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Ehe für alle
"Endlich, endlich, endlich - Halleluja!"

Die Geschichte der Ehe sei auch eine des Wandels, sagt die evangelische Theologin Isolde Karle im Dlf. Die Öffnung für Homosexuelle habe nicht nur eine politische Dimension, sondern auch eine seelsorgerliche, "weil wir wissen, dass viele Schwule und Lesben darunter leiden, dass sie nicht wirklich anerkannt sind."

Isolde Karle im Gespräch mit Christiane Florin | 04.07.2017
    Die Theologin Prof. Dr. Isolde Karle
    Die Theologin Prof. Dr. Isolde Karle (privat )
    Christiane Florin: Frau Karle, "Halleluja!" haben Sie bei Facebook gepostet, nachdem der Bundestag die Ehe für alle verabschiedet hatte. Was lässt eine evangelische Theologin so lauthals jubeln?
    Isolde Karle: Es ist einfach so, dass wir schon sehr lange darum kämpfen, sowohl argumentativ auf wissenschaftlicher Seite als auch kirchenpolitisch, dass gleichFlucgeschlechtliche Partnerschaften voll gültig anerkannt werden. Das hat nicht nur eine politische Dimension, sondern ganz stark eine seelsorgerliche Dimension, weil wir einfach wissen aus der kirchlichen Praxis, aus der Seelsorge, dass viele Schwule und Lesben darunter leiden, dass sie nicht wirklich anerkannt sind. Klar, das Lebenspartnerschaftsgesetz war schon mal ein sehr wichtiger Schritt.
    Aber gleich zu sein wie die anderen auch, wie die Familienangehörigen und Freunde, auch Kinder adoptieren zu können, den gleichen Namen zu haben und sagen zu können: "Das ist mein Mann, das ist meine Frau", das ist sehr vielen Menschen, die in verbindlichen, sehr verlässlichen Beziehungen leben, sehr wichtig. Dass das jetzt staatlich möglich ist, das ist ein Durchbruch. Das ist ein Grund des Dankes. Das ist ein historischer Tag.
    "Die Ehe ist keine Institution, die überzeitlichen Charakter hat"
    Florin: Wenn Sie in die lange Geschichte der Ehe blicken: Was waren die größten Veränderungen?
    Karle: Die Ehe hat sich insgesamt wahnsinnig verändert. Das ist keine Institution, die überzeitlichen Charakter hat, sondern dramatischen Veränderungen unterliegt. Wenn wir an die biblischen Zeiten denken, ans Alte Testament. Da haben wir die Ehe von einem Mann und vielen Frauen. Im Neuen Testament ist das dann schon anders. Aber auch da ist das natürlich ein patriarchale Eheform. Dann natürlich die römische Ehe, da entwickelt sich der Konsens. Das Hochmittelalter ist sowieso eine ganz spannende Zeit im Hinblick auf die Ehe, weil hier gerade ab dem 12. Jahrhundert bis hin zur Reformation der Liebes- und Ehediskurs sehr intensiv geführt wurde und die Ehe nicht einfach nur als eine ökonomische Ordungsangelegenheit betrachtet wurde.
    Es gab eine sehr hohe Wertschätzung von Freundschaft, Amicitia - man hat Aristoteles wiederentdeckt - und auch von Sexualität. Dann kam die Reformation. Im Prinzip konnte sie nahtlos an diese Tradition anknüpfen, auch innerhalb der römischen Kirche und hat sie massiv verstärkt, indem sie gesagt hat: Die Ehe ist ein weltlich Ding, sie ist kein heiliges Sakrament. Da soll die Kirche nicht mitmischen. Die Ehe ist keine Frage der Dogmatik, der Erlösung, sondern der Lebensgestaltung. Entsprechend sagt Luther, ist sie kontingent, also dem Wandel unterworfen.
    Florin: Würden Sie so weit gehen und behaupten, Luther hätte nichts gegen die Ehe zwischen Mann und Mann und Frau und Frau.
    Karle: Doch. Dagegen hätte er ganz viel gehabt. Aber in der Logik seiner Argumentation liegt die Möglichkeit, dass man sagt: Okay, unter heutigen Bedingungen, unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts, wo wir wissen, dass Homosexualität eine menschliche Disposition und dass die Menschenwürde eines jeden zu achten ist, also unter diesen fortgeschrittenen Wissens- und Erkenntnisbedingungen, da ist es konsequent zu sagen: Die Ehe muss sich weiter wandeln, sich weiter öffnen. In der Reformationszeit war ganz entscheidend, dass viele Menschen nicht heiraten konnten aufgrund von Standesgrenzen, aus religiösen Gründen.
    Es gab wahnsinnig viele Heiratshindernisse, wahrscheinlich war die Mehrheit der Bevölkerung nicht verheiratet. Da kommt die Reformation daher und sagt: Das kann nicht sein. Die Sexualität ist etwas Wunderbares, die Ehe ist etwas Wunderbares. Es wurden nur noch ganz wenige Heiratshindernisse festgehalten und ansonsten wurde die Ehe ermöglicht. Aber wenn man die Ehe für alle ermöglicht, dann muss man auch die Möglichkeit der Scheidung eröffnen. Und das war damit gegeben, die Möglichkeit der Scheidung und Wiederheirat ist in der Reformationszeit eingeführt worden. Natürlich hat sich danach in der Romantik die Ehe total verändert.
    Es entstand die bürgerliche Ehe, die ein ganz bestimmtes Geschlechterrollenverständnis hatte von der fürsorglichen Frau und dem Mann, der hinaus ins feindliche Leben muss. Im Moment sind wir dabei, uns an der bürgerlich-neuzeitlichen Geschlechtermetaphysik abzuarbeiten. Heute haben wir eine modernisierte Ehe, wo Frauen auf gleicher Augenhöhe sind mit den Männern und nicht einfach nur zu Hause die Kinder erziehen oder nicht einfach nur dem Mann unter- und nachgeordnet sind.
    Ein "weltlich Ding"
    Florin: Die konfessionellen Unterschiede im Eheverständnis sind in der vergangenen Woche sehr deutlich geworden. Für die katholische Kirche ist die Ehe ein Sakrament, für die evangelische nicht. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm hat die Ehe für alle begrüßt, sie stärke die Ehe an sich. Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz bedauert die Entscheidung für die Ehe für alle. Warum fühlen sich die Kirchen berufen, bei der staatlichen Ehe mitzureden oder reinzureden?
    Karle: Da spielt eine große Rolle, dass das Thema Sexualität, das mit der Ehe verknüpft ist, sehr eng ans Christentum gekoppelt war: die Frage, wie gestaltet man Sexualität, was ist eine verantwortungsvolle Sexualität. Da gab es natürlich lange Zeiten, die man als sexualitätsfeindlich bezeichnen würde, die asketische Lebensstile, zölibatäre Lebensstile als höherwertig betrachteten. Es ist ja das Paradoxe, dass die katholische Kirche auf der einen Seite sagt, die Ehe ist ein Sakrament und sie damit unglaublich hoch bewertet, religiös bewertet. Und auf der anderen Seite war im Zweiten Tridentinum völlig klar: Eine Ehe ist weniger wert als eine zölibatäre Lebensform.
    Florin: Die Ehe ist etwas für diejenigen, die die Triebe nicht im Griff haben...
    Karle: Ja, so ungefähr. Während die Reformatoren, die gesagt haben, die Ehe sei nur ein weltlich Ding, die Ehe aufgewertet haben, weil sie Gott in der Welt gesucht haben. Luther sagt explizit: Wenn eine Frau Kinder gebiert und erzieht, dann ist das ein Gottesdienst. Dann tut sie wahrscheinlich ein besseres Werk als wenn sie im Kloster irgendwelche Schriften studierte. Das geht also überkreuz. Die Kirchen haben sich immer schon sehr stark hier abgearbeitet. Es ist auch nicht so, dass die evangelische Kirche einhellig die Position von Heinrich Bedford-Strohm oder vom Rat der EKD teilen würde. Wir haben diverse Landeskirchen, in denen erbittert um diese Frage gestritten wird. Das scheint ein hochideologisches Thema zu sein, wo sehr viele Emotionen drin sind.
    Florin: Und selbst die Kirche des EKD-Ratsvorsitzenden, nämlich die Bayerische Landeskirche, macht einen deutlichen Unterschied zwischen einer Trauung und einer Segnung. Die Trauung ist für Mann und Frau, die Segnung für homosexuelle Paare. Das ist nicht ganz gleichgestellt. Glauben Sie, dass sich durch diese staatliche Entscheidung auch die Debattenlage innerhalb der Landeskirchen verändern wird?
    Karle: Das glaube ich schon, dass es einen Impuls geben wird, dass davon ein großer Schwung ausgeht. Ich habe so euphorisch auf Facebook gepostet, weil ich so viele Menschen kenne, die sagen: Endlich, endlich, endlich muss ich mich nicht mehr verstecken. Endlich bin ich wirklich, wirklich, wirklich gleichgestellt und nicht nur so bemüht, mit einer Toleranz von oben herab. Ich denke, das wird in den Kirchen die Diskussionslage verschärfen oder weiterbringen. Ich hoffe, das zweite.
    "Die Sehnsucht nach Verlässlichkeit ist groß"
    Florin: Wenn wir uns die Zahlen anschauen: Rund 400 000 Ehen wurden 2015 geschlossen, zu Beginn des goldenen Jahrzehnts der Ehe, 1950, waren es fast doppelt so viele in Deutschland. Wie erklären sie angesichts dieser sinkenden Zahlen die steigende Emotionalität in der öffentlichen Debatte über die Ehe?
    Karle: Sie haben die entscheidenden Stichworte schon gegeben. Das Golden Age of Marriage in den 1950er und 60er Jahren war eine ganz außergewöhnliche Zeit, was den Verheirateten-Anteil in der Bevölkerung anging. Der lag bei über 90 Prozent. Das war nie in der Geschichte der Fall. Heute sind wir auf dem Niveau der Weimarer Republik. Also es ist nicht so, dass wir völlig verwahrloste oder ehelose Zeiten haben, sondern es ist ein ganz ähnliches Niveau wie das in den 1920er Jahren.
    Dieser Heiratsboom in den 50er und 60er Jahren war die Ausnahme. Vor diesem Hintergrund lässt es sich ein bisschen relativeren. Natürlich werden Beziehungen heute brüchig, man hat sehr viele Möglichkeiten, sehr viele Freiheiten. Es ist auch keine Tragik mehr, wenn eine Ehe geschieden wird, im Hinblick auf Stigmatisierung. Aber wir wissen aus Umfragen, dass bei sehr vielen jungen Menschen die Sehnsucht sehr groß ist bei aller Optionenvielfalt, dass man gerne mit jemandem richtig verlässlich zusammen sein möchte. Deshalb hat die Ehe wieder einen leichten Aufschwung. Das muss man nicht überbewerten, aber die Ehezahlen steigen gerade leicht. Das liegt auch an der großen Menge derer, die sich nicht nur scheiden lassen, sondern wieder heiraten. Insgesamt ist das Bedürfnis sehr groß, jemanden zu haben, auf den man sich verlassen kann in guten wie in schlechten Tagen.
    Florin: Und damit ist die Emotionalität der Debatte zu erklären?
    Karle: Nein, nein, damit ist die Emotionalität der Debatte nicht erklärbar, da habe ich Sie falsch verstanden. Die Schärfe der Debatte in der Kirche, die hat ihren Grund darin, dass gerade die evangelikale Seite sehr biblizistisch herangeht. So ähnlich, wie in den 50er und 60er Jahren gegen die Frauenordination argumentiert wurde, dass man sagt: "Das steht so in der Bibel, Homosexualität wird in der Bibel, sofern es überhaupt vorkommt, nur negativ bewertet, und das ist für uns die Richtschnur und alles andere ist sündig und abartig." Das wird als unnatürlich und nicht schöpfungsgemäß betrachtet. Da ist viel Emotion drin. Das scheint die Qualität gerade für religiösen Menschen sehr stark aufgeladen zu sein.
    "Es müssen doch nicht alle gleich denken"
    Florin: Laut Umfragen sind 20, 30 Prozent der Bevölkerung sind gegen die Ehe für alle, die Zahlen schwanken je nach Umfrage-Institut. Das sind keineswegs nur Evangelikale. Haben Sie Verständnis dafür, wenn sich diese nicht ganz kleine Minderheit fremd im eigenen Land fühlt?
    Karle: Also fremd im eigenen Land fühlt die sich ganz bestimmt nicht...
    Florin: ... aber der Eindruck entsteht ja, wenn man dazu einiges liest.
    Karle: Ich fand es sehr eindrucksvoll, Volker Kauder zu hören. Kauder ist wirklich ein absolut entschiedener Befürworter der nur heterosexuellen Ehe. Etwas Anderes kann er mit seiner Überzeugung, auch mit seiner christlichen Überzeugung, nicht vereinbaren. Der stellt sich da vorn hin und sagt: "Das ist meine Überzeugung. Ich weiß aber auch, dass andere Christen genau zur gegenteiligen Überzeugung kommen und das respektiere ich." Wenn das möglich ist zu sagen: "Ich selber finde es nicht Ordnung, dass die ihre Partnerschaft genauso Ehe nennen können wie die Partnerschaft von Mann und Frau, aber ich respektiere, dass es für andere Christen, andere Menschen, die anders denken, ganz wichtig ist und dass die gute Argumente auf ihrer Seite haben", dann ist doch alles wunderbar. Das ist Pluralismus, es müssen ja nicht alle gleich denken.
    Florin: Die Kanzlerin, evangelisch, Pfarrerstochter und in den vergangenen Jahren verstärkt auf das C bedacht, hat den Weg für die Abstimmung frei gemacht, aber selbst dagegen gestimmt. Die Ehe sei für sie die Verbindung von Mann und Frau ist, wie sie sagt. Wie würden Sie versuchen, sie umzustimmen?
    Karle: Ich habe mir die ganze Debatte angeschaut und fand Herrn Luczak von der CDU hochgradig eindrucksvoll. Es war sehr bewegend, wie er festgestellt hat, dass nicht jeder, der sagt, die Ehe sei nur für Mann und Frau, deshalb homophob ist. Aber warum diese Ehe für alle für ihn als schwulen Abgeordneten* (Siehe Anmerkung der Redaktion unter diesem Beitrag) wahnsinnig wichtig ist, das hat er sehr eindrucksvoll vorgeführt und da sich auch darauf bezogen, dass mindestens die evangelische Kirche das auch so sieht, zumindest der Rat der EKD.
    Man kann das nicht für jeden evangelischen Christen so sagen, bei weitem nicht. Das war sein Hauptargument. Das hat schon David Cameron so gesagt: Gerade weil er so konservativ ist, gerade weil ihm so viel an Werten von Verlässlichkeit, Treue, Kontinuität in guten wie in schlechten Tagen liegt, deshalb ist er dafür, die Ehe für alle zu öffnen und damit das Institut zu stärken. Damit bekommen Schwule und Lesben alle Unterstützung, die die anderen auch bekommen, damit sie tatsächlich in schlechten Tagen und nicht nur in den guten füreinander einstehen.
    Florin: Ist die katholische Kirche noch mehr im Abseits als vorher?
    Karle: Gute Frage. Vielleicht schon. Oder vielleicht gerade ein wichtiger Ansprechpartner für die 25 Prozent, die sagen, sie finden es nicht gut, dass die Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften geöffnet wird.
    Florin: Ein Refugium also.
    Karle: Ja, vielleicht. Ich könnte mir schon vorstellen, dass es für viele wichtig ist, dass wenigstens die katholische Kirche zu den alten Grundsätze steht und nicht dem Zeitgeist folgt.
    Isolde Karle ist Professorin für Praktische Theologie an der Ruhruniversität Bochum. Zum Thema hat sie das Buch "Liebe in der Moderne. Körperlichkeit, Sexualität und Ehe" (Gütersloher Verlagshaus) veröffentlicht.
    *Anmerkung der Redaktion: Frau Karle bezeichnet in diesem Absatz den Bundestagsabgeordneten Dr. Jan-Martin Luczak als "schwulen Abgeordneten". Dies ist nicht zutreffend. Herr Luczak schreibt uns: "Ich selbst bin nicht schwul, setze mich aber gleichwohl schon seit vielen Jahren für die Gleichstellung ein."
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.