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Eckhard John
"Brüder, zur Sonne, zur Freiheit"

Es gibt wohl kein Lied, das stärker mit der deutschen Novemberrevolution von 1918 verbunden ist als „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“. Dabei wurde es erst zwei Jahre später geschrieben. Eckhard John ist seiner oft widersprüchlichen Geschichte nachgegangen – mit vielen überraschenden Erkenntnissen.

Von Melanie Longerich | 05.11.2018
    Sturz des Kaiserreichs: Demonstration junger Arbeiter vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin im November 1918.
    Sturz des Kaiserreichs: Demonstration junger Arbeiter vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin im November 1918. (dpa picture-alliance / Ullstein)
    "Man marschierte ohne Singen. Am Alexanderplatz, vor dem Warenhaus Tietz, hielt man. Man wartete. […] Man spitzte die Ohren: Gesang aus der Landsberger Straße, ‚Brüder, zur Sonne, zur Freiheit‘."
    In seinem vierbändigen Romanzyklus "November 1918 - Eine deutsche Revolution" beschreibt Alfred Döblin den Sturm auf das Berliner Polizeipräsidium am 9. November.
    "Eine Kolonne mit einer Fahne trat auf den Platz. Drüben erhob sich die rote Zwingburg, das Polizeipräsidium. Sie gingen darauf los."
    Halt…! Stopp…!
    Obwohl das Lied "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" wie kein anderes mit der deutschen Revolution von 1918 verbunden ist, kann das so nicht gewesen sein, schreibt der Liedforscher Eckhard John vom Zentrum für populäre Kultur und Musik der Universität Freiburg. Die deutsche Novemberrevolution war eine Revolution ganz ohne Musik. Weil es noch gar kein revolutionäres Lied in deutscher Sprache gab. Zur Zeit der Novemberrevolution war das Lied noch im Kopf von Hermann Scherchen. Der hatte den Ersten Weltkrieg in einem russischen Internierungslager verbracht und war gerade erst wieder zurück nach Berlin gekommen. Dort wurde er zum energiegeladenen Motor der Neuen Musik: Als Dirigent, Verleger, Musikschriftsteller und -pädagoge.
    Lied traf Nerv der Zeit
    Die Ideen des revolutionären Russlands, aber auch die Melodie eines russischen Revolutionsliedes, wollten ihn nicht mehr loslassen. Und so schrieb Hermann Scherchen für seine beiden Berliner Arbeiterchöre einen eigenen Text, mit allen damals gängigen Metaphern des Arbeiterliedguts.
    Eckhard John: "Freiheit eben, Sonne und Licht, als Symbole dafür, für die Zukunft, und dem gegenüber das Dunkle, Vergangene, die Nacht. Die Metapher für die Sklaverei, die Knechtschaft, die Unterdrückung. Auf der einen Seite eben die Textbezüge, auf der anderen Seite die Melodie, die eben eine Übernahme eines russischen Revolutionsliedes, und zwar eines der prominentesten russischen Revolutionslieder war. Und somit war das Lied auch ein Symbol für eine erfolgreiche Revolution."
    Das Lied traf den Nerv der Zeit. "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" war geboren. Und wurde zu einem riesigen Erfolg. Auch heute noch wird dem Arbeiterlied gelegentlich die Ehre erwiesen, wie hier von der Bielefelder Punkband Commandantes. Wie das Lied aber genau zu einem der größten politischen Lieder des 20. Jahrhunderts werden konnte, ist eine "unerhörte Geschichte", wie Eckhard John sie im Untertitel des Buches nennt:
    "Mich interessiert eben, woher kommt ein Lied und welche Wirkung entwickelt es, auf welche Resonanz stößt es, in welchen Kreisen wird es gebraucht, in welchen Formen wird es gebraucht. Wie verändert sich auch ein Lied, wie verändern sich Texte, wie verändern sich Funktionen, die sozialen Sphären, in denen es sich bewegt."
    Quellen gab es reichlich: neben Tonaufnahmen untersuchte der Wissenschaftler Liedzitate, aber auch Umdichtungen und Parodien. Ein Spiegelbild deutscher Zeitgeschichte entstand:
    "Es ist eigentlich das einzige politische neue Lied, was sowohl in SPD- als auch in KPD-Kreisen gesungen worden ist. Es ist auch ein Spiegelbild des starken Interesses an der damals jungen Sowjetunion. Wenn man einen Schritt weitergeht in die 30er Jahre, ist es auch ein Kennzeichen für die NS-Geschichte, aber auch für verdrängte Kapitel der NS-Geschichte. Es ist ein Symbol für das geteilte Deutschland. Für die DDR, für die Verstaatlichung der Arbeiterbewegung, dieses Lied als ein zentrales staatliches Symbol in der DDR-Zeit."
    Instrumentalisierung von allen politischen Seiten
    Besonders eingehend untersucht Eckhard John das Vorgehen der Nationalsozialisten, das Lied für ihre Bewegung zu adaptieren:
    "Es wurde versucht, durch Übernahme bekannter Symbole der sozialistischen Arbeiterbewegung eben die Anhänger von SPD und KPD ins NS-Lager zu ziehen. Und es war auch eine zeitlich klar begrenzte Strategie. Wenn man jetzt nach der Übernahme des Originaltextes schaut, dann sieht man, das sind Nachdrucke in NS-Liederbücher nach 1935/36 und danach hört das auf. Also zu dem Zeitpunkt, wo das NS- Regime fest im Sattel saß, hat man das nicht mehr gebraucht. "
    In den frühen Nachkriegsliederbüchern war "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" wieder in seiner Ursprungsform enthalten. Bis das Lied dann schnell von den DDR-Staatsoberen für sich beansprucht wurde:
    "Bezeichnend ist etwa, wie nachhaltig die enge Verknüpfung des Liedes mit dem DDR-Sozialismus noch Jahrzehnte nach dessen Sturz das kulturelle Gedächtnis prägt und andere Traditionslinien und Erinnerungsstränge verdeckt. Denn die Kodifizierung von ‚Brüder, zur Sonne, zur Freiheit‘ als Erkennungsmelodie des SED-Regimes und Tonsignet deutsch-sowjetischer Freundschaft geht in der Regel mit der Reduktion seiner Geschichte auf ein sozialistisch-kommunistisches Kampflied einher."
    Das immer wieder auch für Parodien erhalten musste, wie hier, 1979, von der anarchistischen Berliner Kabarettgruppe 3 Tornados mit ihrem Wartburger (M)arschlied:
    "Brüder im Wartburg zur Freiheit
    Schwestern im Sputnik empor
    Hell aus dem Intershopladen
    Leuchtet die Zukunft empor!"
    Doch Eckhard John weitet auch den Blick auf die internationale Rezeption des Liedes. Wie hier etwa bei der französischen Résistance:
    "Es wird einen weniger überraschen, dass ein prominentes russisches Revolutionslied in ganz Europa irgendwo bekannt ist, aber wenn man genauer hinschaut, merkt man, dass in vielen Ländern Westeuropas gar nicht das russische Lied die Vorlage bot, sondern eben das deutsche Arbeiterlied. In Norwegen, in Schweden oder in Holland, das sind Übersetzungen des deutschen Textes, nicht des russischen Textes. In Slowenien zum Beispiel auch bot er die Grundlage und entwickelte sich im Zweiten Weltkrieg zu einem Partisanenlied, was in der Zeit des Tito-Jugoslawiens wiederum eine große Rolle spielte."
    Eckhard John ist ein vielschichtiges Buch gelungen, das der Geschichte von Deutschlands prominentestem Arbeiterlied von seiner Entstehung, über die verschiedenen politischen Indienstnahmen bis hin zu den jüngsten Anlehnungen aus der Popkultur nachgeht. Viele A-ha-Erlebnisse sind garantiert – und Hörerlebnisse auch – dank der beigelegten CD.
    Eckhard John: "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Die unerhörte Geschichte eines Revolutionsliedes" (mit CD),
    Ch. Links Verlag, 208 Seiten, 15,00 Euro.