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Durch den Tod berühmt geworden

Die Ermordung Rosemarie Nitribitts gehört zu den spektakulärsten Kriminalfällen der Bundesrepublik. In dem nie aufgeklärten Fall ließ sich alles hineinlesen, von der biedermeierlichen Prüderie und Heuchelei der 50er Jahre bis zu wirtschaftlich-militärischen Verwicklungen im Zeichen der Wiederaufrüstung.

Von Beatrix Novy | 01.11.2007
    "Die zahlreichen Rosemaries zwischen Hamburg und München reden nicht öffentlich. Wie kämen sie dazu, sich das Geschäft zu verderben. Jene Rosemarie aus Frankfurt redet nicht mehr, sie wurde im Spätherbst 1957 ermordet. Man hat sie so tief verstummen lassen, dass nicht einmal ihr Tod für sie sprechen durfte. Seine Umstände sind zur Stunde noch ungeklärt."

    Und dabei ist es geblieben. Als Erich Kuby 1958 diese Zeilen schrieb, in seinem Roman "Rosemarie. Des deutschen Wunders liebstes Kind", da wusste niemand, wer Rosemarie Nitribitt, die am 1. November 1957 tot in ihrer Frankfurter Wohnung aufgefunden worden war, erwürgt hatte. Heute, 50 Jahre später, ist man nicht weiter. Nur die um sie gesponnenen Vermutungen, Gerüchte, Legenden haben sich vermehrt, ebenso die Filme und Bücher - sogar ein Musical gab es. Die Nitribitt, aus deren Leben es wenig zu erzählen gibt, wurde allein durch ihren Tod zur Berühmtheit. Ihre Geschichte kann nie von der realen Rosemarie handeln, eher von einer Kunstfigur. Mit ihrer Ermordung wurde sie zum Objekt öffentlicher Interpretationen, zur Metapher. Dabei war "das Mädchen Rosemarie", als es starb, erst 24 Jahre alt.

    Dieses Mädchen hatte keinen guten Start: 1933 in äußerst "unordentliche Verhältnisse" hineingeboren, also früh stigmatisiert, mal von der Mutter, mal im Heim, schließlich bei Pflegeeltern aufgezogen. Die Verdienstmöglichkeiten der Prostitution eröffneten ihr, sehr früh, amerikanische Besatzungssoldaten. Rosemarie verkörperte den unbedingten Aufstiegswillen des Wirtschaftswunders, das Wir-sind-wieder-wer-Bewusstsein. Sie war das der Gosse entstiegene Gegenbild ihrer reichen Liebhaber, gleichzeitig entlarvte ihre Existenz den Sumpf unter deren bürgerlichen Konventionen, was den Volksmund zu begeisterten Kreationen hinriss: "Rosemarie - Die Frankfurter Allgemeine".

    "Komm Se mit, komm Se mit
    Wegen der Nitribitt
    Sie wollten früher doch mit ihr
    So gut bekannt sein
    Doch - komisch - heute
    da woll'n Se nicht genannt sein!"

    Hast Du was, bist Du was: Die wenigen Bilder von Rosemarie Nitribitt zeigen sie in ihrem berühmten Mercedes 190 SL Cabrio, mit dem sie im Frankfurter Bahnhofsviertel Freier auftat - ein Wagen, dessen Wert jede realistische Vorstellung damaliger Illustriertenleser überstieg. Das Gerücht, Rosemarie habe ein Notizbuch mit den Namen prominenter Kunden geführt, wurde von der Polizei bewusst nicht dementiert, um mögliche Verdächtige zu verunsichern. Die Spur zu einem Mitglied der Krupp-Dynastie wurde aber offenbar vernachlässigt, es gab Ermittlungsfehler und Aktenschlamperei. Verhaftet wurde schließlich ein Handelsvertreter, dem man die Tat nicht nachweisen konnte.

    "Frankfurt: In der Mainstadt wurde der Handelsvertreter Pohlmann, seit 11 Monaten unter Verdacht, der Mörder der Rosemarie Nitribitt zu sein, seit elf Monaten in Untersuchungshaft, nach einem Haftprüfungstermin auf freien Fuß gesetzt."
    So blieb der Legendenbildung Tür und Tor geöffnet und der Fall Nitribitt eine der Wirklichkeit entrückte Parabel. Erich Kuby schrieb seinen Roman nicht nach den nüchternen Fakten, sondern als sozialkritische Bestandsaufnahme der jungen Republik; und Rolf Thiele inszenierte den heute nur schwer erträglichen Film mit Nadja Tiller "Das Mädchen Rosemarie" in Brechtscher Manier als Moritat: von der kunstblonden Hure und ihren einflussreichen Freiern im Frack, von Industriespionage, Geheimdienst, Verschwörung.

    Noch schwankte die Bundesrepublik zwischen Etikette und Sensationslust. Das Auswärtige Amt protestierte gegen die Aufführung von Rolf Thieles Film beim Festival in Venedig; aber gegen die Faszination des Falles Nitribitt hatten die Reste des bürgerlichen Kodex keine Chance - die grelle Berichterstattung von damals zeigt erste Schritte des Übergangs in eine neue Epoche, die gleichermaßen von Aufklärung, Konsumismus und Sexindustrie bestimmt ist. Die Absatzgeschichte des Mercedes 190 SL ist ein Beispiel: Nach der Ermordung Nitribitts sanken die Verkaufszahlen. Heutzutage kann eine Autofirma sich keine bessere Werbung wünschen als "den Fall Nitribitt".