Deswegen hätte er nach der Unabhängigkeit erstmal einen Sprachtest bestehen, Fragen zur lettischen Geschichte beantworten, dem lettischen Staat Treue schwören müssen. 150.000 ehemalige "Nichtbürger" sind mittlerweile auf diesem Weg Bürger Lettlands geworden. Surab lehnte das ab, aus Prinzip:
"Ich finde, es war ungesetzlich und kriminell vom Staat, einem Drittel der Bevölkerung der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik die Staatsbürgerschaft vorzuenthalten. Lettland ist meine Heimat, ich bin hier geboren. In diesem Haus lebe ich seit 1976. Ich finde, mir stehen dieselben Rechte zu wie jedem anderen Bewohner dieses Landes."
Unterricht auf Russisch soll reduziert werden
Als "Nichtbürger" sind Surab eine Reihe von Berufen verwehrt: Polizist, Staatsanwalt, Zollbeamter, Richter und andere Tätigkeiten, die als sicherheitsrelevant gelten. Er darf nicht im Staatsdienst arbeiten und er hat kein Wahlrecht. Nicht mal auf lokaler Ebene. Das seien aber auch schon alle Nachteile, meint Surab:
"Die Gesetze erlauben den 'Nichtbürgern', ohne Einschränkungen durch das Schengen-Gebiet zu reisen. Ich kann genauso unterwegs sein wie meine Verwandten mit einer lettischen Staatsbürgerschaft."
Mehr als die Frage der Staatsbürgerschaft beschäftigt Surab und seine Familie die aktuelle Bildungsreform. Tochter Lina geht in eine bilinguale Schule. Die Regierung plant, an diesen Schulen den Unterricht auf Russisch zu reduzieren und den auf Lettisch weiter auszubauen. Ab Herbst 2020 soll in den oberen Klassen nur noch Lettisch gesprochen werden. Dabei können viele Lehrer können schlichtweg nicht genug Lettisch, um in der Sprache zu unterrichten.
"Die Bildung an den bilingualen Schulen funktioniert nur, weil die Eltern mithelfen. Wenn sie sich abends hinsetzen und die Schulbücher ins Russische übersetzen, dann kommt ihr Kind in der Schule gut mit."
Bei einer Demonstration in Riga trägt ein Mann ein Tshirt mit der Aufschrift "Hands off Russian schools", um damit gegen die Reduzierung des Schulunterrichts auf Russisch in Lettland zu demonstrieren
Gegen die Reduzierung des Schulunterrichts auf Russisch gibt es Proteste (picture alliance/Russian Look/Global Look Press/Victor Lisitsyn)
So wenig Lettisch sprechen wie möglich - aus Prinzip
So macht es Schanna mit ihrer Tochter auch. Sie selbst hat Lettisch in der Schule gelernt und spricht es gut. Lina geht an die Schrankwand mit den Büchern, kramt ihr Biologiebuch hervor. Alles ist auf Lettisch. Sie nehmen gerade die Anatomie von Pflanzen durch.
"Ich kenne mich in Biologie nicht besonders aus", sagt Schanna. "Die Fachbegriffe suchen wir im Internet. Zuletzt haben wir 'viendiglapji' gelernt, 'einkeimblättrige Pflanze'."
Ihr Mann, Surab, spricht aus Prinzip so wenig Lettisch wie möglich. Er engagiert sich in einem "Stab zum Schutz der russischen Schulen", organisiert Aktionen gegen die Bildungsreform. Er spricht von Massenprotesten. Die letzten Male kamen wenige hundert Teilnehmer.
"Uns vertritt niemand"
Surab sympathisiert auch mit der "Russischen Union Lettlands", einer Partei, deren Vorsitzende Russlands Annexion der Krim unterstützt und häufig als Talkshow-Gast im russischen Staatsfernsehen sitzt. Surab würde sie wählen, sagt er, seine Frau tut es schon. Bei der letzten Wahl im Herbst 2018 verfehlte die Russische Union allerdings den Einzug ins Parlament.
"Uns vertritt überhaupt niemand. Wir sind zu wenige. Die Russen mischen sich lieber nicht ein", sagt Schanna.
Sie und ihr Mann Surab sind überzeugt, alles werde schlechter für die Russen in Lettland, für Familien wie sie. Die Kinder nicken. Sohn Amiran fühlt sich zwar wohl an der Universität. Lina dagegen träumt davon, nach der Schule nach Russland zu ziehen. Doch da bremst der Vater dann doch:
"Mach erst mal die Schule zu Ende, vielleicht überlegst du es dir noch mal."