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Edward Dębicki: "Totenvogel"
Überleben in den Wäldern

In seinem Erinnerungsbuch "Totenvogel" berichtet der polnische Rom Edward Dębicki vom Schicksal seiner Familie im Zweiten Weltkrieg. Ein seltenes ethnografisches Dokument über die untergegangene Kultur des fahrenden Volkes.

Von Brigitte van Kann | 06.05.2019
Der Schriftsteller Edward Dębicki und sein Roman „Totenvogel“
Der Schriftsteller Edward Dębicki und sein Roman „Totenvogel“ (Buchcover Friedenauer Presse / Autorenportrait (c) Jens Komossa)
Die Bezeichnung Zigeuner ist heute im Deutschen mit gutem Grund verpönt – zu oft hat man den Begriff diskriminierend verwendet. Es war eine Diskriminierung, die schließlich in der Ermordung von etwa 500 000 Mitgliedern dieser Volksgruppe während des Nationalsozialismus gipfelte.
Der polnische Rom Edward Dębicki hat jedoch auf der Übersetzung des polnischen cygan mit Zigeuner bestanden. Ein Akt des Stolzes, der Wiederaneignung der eigenen Geschichte, des eigenen Namens, der sich die neu eröffnete Friedenauer Presse nicht verschlossen hat. Dazu gehört Mut und es gehört auch Mut dazu, die Verlagstradition des umfangreicheren "Winterbuchs" mit diesem Zeugnis vom Leben und Überleben einer literarisch wenig präsenten Gruppe fortzusetzen.
Sprachregelungen
Edward Dębicki ist nicht Schriftsteller, sondern Musiker. Nach dem Krieg erwarb er als Akkordeonist und Leiter des Ensembles "Terno" weit über Polens Grenzen hinaus Anerkennung. Für seine Verdienste um die Kultur seines Volkes erhielt er hohe Auszeichnungen. 2004 legte er seine Erinnerungen an die Kriegszeit in polnischer Sprache vor.
Die renommierte Übersetzerin Karin Wolff hat im Deutschen für die schöne Einfachheit von Dębickis Stil eine überzeugende, schnörkellose Form gefunden. Die episodisch gegliederte Erzählweise macht das Mitgeteilte um so eindringlicher. Edward Dębicki, Mitte der 1930er Jahre geboren, erinnert sich an das Geschehen aus der Perspektive des Kindes, das er damals war – eine Einladung zur Identifikation und eine Möglichkeit, Empathie zu erzeugen.
Die Vorkriegszeit fängt der Autor in locker gefügten, kurzen Geschichten ein, die den Charakter von Anekdoten haben, wie man sie im Familienkreis erzählt. Das unbestrittene Unterhaltungspotential dieser Geschichten nutzt Edward Dębicki, um den Leser mit der Lebensweise seines Volkes bekannt zu machen: Einer Lebensweise, die nach dem Krieg endete – durch unüberwindbare Grenzen, Ansiedlungspolitik und nicht zuletzt durch wirtschaftliche Veränderungen in Europa, die die traditionellen Geschäftsfelder obsolet machten.
Musik, Pferdehandel, Wahrsagen
Im Winter suchte man früher Unterschlupf, man mietete ein Zimmer in einem Bauernhaus, um im Frühjahr wieder auf Wanderschaft zu gehen mit Pferd und Wagen, Kind und Kegel. Immer im Tross, das heißt mit der Sippe, im großen Verbund. Die Männer verdienten Geld als Musiker oder im Pferdehandel, die Frauen wahrsagten und wurden mit Leinwand oder Lebensmitteln entlohnt.
Abends schlug man ein Lager auf und der Ehrgeiz einer jeden Frau bestand darin, als erste das Essen fertig zu haben. Die Ältesten schlichteten Streit und gaben die Richtung der Fahrten vor.
Urwüchsige Frömmigkeit ohne die Enge katholischer Dogmen geriet auf wundersame Weise nicht in Konflikt mit dem Ehrenkodex der Roma. Ein freies, friedliches, trotz heftiger Streitereien solidarisches Leben, das manchmal Konflikte mit Gutsverwaltern oder Jagdaufsehern nach sich zog, aber ansonsten von der Umwelt toleriert wurde.
Ethnographie in Geschichten verpackt
Der Leser erfährt in diesen Anekdoten, was ein Zigeunerbügeleisen ist und wie man sich behalf, wenn kein echter Tee da war. Fehlte einmal der Essig für den Borschtsch, legte die Mutter ein nasses Tuch auf einen Ameisenhaufen und wrang es dann über dem Suppentopf aus: Ameisensäure tut es auch! Wie alle Frauen ihres Volks kennt sie sich aus mit Naturheilmitteln – einmal heilt sie die nach einer Verletzung entzündete Hand des Jungen mit einem Umschlag aus lebenden Fröschen: Die Hand schwoll ab und die Frösche sollen den medizinischen Einsatz auch überlebt haben.
Jahreszeiten und nicht etwa Jahreszahlen bestimmten den Rhythmus des Lebens. So gibt Dębicki an, er sei "am 4. März 1933, 1934 oder 1935 geboren". Eine chronologische Ordnung bekommen seine Erinnerungen erst mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939. Von der jüdischen Bevölkerung gewarnt, ziehen die Eltern mit ihren Kindern vor der Wehrmacht gen Osten. Doch bald sind die Deutschen überall. Die Familie erfährt, dass die Besatzer Juden und Roma erschießen und flieht in die Wälder: "Die Deutschen haben Angst vor großen Wäldern und Partisanen", sagt der Vater.
Auf dem Gebiet der Sowjetunion, die im Sommer 1941 von der Wehrmacht überfallen wird, verdoppelt sich die Gefahr: Denn nun machen nicht nur Deutsche Jagd auf die Roma, sondern auch die Horden des ukrainischen Ultranationalisten Stepan Bandera. Der drohenden Erschießung entgehen Edward Dębicki und seine Familie oft nur knapp, weil sie sich glaubhaft als "ukrainische Zigeuner" ausgeben können.
Die Feuerprobe – das Vater unser auf ukrainisch sprechen – ist keine Hürde, denn vor dem Krieg sind sie oft in der Ukraine umhergezogen, sie kennen die Sprache und die Sitten. Landesgrenzen scheinen im Vorkriegsleben dieser mobilen Kosmopoliten kaum von Bedeutung gewesen zu sein.
Überleben in den Wäldern
Die Jahre in den Wäldern und Sümpfen Wolhyniens, wie das Gebiet im Nordwesten der Ukraine heißt, sind hart. Ständig ist die Familie mit den vier kleinen Kindern auf der Flucht. Sie leiden Hunger. Kälte und Krankheiten setzen ihnen zu. Nur der Mut und die Findigkeit der Eltern, das Jahrhunderte alte Wissen um essbare Pflanzen und heilkräftige Wurzeln sichern das Überleben – dem Orakel des Uhus zum Trotz, der als "Totenvogel" gilt und nach dem das Buch benannt ist!
Der Krieg endet für Edward Dębickis Familie, als die Rote Armee 1944 die Ukraine befreit. "Lassen wir nun die Wälder hinter uns", sagt der Vater ergriffen beim Anblick der ersten Rotarmisten, "die Wälder, die uns wie Vater und Mutter beschützt und vor dem Tod bewahrt haben."
Im Windschatten der Sowjets erreichen sie das befreite Polen. Die Zigeunerpost, dem Autor zufolge die zuverlässigste der Welt, bringt die überlebenden Mitglieder der Großfamilie im Laufe der Zeit wieder zusammen. "Totenvogel" ist – trotz des düsteren Titels, trotzt aller Härte und Tragik – ein Bericht, der das Leben feiert. Ein Buch für Leser, die sich für die Geschichte Osteuropas, die Tradition und das Schicksal der Roma und Sinti interessieren.
Edward Dębicki: "Totenvogel". Erinnerungen
Aus dem Polnischen von Karin Wolff
Friedenauer Presse, Berlin
270 Seiten. 22 Euro