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Edward St. Aubyn
Bissiger Roman über den Literaturbetrieb

Angeblich war Edward St. Aubyn über seine schlechte Platzierung beim wichtigsten britischen Literaturpreis "Bookers Prize" derart schockiert, dass er kurzerhand eine böse Satire über den Literaturbetrieb verfasste. In Großbritannien sorgte das Buch für einigen Wirbel, die Literaturkritiker reagierten empört. Das Buch lässt sich gut auf den deutschen Literaturbetrieb übertragen, jetzt liegt es auch in deutscher Übersetzung vor.

Von Gisa Funck | 05.10.2014
    Der Journalist und Roman-Autor Edward St Aubyn
    Der Journalist und Roman-Autor Edward St Aubyn (picture alliance / dpa / Fabio Frustaci / Eidon)
    Kunst zu prämieren, so auch Literatur mit Literaturpreisen zu bedenken, ist naturgemäß eine heikle Angelegenheit. Schließlich: Klare, allgemeingültige Ästhetikkriterien existieren nun einmal nicht. Oder wer könnte etwa schon sagen, was denn nun "besser", also preiswürdiger sei: Günter Grass' "Blechtrommel" oder Heinrich Bölls "Billard um Halbzehn?" Oder vielleicht doch eher Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob?" Jeder der drei Romane ist ein Meisterwerk, das heute zum Kanon der deutschen Literatur gehört. Alle drei sind im Jahr 1959 erschienen. Und trotzdem wäre wohl damals kein Literaturpreisstifter auf die Idee gekommen, Grass mit Böll oder mit Johnson zu vergleichen. Beziehungsweise: Diese drei Autoren öffentlich gegeneinander antreten zu lassen, um herauszufinden, welcher Roman denn nun der beste des Jahres war. Nein, damals 1959, zeichnete man deutsche Schriftsteller noch ganz ohne Wettbewerb mit wichtigen Literaturpreisen aus. Einfach nur, weil ihr Buch einer Jury – aus welchen Gründen auch immer – gefiel.
    Zugegebenermaßen eine recht unsportliche Art der Autorenehrung, an der sich in den letzten zehn Jahren viel geändert hat. Neben ständig neuen Supermodels, neuen Superfußballern, neuen Supersängern und neuen Superköchen kürt der hiesige Kultur-und Medienbetrieb nämlich inzwischen auch alljährlich das neue deutsche Superbuch. Oder besser gesagt: Den besten Roman des Jahres, wie das beim Deutschen Buchpreis heißt. Eine Auszeichnung, die sich seit 2005 nicht nur zum meistbeachteten, sondern auch kommerziell erfolgreichsten Literaturwettbewerb der Nation gemausert hat. Vermutlich, weil es hier zugeht wie in Heidi Klums Castingshow: Auch beim Buchpreis gibt's ebenso bang erwartete wie drakonische Vor- und Endrundenentscheidungen, spannende Kopf-an-Kopf-Rennen und jede Menge tränenreich enttäuschte Kandidaten, respektive: empörte Publikumsstimmen. Kurzum: Man könnte das Ganze eigentlich besser "Germany's next Topnovel" nennen denn einfach nur schnöde Buchpreis.
    Bücherschreiben als Wettkampfspektakel
    Bücherschreiben also als Wettkampfspektakel: Erfunden wurde dieses schräge Konzept allerdings nicht Deutschland, sondern in Großbritannien, wo man vorher bekanntlich auch schon das Fußballspiel und das Galopprennen erfunden hat. Und der britische Sportsgeist geht beim 1969 erstmals vergebenen Man Booker Prize – dem Vorbild für den Deutschen Buchpreis – sogar soweit, dass man hier auf den Siegerroman allen Ernstes Geld wetten kann. Was natürlich schon ziemlich absurd wirkt bei einem Literaturwettbewerb. Und eigentlich schon seit 45 Jahren nach einer bitterbösen Satire schreit. Und genau eine solche legt der unerschrockene Edward St. Aubyn nun vor.
    "Lost for Words" heißt seine Bookerprize-Posse im Original, die in Großbritannien bereits für einigen Wirbel gesorgt hat. Wörtlich übersetzt also eigentlich: "Sprachlos" oder "Um Worte verlegen". Der Piper-Verlag aber machte daraus trickreich die Überschrift "Der beste Roman des Jahres", weil man "Lost for Words" tatsächlich ebenso gut als bissigen Kommentar auf den Deutschen Buchpreis lesen kann. Lässt St. Aubyn hier doch etwa ausgerechnet einen Sponsor des Booker-Preises – einen gewissen Mister Wo – ironischerweise Folgendes sagen:
    "Ich persönlich finde, dass sich Wettkämpfe auf die Bereiche Krieg und Sport sowie aufs Geschäft beschränken sollten, in der Kunst hingegen nichts zu suchen haben. Wenn ein Künstler gut ist, kann niemand das tun, was er tut. Weshalb alle Arten von Vergleich sinnlos sind. Nur die mittelmäßigen Künstler, die banale Lebensperspektiven in banaler Sprache propagieren, lassen sich wirklich vergleichen. Aber meine Frau findet, dass der Preis nun einmal einen motivierenden Namen braucht. Und da wäre "der am wenigsten Mittelmäßige des Mittelmäßigen" natürlich nicht so gut', sagte der Hauptsponsor des Elysia-Preises, Mister Wo, und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen."
    Edward St. Aubyn ist zwar so taktvoll, die Auszeichnung in seiner Komödie
    Elysia-Preis zu nennen. Doch selbst oberflächliche Kenner des britischen Literaturbetriebs werden schnell merken, dass es sich hierbei einzig um den Booker-Prize handeln kann. Zu offensichtlich sind die Gemeinsamkeiten. Wie beim realen Booker gibt es auch bei St. Aubyns Elysia-Preis eine fünfköpfige Jury, eine Longlist mit 13 und eine Shortlist mit sechs Auswahltiteln. Und wie beim Booker jahrelang üblich, findet die Preisverleihung bei einem Dinner live vor Fernsehkameras und in Anwesenheit der unterlegenen Autoren statt.
    Racheakt eines schlechten Verlierers?
    Kein Wunder von daher, dass britische Kritiker "Lost for Words" denn auch gleich als Schlüsselroman gelesen haben. Ja, mehr noch: als Racheakt eines schlechten Verlierers. Schließlich stand St. Aubyn selbst schon einmal 2006 mit seinem Roman "Mothermilk" auf der Shortlist, musste sich jedoch der indischen Autorin Kiran Desai geschlagen geben. Fünf Jahre später, 2011, war er dann mit seinem Nachfolgeroman "At Last" zur Überraschung vieler gar nicht erst für die Longlist nominiert. Was den Abkömmling einer Adelsfamilie, wie ein trotziges Interview beweist, anscheinend wirklich getroffen hat. St. Aubyns neuen Roman nun aber bloß auf die Abrechnung eines Gekränkten zu reduzieren, wie es vor allem der "Guardian" getan hat, wird ihm nicht gerecht. Schon deshalb nicht, weil er dafür viel zu amüsant-heiter geschrieben ist.
    Denn, um es gleich vorweg zu sagen: "Der beste Roman des Jahres" ist ein echtes Lesevergnügen. Und ein anspielungs- und geistreiches dazu, auch, wenn die Handlung hier und da ein wenig zu sehr ins Karikatur- und Slapstickhafte abgleitet. Doch wer wissen will, wie der aktuelle Literaturbetrieb auf der Insel oder – mit ein paar nationalspezifischen Abstrichen – in Deutschland funktioniert, dem kann man dieses Buch nur empfehlen. Und wer jemals in einer Jury für einen Kulturpreis saß - wie die Verfasserin dieser Radiokritik -, dem wird bei St. Aubyns wildem Preisgeschacher mitunter das Lachen im Halse stecken bleiben. So treffend nah kommt seine Satire bei aller Übertreibung der Realität.
    Das fängt schon bei den fünf Juroren seines Elysia-Preises an, die nur auf den ersten Blick skurril wirken, weil sich gleich vier von ihnen früh als vollkommen inkompetent herausstellen. Zu diesen vier Totalausfällen gehört auch der Vorsitzende. Ein schottischer Parlamentsabgeordneter namens Malcolm Craig, der deutlich mehr Leidenschaft für sein Heimatland als für die Literatur aufbringt:
    "Am Ende war es die Langeweile des Hinterbänklers, die Malcolm veranlasste, den Vorsitz der Jury zu übernehmen. Ein unauffälliger Abgeordneter musste sich gelegentlich etwas einfallen lassen, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen. Sowieso hatte er die Absicht, lediglich einen kleinen Teil der 200 Romane lesen, die der Jury ursprünglich eingereicht worden waren. Seine Sekretärin hatte er gebeten, die Einreichungen nach Kandidaten durchzusehen, die irgendwie mit Schottland zu tun hatten. Sie hatte ihm drei Romane herausgefischt, von denen er erst einen genauer anzuschauen die Zeit gefunden hatte. Ein greller, aber moralisch motivierender Bericht aus einer Sozialbausiedlung in Glasgow. "Was guckstu!" Malcolm nahm sich vor, dem Buch seine Unterstützung zukommen zu lassen."
    Lauter unfähige Juroren
    Auch die zweite Jurorin des Elysia-Preises, eine ehemalige Mitarbeiterin des auswärtigen Amtes, deren Name Penny Feathers unheilvoll an den Evelyn-Waugh-Helden aus "Verfall und Untergang" erinnert, ist hochbeschäftigt. Penny schreibt nämlich selbst gerade an einem Roman. Oder genauer gesagt: An einem Thriller über einen furchtbar bösen islamistischen Terroristen und eine furchtbar tapfere britische Geheimagentin. Oder noch genauer gesagt: Sie lässt schreiben. Denn Penny nutzt für ihren Thriller eine Write-Your-Own-Bestseller-Software, die sinnigerweise Ghost heißt. Und das Tolle an diesem Computerprogramm ist, dass Penny sich damit als Autorin eigentlich gar keine eigenen Schreibgedanken mehr machen muss:
    "Wenn man bei Ghost einen Begriff eingab, Flüchtling beispielsweise, erschienen ein paar nützliche Formulierungen auf dem Bildschirm: "Ein armseliges Bündel umklammernd", oder: "vor Hunger weit aufgerissene Augen"; für den Begriff "Mörder" wurde einem "durch seine Adern floss eisiges Wasser, kein Blut" oder "seine Augen waren kalte schmale Schlitze" angeboten. Und beim Stichwort "Schuhe" erhielt man folgende Vorschläge: "Stark abgetragen", "auf Hochglanz poliert", "hatten schon bessere Tage gesehen" und "in Paris gekauft". Penny konnte den ganzen Tag scrollen und klicken und klicken und scrollen. Und die Zahl der geschriebenen Wörter in ihrer Thriller-Datei stieg sprunghaft in die Höhe."
    Keine Frage, die Figur der talentfrei vor sich hintippenden Hobbyautorin Penny Feathers ist die Albtraumkarikatur einer jeden Literaturjurorin. In Großbritannien aber sorgte gerade diese Figur in St. Aubyns Satire besonders für Empörung, weil Penny zu allem Überfluss auch noch auffällig viel Ähnlichkeit mit Stella Rimington besitzt. Mit jener Booker-Jury-Vorsitzenden von 2011 also, unter deren Leitung St. Aubyn – wie erinnern uns – überraschenderweise nicht auf die Longlist kam. Und die seit ihrer Pensionierung als Geheimdienstchefin – welch Zufall – ebenfalls Thriller schreibt.
    Was bei dem ganzen Who-is-Who-Getratsche dann allerdings weitgehend unterging, ist, dass eine Figur wie Penny, die quasi hirnlos und ohne Unterlass ständig neue Romane produziert, ohne ein einziges Werk der Literaturgeschichte zu kennen, natürlich trotzdem recht treffend einen Zeittypus parodiert. Jenen Zeittypus des post-materialistischen Selbstverwirklichers nämlich, der zwar einerseits unbedingt selbst Künstler sein möchte, andererseits aber jedes Risiko eigener Abenteuer und jede Mühe eines Kulturstudiums scheut.
    Muss man da noch extra erwähnen, dass natürlich auch die drei restlichen Elysia-Juroren nur einen Bruchteil der eingereichten Wettbewerbstitel überhaupt in die Hand nehmen?! Ja, dass selbst die bienenfleißige Literaturdozentin Vanessa Shaw, quasi das intellektuelle Gewissen der Jury, irgendwann vor den Bücherbergen kapituliert? Weil nun einmal niemand 200 Romane lesen kann. Genauso wenig wie eine Jury 167 Romane lesen kann, die dieses Jahr beim Deutschen Buchpreis eingereicht waren.
    Schiere Masse an Büchern nicht bewältigbar
    Beim Elysia-Wettbewerb jedenfalls verlieren die Beteiligten bei so viel Textmenge schon bald den Überblick. Und als dann versehentlich ein Kochbuch im Stapel der Titelfavoriten landet, ahnt man als Leser natürlich früh, worauf diese Verwechslung hinauslaufen wird. Doch glücklicherweise begnügt sich St. Aubyn in seiner Satire nicht nur mit der Verulkung lesefauler Juroren. Sein Spott ist viel giftiger und zielt viel weiter. Nämlich: Auf die gesamte Branche, die seiner Meinung nach auch sonst so Einiges miteinander verwechselt: Kochbücher mit Romanen, Business mit Kunst. Und Platz Eins der Bestsellerliste mit großer Literatur.
    Entsprechend kommen in "Der beste Roman des Jahres" auch ein Verleger, ein Agent, ein liebeskranker Lektor und gleich mehrere Wettbewerbsautoren zu Wort. Und siehe da: Auch diese, sich öffentlich so gern als Idealisten gebenden Jünger der Kunst sind in Wahrheit fast alle von niederen Motiven getrieben. Von Neid, Eitelkeit, Macht-, Geld- oder Sexgier.
    Der Literaturbetrieb als Haifischbecken. Ja, sogar als Literaturverhinderungsbetrieb. Sicherlich, das ist keine neue Klage. Gleichwohl hat die Ökonomisierung der Buchbranche inzwischen tatsächlich Ausmaße erreicht, die man als bizarr bezeichnen kann. Herrscht doch in vielen Verlagen längst die Maxime vor, dass Qualität sich allein nach der Verkaufsquote bemisst. Oder mit anderen Worten: Nur verkäufliche Literatur gilt heute gemeinhin noch als gute Literatur. Weswegen Schriftsteller das Bücherschreiben auch immer weniger als eine Berufung denn als Geschäftsmodell begreifen. So zumindest erzählt es St. Aubyn. Und stellt in seinem Buch dann sozusagen die aktuellen Trendprodukte im Segment "Leseunterhaltung" vor, indem er aus verschiedenen Romanen des Elysia-Wettbewerbs zitiert. Als da zum Beispiel wäre das gerade bei Booker-Preis-Juroren beliebte Modell lebenspraller Geschichtsschmöker.
    In St. Aubyns Wettbewerb vertreten in Gestalt einer Shakespeare-Schmonzette, die es sogar auf die Shortlist schafft. Dabei beschränkt sich das Geschichtliche hier eigentlich nur auf ein paar altmodische Wörter, mit denen der berühmte Dichter am liebsten schlüpfrige Andeutungen macht. Aber egal: Hauptsache, der Literaturkonsument kann sich gut einfühlen in die Epoche. So wie etwa bei dieser vom Autor zitierten Szene:
    "Die schöne Lucretia hob ihre Röcke, um sich besser rittlings auf William Shakespeares Beine setzen zu können.
    - "Liebling, William" sagte sie. "Wo bleibt das Sonett, das du mir versprochen hast?"
    - "Na, ich hab's in meinem Hosenlatz", sagte William, "denn ein Mann ist ein Narr, der ein Gedicht anderswo als in seinem Hosenlatz verwahrt, und ein Hosenlatz, der kein Gedicht verwahrt, ist fürwahr ein törichter Hosenlatz."
    - "Es ist ein nichtsnutziger Hosenlatz", pflichtete ihm sein Gefährte John bei, "denn er verwahret nichts."
    - "Hoho", sagte der gute Meister Jonson und leerte seinen Seidel Bier. "Wahrlich ein geistiger Schlagabtausch."
    Als weitere Romantypen sind beim Elysia-Preis vertreten: die schonungslos ehrliche Promibeichte, die streng genommen natürlich nicht ganz so schonungslos ehrlich ist, weil sie das altbewährte Märchen vom Tellerwäscher/Waisenjungen/Hinterhofdosenkicker erzählt, der es – Sie wissen schon – zum Millionär, Fußballstar oder, wie im vorliegenden Fall, zum Spitzenpolitiker bringt.
    Außerdem noch im Angebot: Der postmodern verrätselte Selbstfindungsbericht, der bei St. Aubyn den hübschen Titel "Der gefrorene Wildbach" trägt. Und natürlich, um ein letztes Beispiel für ein gerade sehr erfolgreiches, literarisches Trendprodukt zu nennen: Das brutal-schockierende Sozialdrama von ganz, ganz unten, das selbst gelangweilte Juroren garantiert aus dem Ohrensessel haut. St. Aubyn präsentiert diesen Romantypus in der Variante eines Junkie-Romans, gegen den "Trainspottin'" von Irvine Welsh wirkt wie eine Geschichte aus Bullerbü:
    "'Fuck! Fuck! Fuck!' Death Boy hing die Hose um die Knöchel. Die einzige Vene seines Körpers, die noch nicht in Deckung gegangen war, befand sich in seinem Schwanz.
    'Ich sag doch, du sollst die Schnauze halten, wenn ich ne Vene suche', knurrte Death Boy.
    "Dann brauch ich gar nicht mehr mit dir zu reden", sagte Wanker, anscheinend fasziniert vom sauren Geruch seiner eigenen Kotze.
    "'Yes", sagte Death Boy, das Gesicht verzerrt in einer Art lieblichem Hass. "Yes! Hab Sie, ich hab sie, verdammte Scheiße, ich hab die Scheißvene getroffen" Seine Stimme driftete ab, als der Stoff sich seinen Weg bahnte und er aus dem Eisschrank stieg, wo er zusammengefaltet, splitternackt und bibbernd gehockt hatte. "Das isses, verdammte Scheiße, yes!", kächzte er.
    Harsche Kritik an St. Aubyn
    Wer sich als Schriftsteller über den Literaturbetrieb lustig macht, lebt gefährlich. Das mussten auch schon Bodo Kirchhoff, Norbert Gstrein, Thomas Bernhard oder Martin Walser erfahren, den man wegen seines Romans "Tod eines Kritikers" bekanntlich sogar als Antisemiten beschimpfte.
    Bei "Lost for Words" aber sind und waren Kritiker darüber hinaus wohl auch deshalb so verstimmt, weil man gerade von Edward St. Aubyn eine Veralberung des heiligen Booker Preises nicht unbedingt erwartet hätte. Denn bis Kurzem galt der 54-jährige Dandy und Spross einer traditionsreichen Aristokratenfamilie noch als großer, wenngleich brillant formulierender Schmerzensmann der britischen Literatur.
    Diesen Ruf hat St. Aubyn vor allem seinen fünf autobiografischen Melrose-Romanen zu verdanken, in denen er sich seine traumatische Kindheit und Jugend von der Seele schrieb. Genauso wie sein Held Patrick Melrose wurde auch er von seinem Vater als Kind missbraucht und von seiner Mutter vernachlässigt. Genauso wie Patrick ging auch er durch die Hölle der Heroinsucht. Insofern sprühen zwar auch schon seine früheren Romane nur so vor sarkastischem Witz. Doch es ist eben ein ganz anderer Sarkasmus als der seiner Literaturbetriebsposse. Nämlich einer der wirklich bitteren, abgründigen und letztlich zutiefst verzweifelten Sorte.
    Man spürt in den Melrose-Romanen hinter all der Häme immer auch die Qual, die sie ihrem Autor bereitet haben. Nicht umsonst hatte St. Aubyn noch als Junkie einen höchst makaberen Pakt mit sich selbst abgeschlossen, der lautete: entweder Schriftstellerkarriere oder Selbstmord.
    "Lost for Words", dessen Gattungsparodien und wechselnde Tonlagen Nikolaus Hansen kongenial ins Deutsche übertragen hat, ist in zwölf Jahren nun bereits der achte veröffentlichte Roman des bekennenden Oscar-Wilde-Verehrers. Und es ist der erste, wie St. Aubyn selbst zugibt, der ihm wirklich Spaß gemacht hat. Der leidgeprüfte Schriftsteller hat sein Trauma also offenkundig erfolgreich verarbeitet. Und spottet nun lieber über die britische Gesellschaft statt über seine Familie. Ein Ton- und Genrewechsel, der manchem Kritiker zwar nicht behagen mag, der aus Edward St. Aubyn aber keinesfalls einen schlechteren Schriftsteller gemacht hat. Und so heiter, stellenweise quietschvergnüglich sein sogenannt "bester Roman des Jahres" auch daherkommen mag: So bitterböse-erschreckend liest sich doch dessen Befund von einer sich bereitwillig selbst abschaffenden Literaturbranche, wenn man ein bisschen genauer hinschaut.
    Buchinfos:
    Edward St. Aubyn: "Der beste Roman des Jahres", Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen, Piper Verlag, München 2014, 253 Seiten, Preis: 16,99 Euro