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Durch Misstrauen den Weg für Neuwahlen frei machen

Es war eine Premiere: Am 20. September 1972 machte erstmals ein Bundeskanzler von der in Artikel 68 des Grundgesetzes verankerten Vertrauensfrage Gebrauch. Dabei wollte Willy Brandt nicht die Gefolgschaft des eigenen Lagers, sondern durch ein negatives Votum die Auflösung des Bundestages erreichen.

Von Rolf Wiggershaus | 20.09.2012
    "Niemand sollte den törichten Versuch machen, den Eindruck zu erwecken, als ob es mir hier um ein Votum für die Fortsetzung meiner Arbeit mit dem Bundestag in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung ginge. Mir geht es im Gegenteil darum, dass der Weg für Neuwahlen freigemacht wird, damit die Vertrauensfrage erneut an den Wähler gestellt werden kann. Denn wie sich die Dinge entwickelt haben, kann uns nur der Wähler dabei helfen, dass das Remis im Bundestag überwunden wird."

    Als Willy Brandt am 20. September 1972 im Deutschen Bundestag die Vertrauensfrage stellte, war ihm große Aufmerksamkeit sicher. Es war das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Bundeskanzler von diesem in Artikel 68 des Grundgesetzes formulierten Recht Gebrauch machte. Hinzu kam, dass Brandt damit nicht die Gefolgschaft des eigenen Lagers erzwingen, sondern durch das Scheitern der Vertrauensfrage die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen erreichen wollte:

    "Was die Vorgeschichte angeht, so erinnern wir uns alle daran, dass am 27. April in diesem Hause der Versuch des Misstrauensvotums mit dem Ziel, Herrn Kollegen Dr. Barzel zum Bundeskanzler zu wählen, gescheitert ist."

    An jenem 27. April 1972 hatte die CDU /CSU-Opposition versucht, den Kanzler durch ein konstruktives Misstrauensvotum nach Artikel 67 des Grundgesetzes zu stürzen. Die Mehrheit der seit 1969 regierenden sozialliberalen Koalition war von Anfang an knapp gewesen, und die CDU hatte sofort mit Abwerbungsversuchen begonnen. Es kam zu einer Reihe von Übertritten. Dabei spielte unter anderem die neue Ost- und Deutschlandpolitik eine Rolle, mit der die sozialliberale Regierung zu einer treibenden Kraft des Entspannungsprozesses zwischen West und Ost wurde. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Brandt im Oktober 1971 hatte das weithin sichtbar honoriert. Die CSU und große Teile der CDU indes polemisierten heftig gegen den Ausgleich in Richtung Osten. Es war nicht übertrieben, was Walter Scheel, Vizekanzler und Außenminister der sozialliberalen Regierung, vor Barzels Misstrauensantrag zu bedenken gab:
    "Diese Regierung hat sich geschichtlich allein schon dadurch gerechtfertigt, dass sie mit ihrer knappen Mehrheit das geschaffen hat, was andere mit ihren großen Mehrheiten nicht erreichen wollten oder konnten: unser Volk über seine Tabuschwellen hinwegzuführen, es von Illusionen wegzubringen."

    Auch nach dem knappen Scheitern des konstruktiven Misstrauensvotums war die Regierungsmehrheit weiter geschrumpft, herrschte schließlich im Parlament ein Patt von 248 zu 248 Stimmen. Gleichzeitig zeigten alle Umfragen, dass die Mehrheit der Bevölkerung bis weit in die Kreise der CDU-Wählerschaft hinein die Ostpolitik der sozialliberalen Regierung bejahte. Auf Brandts Vertrauensfrage folgte im vorgeschriebenen Abstand von zwei Tagen am 22. September die Abstimmung im Bundestag. Im Bewusstsein seiner enormen Popularität konstatierte Brandt an die Opposition gewandt:

    "Sie sind auch gescheitert mit Ihrem dreijährigen Bemühen, die Arbeit der Regierung zu stören und lahmzulegen, denn gelungen ist Ihnen letzten Endes nur die Lähmung dieses Parlaments."

    Die von Brandt auf dem Weg über Artikel 68 erreichte Neuwahl des Bundestages im November 1972 sorgte für klare Verhältnisse. Mit einer Rekordbeteiligung von 91 Prozent der Stimmberechtigten wurde sie zu einem deutlichen Plebiszit für die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition und verschaffte ihr eine komfortable Mehrheit von 46 Abgeordneten.

    Ein Jahrzehnt später nutzte Bundeskanzler Helmut Kohl, durch ein konstruktives Misstrauensvotum ins Amt gekommen, ebenfalls eine "unechte" Vertrauensabstimmung als Weg zur Parlamentsauflösung und zu Neuwahlen. Ihm ging es nicht um Befreiung aus einer Patt-Situation, sondern um die Legitimation durch den Wähler. Dieser zweite Fall wurde zum Anlass für ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Danach soll eine gewisse Krisensituation Voraussetzung für die durch eine Vertrauensfrage erreichte Parlamentsauflösung sein. Wie immer die genaueren Kriterien aussehen mögen, auf die man sich vielleicht eines Tages einigt: Brandts Handlungsweise dürfte als vernünftig und maßstabsetzend in die Geschichte eingehen.