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Editorisches Großprojekt
Erste kritische Gesamtausgabe der Werke Korngolds

Erich Wolfgang Korngolds Musik erlebt eine Renaissance auf Opern- und den Konzertbühnen. Nun soll in den kommenden 25 Jahren die erste kritische Gesamtausgabe des Komponisten aus dem 20. Jahrhundert entstehen. Zum Teil soll die Edition digital verfügbar sein und dafür neue mediale Formate entwickelt werden.

Von Dagmar Penzlin | 04.01.2021
Komponist Erich Wolfgang Korngold lächelt in einer schwarz-weißen Porträtaufnahme.
"Die tote Stadt" ist Erich Wolfgang Korngolds bekannteste Oper, zwei Oscars bekam er für Filmmusiken. (Franz Lowy / Leemage / imago-images)
Eine Oper machte den 23-jährigen Komponisten mit einem Schlag berühmt: Erich Wolfgang Korngolds psychoanalytisch aufgeladenes Stück "Die tote Stadt" kam vor gut 100 Jahren zeitgleich in Hamburg und Köln zur Uraufführung. 1934 emigrierte der jüdische Komponist in die USA und kreierte in Los Angeles den bis heute nachwirkenden Hollywood-Sound der Traumfabrik. In Europa konnte Korngold auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder Fuß fassen und starb 1957 fast vergessen.
"Die tote Stadt" und Violinkonzert eröffnen Neuedition
"Die tote Stadt" – sein vor kompositorischen Ideen überquellendes Meisterwerk – erlebt seit einem Jahrzehnt eine Renaissance mit mehr als einem Dutzend Neuproduktionen an Opernhäusern auch in großen Metropolen wie Wien, Paris und München. Nicht zuletzt deshalb wird diese Partitur eine der ersten sein, die in der kritische Gesamtausgabe der Werke von Erich Wolfgang Korngold erscheint, sagt Arne Stollberg von der Editionsleitung:
"Sicherlich hat der Schott-Verlag, bedingt auch durch den Erfolg, den die Oper jetzt auch hat, die haben neues Aufführungsmaterial auch herstellen lassen. Man muss sagen, es wird nicht mehr aus den alten Stimmen von 1920 mittlerweile gespielt. Aber es ist nie kritisch ediert worden, nie darauf hindurchgesehen worden, wo muss man verschiedene Fassungen abgleichen und so weiter. Es gibt auch noch in den Aufführungsmaterialien ganz handfeste Fehler: falsche Tonhöhen und so weiter, die im Zuge des Produktionsprozesses einfach reingerutscht sind und bisher noch nicht korrigiert worden sind."
Musikwissenschaftsprofessor Arne Stollberg forscht an der Humboldt-Universität Berlin viel zu Themen rund um das Musiktheater - auch als Korngold-Spezialist. Somit wird die Berliner Arbeitsstelle der Korngold-Werkausgabe sich schwerpunktmäßig den neun Bühnenwerken des Komponisten widmen. Stollberg rechnet insgesamt damit, dass es viele Fehler im Zuge der kritischen Edition zu korrigieren gibt. So etwa im Fall der Oper "Das Wunder der Heliane".
"Das weiß ich von den Kolleginnen und Kollegen der Deutschen Oper Berlin, die das ja vor Kurzem gemacht haben – 2018. Auch dort war das Orchestermaterial sehr, sehr fehlerhaft. Also bis zuletzt hat Marc Albrecht, der Dirigent, haben die Musikerinnen und Musiker noch Fehler gefunden. Und bei der Oper, die ja nicht so häufig gespielt wird wie ‚Die tote Stadt’, da ist Material seit der Uraufführung 1927 nicht wieder überprüft worden. Ich weiß es nicht aus eigener Anschauung, aber auch bei der Sinfonie Opus 40 scheint das Material in nicht so besonders gutem Zustand zu sein. Es betrifft letztlich das ganze orchestrale Œuvre von Korngold."
Fehler in Partituren ausmerzen durch kritische Edition
Eines der beliebtesten Orchesterwerke Korngolds ist das Violinkonzert aus dem Jahr 1947. Heute liegt es in vielen aktuellen Aufnahmen vor. Das Violinkonzert wird mit zu den ersten Veröffentlichungen der neuen kritischen Gesamtausgabe gehören, erzählt Editionsleiterin Friederike Wißmann von der Hochschule für Musik und Theater Rostock.
"Da es 1947 entstanden ist, ist alles beisammen – da wissen wir, es kommen keine Überraschungen, was die Quellenlage anbelangt. Aber es ist nicht nur das Violinkonzert, sondern korrespondierend gehen wir gleichzeitig an die klavierbegleiteten Lieder, die viel unbekannter sind. So versuchen wir insgesamt in der Edition zu verfahren, dass wir uns Stücke vornehmen, die auch unbekannter sind. Und dass wir nach Quellenlage uns gleichzeitig Stücke vornehmen, die schnell auf den Markt zu bringen sind. Weil wir in Frankfurt, wo vor allem die Filmmusik ediert wird, natürlich ganz andere Vorlaufzeiten brauchen."
An der Goethe-Universität in Frankfurt am Main ist – neben Berlin und Rostock – die dritte Arbeitsstelle angesiedelt. Sie wird sich auf die Edition von Korngolds reichem Filmmusik-Schaffen insbesondere für Hollywood konzentrieren. Darunter "Robin Hood, König der Vagabunden" und "Der Seewolf" - um nur zwei der bekanntesten Filme mit Korngolds stilprägendem Soundtrack zu nennen: Die knapp zwei Dutzend Partituren für großes Sinfonieorchester sollen nicht nur klassisch als gedruckter Band und digital verfügbar in einer kritischen Edition erscheinen so wie alle anderen Werke. Zusätzlich bereitet das Frankfurter Team die Filmmusiken in multimedial erweiterter Form auf.
"Es ist ja tatsächlich so, dass Musik und die Bildebene korrelieren. Und hier wollen wir versuchen, dass man durch die digitale Edition sich Filmausschnitte direkt ranholen kann. Dass es die Möglichkeit gibt, dass man die Filmmusik, die es in einem Werkstatus gibt, dass wir die edieren, aber dass wir aber auch kenntlich machen in der Edition, an welchen Stellen die tatsächliche Filmmusik, die der Kinobesucher gehört hat, wie sie sich von der Filmmusik-Partitur zum Teil deutlich unterscheidet."
Multimediale Formate für die Filmmusik-Edition
Wie solche digitalen Werkzeuge in einer kritischen Gesamtausgabe von Korngolds Werken anzuwenden sind und dann neue mediale Formate ermöglichen, dafür gibt es noch kein fertiges Konzept. Deshalb wird das Leitungsteam ab Januar zunächst Editionsrichtlinien entwickeln.
"Wir haben da keinen Vorläufer und müssen da erstmal ins Labor einsteigen und uns geeignete Tools bauen."
Musikwissenschaftsprofessorin Friederike Wißmann teilt sich die Projektleitung mit ihrem Kollegen Arne Stollberg. Zusammen haben beide den Antrag gestellt für dieses Langzeitvorhaben, das die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz gemeinsam mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften trägt. Während der Laufzeit von 25 Jahren wird das Projekt jährlich mit 338.000 Euro gefördert.
Plurales Verständnis von Musikgeschichte befeuern
Die Quellenlage ist insgesamt erfreulich: Die meisten Handschriften und Originaldokumente liegen gut zugänglich in den USA. Friederike Wißmann hofft, dass durch die kritische Gesamtausgabe der Werke von Erich Wolfgang Korngold ein neuer Blick auf die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts möglich wird: nicht mehr eher eindimensional gedacht als Entwicklung von Arnold Schönberg hin zur Avantgarde-Musik nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern weiter gefasst, tonale und spätromantisch anmutende Werke à la Korngold inklusive.
"Dass man diesem vermeintlich einstrangigen Geschichtsverständnis, dass man diesem ein plurales entgegensetzt. Und dass man es aushält, dass nicht ein Schritt nach dem nächsten erfolgt in der Musikgeschichte, sondern dass viele Schritte möglich sind und dass die Moderne viel komplexer ist und deshalb eigentlich auch viel spannender."