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Edward Radsinskij: Die Geheimakte Rasputin

Am Ende unserer heutigen Sendung wollen wir Ihnen nun eine Neuerscheinung über eine der exzentrischsten Figuren aus dem Russland der Jahrhundertwende vorstellen: Grigorij Rasputin.

Brigitte Vankann | 25.06.2001
    Über Grigorij Rasputin, den frommen Bauern und Wunderheiler, den Sexmaniac und Trunkenbold am Hof des letzten russischen Zaren, ist viel geschrieben und noch mehr spekuliert worden. Schon zu Lebzeiten eine Legende, gehört Rasputin zu den Personen der Geschichte, die jeder kennt und über die niemand wirklich etwas weiß.

    Edward Radsinskijs nun auf deutsch vorliegendes Buch verspricht "neue Erkenntnisse über den Dämon am Zarenhof". Es ist in der Tat die erste Rasputin-Biographie, die sich auf lange verschollene Dokumente stützen kann - wobei die Geschichte dieser Dokumente mindestens ebenso interessant ist wie ihr Inhalt:

    Im März 1917, kurz nach der Februarrevolution, berief die Provisorische Regierung eine "Außerordentliche Ermittlungskommission", die sich vor allem mit der Rolle Rasputins am Zarenhof befassen sollte. Hunderte von Personen, die Rasputin gekannt und mit ihm verkehrt hatten, wurden verhört; der russische Dichter Aleksandr Blok bereitete die Protokolle zum Druck vor - das Volk sollte erfahren, in welchem Sumpf der Zar gelebt hatte.

    Doch dazu kam es nicht: Im Oktober 1917 ergriffen die Bolschewiki die Macht, lösten die Ermittlungskommission auf und nahmen die Protokolle unter Verschluss. Zum 10. Jahrestag der Revolution erschien eine schmale, tendenziöse Auswahl aus diesen Protokollen, die Rasputin in denkbar ungünstigem Licht zeigte. Erst 37 Jahre später - 1964, am Ende der Tauwetterperiode - druckte eine sowjetische Zeitschrift den damaligen Abschlussbericht des Ermittlers in Sachen Rasputin. Eine Sensation! Doch als sich Edward Radsinskij auf die Suche nach den Protokollen machte, aus denen der Ermittler zitiert hatte, stellte er fest, dass sie spurlos verschwunden waren. Dreißig Jahre später tauchten sie wieder auf - im englischen Auktionshaus Sotheby's, wo sie 1995 unter den Hammer kamen.

    Der russische Cellist Mstislaw Rostropowitsch, ein bekennender Monarchist, ersteigerte das Aktenkonvolut und stellte es seinem Freund Radsinskij - man ist versucht zu sagen: "exklusiv" - zur Verfügung.

    Edward Radsinskij, erfolgreicher Bühnen- und Drehbuchautor und Verfasser eines vielbeachteten Buches über Nikolaus II., ist den Widersprüchen in den Verhörprotokollen auf den Grund gegangen und folgt den Verästelungen im feinen Geflecht der Petersburger Intrigen, Fehden und Verstrickungen. Radsinskij ist um Wahrheit, um Gerechtigkeit bemüht - auch wenn er hin und wieder vor den Aussagen der Zeitzeugen kapituliert: Hebt der eine als besonderes Merkmal Rasputins gesunde, weiße Zähne hervor, so kann sich der andere nur an verfaulte Stummel und schlechten Atem erinnern.

    Trotz der vielen Exkurse, die eine solche Wahrheitsfindung mit sich bringt, ist es Radsinskij gelungen, ein lesbares, im guten Sinne populäres Buch zu schreiben und den roten Faden der biographischen Chronologie nicht aus den Augen zu verlieren.

    Grigorij Jefimowitsch Rasputin wurde 1869 als Sohn eines sibirischen Bauern geboren. Er lernte notdürftig schreiben und lesen, seine Jugend verbrachte er mit schwerer Arbeit, Trinken und Prügeleien.

    Doch der junge Bauer hat auch eine andere Seite: Stundenlang betet er, er fastet und entdeckt, dass er die Gabe der Weissagung besitzt. Wie viele einfache Russen seiner Zeit zieht er bald als frommer Pilger von Kloster zu Kloster, jahrelang, landauf, landab. Seine ebenso krude wie nachhaltig praktizierte Lehre der Befreiung von der Sünde durch sexuelles Sündigen und anschließendes Bereuen scheint Rasputin auf seinen Wanderungen von der häretischen Sekte der Geißler übernommen zu haben.

    In Radsinskijs Buch begegnen wir keineswegs dem sexbesessenen Dämon, als den die Legende ihn sieht, sondern eher einem freudlosen Eiferer, der Sexualität in quasi religiöse Handlungen umzumünzen versucht.

    1903 taucht Rasputin in St. Petersburg auf, binnen kürzester Zeit gelingt es ihm, das Vertrauen hoher geistlicher Würdenträger und der Zarenfamilie zu erwerben. Radsinskij schreibt diesen erstaunlichen Erfolg weniger der Magie des Sibiriers als der wundergläubigen, hysterischen, erlösungsbedürftigen Petersburger Gesellschaft jener Endzeit zu. Petersburg hat auf den frommen Heiler und Seher aus dem einfachen Volk gewartet, Petersburg ist reif für Rasputin.

    Zar Nikolaus II. und mehr noch seine Frau Alexandra teilten die verbreitete Schwärmerei für den einfachen russischen Menschen. Rasputin war willkommen im bigotten Familienkreis der Romanows. Um so mehr, als es ihm wiederholt gelang, die lebensbedrohlichen Blutungen des an der Bluterkrankheit leidenden Thronfolgers Alexej zu stillen. Blind vor religiösem Eifer und Verehrung ignorierte die Zarenfamilie Berichte über Rasputins liederliches Leben, seine sexuellen und alkoholischen Ausschweifungen in den Badehäusern der Stadt. "Ich weiß", soll der Zar gesagt haben, "aber auch dort predigt er die Heilige Schrift."

    Es ist Teil der Legende, dass Rasputin, vor allem während des Ersten Weltkriegs, als der Zar an der Front weilte, der eigentliche Entscheidungsträger am Hofe war. Doch in Wirklichkeit scheint sein politischer Einfluss eher gering gewesen zu sein: Der Zar verbat sich jede Einmischung und zog Russland in den Ersten Weltkrieg hinein, trotz der eindringlichen Warnungen Rasputins, der Krieg bedeute das Ende Russlands und das Ende der Herrschaft der Romanows.

    Nach den ersten schweren Verlusten der russischen Armee gegen das Deutsche Reich machten Rasputins Gegner ihn und die deutschstämmige Zarin Alexandra für das Desaster verantwortlich. In der Tat war Rasputin während des Krieges Alexandras engster Freund und Berater. Das Gerücht, Rasputin sei ihr Liebhaber gewesen, zerstreut Radsinskij: Schon der Ermittler der Provisorischen Regierung hatte sich mit dieser für die damalige Zeit ungeheuerlichen Beschuldigung befasst und sie als haltlos zurückgewiesen. Spitzelberichte, Rasputin habe mit einem intimen Verhältnis zu Alexandra geprahlt, erwiesen sich als gezielte Fälschung seiner Feinde.

    1916 spitzte sich die Lage zu: Als sogar das russische Parlament über Rasputins Einfluss auf die Staatsgeschäfte diskutierte, fanden sich Männer zu einem Mordkomplott gegen den sibirischen Bauern zusammen. Noch um seinen Tod rankten sich die unwahrscheinlichsten Gerüchte: Er habe mit Zyankali vergiftete Törtchen gegessen und vergifteten Wein getrunken, ohne irgendeine Wirkung zu zeigen. Auch diese Version war eine reine Mystifikation, mit der seine Mörder ihn dämonisierten und ihre Tat - sie erschossen ihn schließlich und warfen ihn in die Newa - zu rechtfertigen hofften.

    Rasputin, so fand der akribische Radsinskij heraus, aß nie, grundsätzlich nie Süßes. Süßigkeiten bezeichnete er als "Mist" und verschenkte sie weiter. Der fromme Bauer mit dem liederlichen Leben fürchtete, durch den Genuss von Süßem wie auch von Fleisch seine in vielen Fällen belegten heilenden Kräfte zu verlieren. Dass keiner der Mörder des Mannes, der nie zur Gewalt aufgerufen oder den Hass gepredigt hatte, je zur Verantwortung gezogen wurde, mag ein weiterer Beweis für die Zerrüttung der russischen Zustände sein.

    Brigitte Vankann über Edward Radsinskij, "Die Geheimakte Rasputin, Neue Erkenntnisse über den Dämon am Zarenhof". Albrecht Knaus Verlag, München 2000, 540 Seiten, DM 58,-.