Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Ehrengast der Frankfurter Buchmesse
Georgische Literatur im Widerstand

Fast drei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit sucht Georgien nach neuen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Texte entstehen gegen kirchliche Denkverbote, patriarchalische Strukturen und überkommene Rollenmodelle - und spielen eine wichtige Rolle bei der Selbstverortung des Landes und seiner Gesellschaft.

Von Cornelius Wüllenkemper | 17.09.2018
    Georgische Literatur (v.l.n.r.): Irakli Charkviani: "Dahinschwimmen. Aus dem Leben eines Königs", Tamar Tandaschwili: "Löwenzahnwirbelsturm in Orange", Tamri Fkhakadze: "Gärtnern im Kriegsgebiet"
    Die orthodoxe Kirche hat immer noch großen Einfluß in Georgien (Buchcover links und rechts: Dagyeli Verlag, Buchcover mitte: Residenz Verlag, Hintergrund: imago/imageBROKER/GTW)
    Wenn man den mentalen Zustand einer Nation wirklich an ihrer Literatur ablesen kann, so ist Georgien ohne Zweifel ein besonders interessanter Fall. Die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche und Konflikte seit der Unabhängigkeit 1991 haben bis heute auch in der Literatur ihre Spuren hinterlassen. Wer die Texte zeitgenössischer Autoren zur Hand nimmt, wird feststellen, dass hier oft unruhige, teils hysterische Erzählerstimmen sprechen, die Erinnerungen, Assoziationen, groteske Imaginationen und surreale Szenerien kombinieren und auf chronologisch lineare Erzählungen verzichten. Das gilt auch für die Psychotherapeutin und Schriftstellerin Tamar Tandaschwili, die mit ihrem Roman "Löwenzahnwirbelsturm in Orange" über patriarchalische Gesellschaftsstrukturen in Georgien für einen Skandal sorgte.
    "Dem Thema der strukturellen Gewalt in patriarchalischen Gesellschaften und wie sie weibliche Identitäten auslöschen kann, bin ich als Therapeutin oft begegnet. Zugleich habe ich es in den Sitzungen mit meinen Patienten oft mit nicht linearen Narrativen zu tun. Man setzt die Geschichte aus Mosaiksteinen zusammen, man springt vor und zurück und fügt langsam einen Stein an den anderen, um am Ende ein größeres Bild zu erhalten. Und lineare Zeitstrukturen spielen da nicht unbedingt eine Rolle."
    Die patriarchalischen Eliten bleiben im Sattel
    Tamar Tandaschwili ist überzeugt, dass die Befindlichkeit der georgischen Gesellschaft geprägt ist von der Auflösung alter Gewissheiten und der Suche nach neuen Orientierungsmarken. Sie gilt als eine der Protagonistinnen der jungen feministischen Bewegung Georgiens. Die Hauptfigur von Tandaschwilis Roman ist eine junge Frau namens Elene, die zum Opfer des tiefen Konflikts über gesellschaftliche und kulturelle Werte in Georgien wird. Elenes männlicher Gegenpart und Peiniger ist Mserosa. Der Abkömmling einer bereits zu Sowjetzeiten privilegierten Familie ist es gewohnt, sich das zu nehmen, was er möchte, Positionen, Geld, Macht - und Frauen, so Tamar Tandaschwili im Gespräch.
    "Nach dem Ende der Sowjetunion sind die alten Eliten im Sattel geblieben, sie haben die Macht und das Geld einfach nicht abgegeben. Sie konnten ins Ausland zum Studieren gehen, es waren die ersten Georgier, die westliche Bildung genossen. Zurück in Georgien versuchten sie dann, westliche Werte mit der patriarchalischen Tradition und ihrer Vorstellung von Männlichkeit in Einklang zu bringen. Die Figur Mserosa in meinem Roman ist ein Symbol für diese Klasse, die gerne modern wäre, aber innerlich komplett verrottet ist, genau wie die georgische Vorstellung von Männlichkeit."
    In ihrem Roman "Löwenzahnwirbelsturm in Orange schreibt Tamar Tandaschwili:
    "Mserosa hatte gerade sein erstes Soros-Diplom aus Ungarn mitgebracht, als er Elene Rewischwili kennenlernte. Ende der düsteren 90er-Jahre gab es sicher nur ein Dutzend Studenten, die die georgischen Grenzen überschritten hatten. Demzufolge wandelte sich Mserosa gleich zu Beginn des Semesters von einem Typen, der auf der Straße herumhing, zu einem Hoffnungsträger. Elene glich mit ihrer wachsfarbenen Haut und dem dunkelschwarzen Haar einer zarten Mamorstatue. Sie war unheimlich (bis zum Sinnesverlust) schön, fleißig und wohlerzogen. [...] Mserosa fragte sich nicht mehr, ob er der Begierde erlag, der Verliebtheit oder der Liebe. Ihm rutschte nur das Herz aus Angst fast in die Hose, dass dieser hellste Stern die Küche eines Anderen erleuchten würde. Mserosa versuchte sein Möglichstes, aber das brachte nichts. Elene kam nicht nur ihm, sondern auch keinem anderen Mann nahe."
    Morddrohungen gegen eine Romanautorin
    Als Mserosa erfährt, dass seine Angebetete mit Frauen verkehrt, fällt seine Fassade eines Verfechters von Demokratie und Menschenrechten. In schockierenden Szenen beschreibt Tamar Tandaschwili Mserosas Wandlung zu einer machistischen, gewalttätigen Bestie, die von den alten sowjetischen Eliten und der orthodoxen Kirche Georgiens gedeckt wird. Für ihre deutliche literarisch-politische Stellungnahme ist Tandashwili bei Erscheinen ihres Romans 2016 überschwänglich gelobt und heftig attackiert worden, wie sie erzählt:
    "Ich wusste natürlich, dass ich mit diesem Roman polarisieren werde. Meine Lektorin etwa hatte Angst, dass ihr Name im Buch erscheint, weil ich die orthodoxe Kirche kritisiere und sie Angst vor politischen Konsequenzen hatte. Und ich verstand das sehr gut! Für mich war das ein Zeichen dafür, dass meine Provokation funktionierte. Damals erhielt ich viele Nachrichten von jungen Frauen, die mir dafür dankten, dass ich in meinem Roman ihre eigene Geschichte erzählte und sie sich dadurch nicht mehr so isoliert fühlten. Andere wiederrum drohten mir mit dem Tode und schrieben, dass sie wüssten, wo ich wohne und wie sie an mich herankommen. Ich arbeitete damals nebenher als Beraterin einer Initiative für sexuelle Minderheiten und war Morddrohungen bereits gewohnt."
    Tamar Tandaschwili will provozieren und Tabus einreißen, aber vor allem Aufmerksamkeit verstärken für, wie sie sagt, die epidemische Verbreitung sexualisierter Gewalt.
    Eine Groteske auf die georgische Gesellschaft
    Weniger politisch aber dennoch äußerst eingängig beschäftigt sich auch die Humoristin und Autorin Tamri Pkhakadze mit den Umbrüchen des Geschlechterverhältnisses in Georgien. In ihrer Kurzgeschichte "Ein Mann Gottes" etwa irrt eine alleinstehende Frau bei dichtem Schneetreiben über den Handwerksmarkt Eliawa im Norden der Hauptstadt Tiflis.
    "Der Hof der Holzabteilung ist voller Männer – große, kleine, dicke, dünne, junge alte, rotgesichtige Trinker, grüngesichtige Raucher....Sogar der schwarze Hund, in dessen Augen immer noch ein, wenn auch hart strapaziertes, Vertrauen schimmert, ist männlich. Die ganze Situation ist männlich. Und da bin ich, die einzige Frau, unerwartet und ungebeten, und ich, die Frau will (ich schaue auf den Zettel): eine Mahagonileiste, zwei Meter lang und zwei Zentimeter breit. Aber in Wirklichkeit....In Wirklichkeit will ich natürlich etwas völlig anderes. Ich will während dieses abendlichen Schneefalls zu Hause sein und das Essen zubereiten – den ersten, den zweiten, den dritten Gang. Ich will immer wieder einen Blick auf die Wanduhr werfen und warten: auf den Sohn, der aus dem Institut kommt; auf die Tochter, die von der Schule kommt; dann will ich voller Ungeduld auf meinen Ehemann warten, der zum Eliawa-Basar gefahren ist, um ein paar Sachen zu besorgen. Aber....das Leben ist keine Schokoladentafel."
    Suche nach neuem Geschlechterverhältnis
    Zugleich grämt sich Pkhakadzes namenlose Protagonistin darüber, dass sie anders als in ihrem Wunschtraum in Wirklichkeit nie geheiratet hat, weder Dato mit der krummen Nase, noch Ramazi, der im Gefängnis saß, und auch nicht Lekso, der schon drei Ehefrauen hatte. Tamri Pkhakadzes Erzählungen tänzeln gekonnt zwischen schreiender Groteske und feiner Gesellschaftskritik. Der Dame auf der Suche nach der Mahagonileiste hilft schließlich der äußerst galante Nugzari, in dem sie einen "Mann Gottes" erkennt.
    "Nugzari habe ich wirklich auf dem Eliawa-Markt getroffen! Dieser Ort ist Gottes Zorn gegen die Frauen. Da sind Frauen ja noch besser im Krieg aufgehoben als auf diesem Markt! Das Leben der letzten dreißig Jahre hat das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in Georgien grob gemacht. Es fehlt an einer gewissen Hochachtung vor der Frau. In meiner Geschichte nimmt nur Nugzari diesen Umstand war und ist bereit, dieser Frau, die völlig verloren ist unter den Männern auf dem Markt, zu helfen. Dabei sind die georgischen Männer eigentlich durchaus galant. Aber der Bürgerkrieg in den 1990ern und der Krieg mit Russland 2008 hat sie hart gemacht."
    Der Kaukasus-Krieg, bei dem Russland auch Georgiens Hauptstadt bombardierte, steht mal mehr, mal weniger offen im Mittelpunkt von Tamri Pchakadze Geschichten. Das gilt auch für ihre preisgekrönte Erzählung "Gärtnern im Kriegsgebiet" über ein ungleiches Bruderpaar. Während Zaliko mangels beruflicher Perspektive samt Frau aus Georgien in die USA emigriert, verteidigt sein Bruder Robinzon ihren Garten starrköpfig gegen den Einmarsch der russischen Armee. Eine Don Quichotte-Geschichte, mit der Tamri Pchakadze zugleich über die Rolle des Individuums im Krieg räsoniert.
    Georgische Frauen im Krieg mit Russland
    "Die Erzählung "Gärtnern im Kriegsgebiet" habe ich auf dem Land bei meiner Mutter geschrieben, direkt an der Grenze zum von Russland okkupierten Teil Georgiens. Während ich mich um den Garten kümmerte, patrouillierte russisches Militär direkt vor meinen Augen. Das war der Beginn des Krieges. In dem Augenblick habe ich bereut, kein Mann zu sein, denn ich hätte ein Gewehr in die Hand genommen und wäre in den Krieg gezogen! Dann wurde mir bewusst, dass ich als Frau auch etwas tun kann, besonders als Schriftstellerin. Ich habe Worte, mit denen ich kämpfen kann! Wir haben in Georgien die Redewendung, dass man einen Menschen mit Worten töten kann."
    Wenn sie schreibt, habe sie kein Geschlecht, gibt Tamri Pchakadze zu Protokoll. Tatsächlich untersucht sie die wankenden Geschlechterrollen innerhalb der georgischen Gesellschaft und auch die Rolle der Frau im Krieg zwar kritisch, aber nie polarisierend. In der Geschichte "Krieg oder Frieden", die Pchakadze ausdrücklich "den Schriftstellerinnen" widmet, bittet eine junge Frau um Aufnahme in die Armee, wird aber höflichst abgelehnt, weil sie zu hübsch und außerdem Lyrikerin ist. In der Kurzgeschichte "Ich, die Schnecke" wagt eine Schnecke sich erstmals aus ihrem Haus und kehrt vor lauter Angst vor der Freiheit schleunigst wieder in ihr Heim zurück. Das kann man als Fabel auf den Freiheitskampf Georgiens oder der georgischen Frauen lesen. Tamri Pchakadze.
    "Die Freiheit ist etwas sehr Kompliziertes, das der Mensch nicht immer bewältigen kann. Freiheit kann eine Bürde sein, und deswegen ist es manchmal einfacher, mit einem Traum zu leben als in der Realität. Am Ende will die Schnecke wieder zurückkehren in ihr Haus. Dennoch: auf politischer Ebene ist die Freiheit für uns Georgier das höchste Gut. Wir haben nach der Unabhängigkeit 1991 oft unbesonnen und falsch gehandelt. Und deshalb stehen wir jetzt da, wo wir stehen. Aber ich werde nie aufhören, für unsere Freiheit zu kämpfen."
    "Der König" als rebellische Stimme Georgiens
    Die äußerst instabile politische und gesellschaftliche Situation nach 1991 stellt auch der Musiker, Künstler und Schriftsteller Irakli Charkviani in den Mittelpunkt. In seinem jetzt ins Deutsche übertragenen Roman "Dahinschwimmen" beschreibt der bereits 2006 verstorbene Autor die Perspektiv- und Orientierungslosigkeit der "Generation Gagarin", die den Weltraum-Pionier noch als Helden der Sowjetunion kennenlernte. Irakli Charkviani war der Enkel des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Georgiens und Sohn eines hochrangigen Diplomaten des Regimes. Zugleich wird er bis heute als wichtigste rebellische und systemkritische Stimme des Landes verehrt. "Der König", so Charkvianis Spitzname, schreibt in seinem autobiographisch geprägten Roman:
    "Auch mein Rufname König ist ein tragisches Zeichen dafür, dass dieses kleine Land nur an Könige glaubt, und falls die Demokratie zumindest eine Rolle als Make-Up übernimmt, ist es schon mal gut, denn die Amerikaner werden es nicht wollen, dass ihr ausgewählter Außenflügel der kaukasischen Demokratie sehr schlecht dasteht. Die Russen haben alles verloren – vom Einfluss bis hin zur Literatur, kurz gesagt, sogar das Gespräch über sie wird unser Buch langweilig machen."
    Literatur als Mittel der Selbstverortung
    Irakli Charkvianis "Dahinschschwimmen" ist der irrlichternde Gedankenstrom eines Drogenkonsumenten, der in Erinnerung schwelgt, dessen Jugend zerstört wurde durch die Behauptung einer Nachbarin, er sei homosexuell, und dessen Leben zerrissen ist zwischen seinem Status als öffentlicher Star, der chaotischen Orientierungslosigkeit seiner Heimat, einer gescheiterten Ehe und hochtrabenden Zukunftsplänen. Charkvianis Roman ist zugleich eine furiose surreale Erzählung über sein Alter Ego Rumi, einem "Zarathustra des 21. Jahrhunderts", dem Lenin im Traum aufträgt, als Auserwählter mit einem Flugzeugattentat die Umwertung aller Werte anzustoßen. Charkviani jongliert mit ineinander verschwimmenden Figuren, Erinnerungsfetzen, sarkastischen Überzeichnungen, traumgleich assoziativen Szenenabfolgen und unverhohlenen Attacken gegen brüchig gewordene Autoritäten.
    Die feministische Literatur von Tamar Tandaschwili, die feine Ironie in Tamri Pkchakadzes Kurzgeschichten über neue und alte Rollenmodelle und die schonungslosen autobiographischen Tiefenbohrungen des rebellischen Stars Irakli Charkviani belegen eindrucksvoll, welche konkrete Bedeutung die georgische Literatur bei der drängenden Selbstverortung des Landes und seiner Gesellschaft hat.
    Tamri Fkhakadze: "Gärtnern im Kriegsgebiet"
    aus dem Georgischen von Iunona Guruli
    Dagyeli Verlag, Berlin. 130 Seiten, 18 Euro.
    Tamar Tandaschwili: "Löwenzahnwirbelsturm in Orange"
    aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani
    Residenz Verlag, Salzburg. 136 Seiten, 18 Euro.

    Irakli Charkviani: "Dahinschwimmen. Aus dem Leben eines Königs"
    aus dem Georgischen von Iunona Guruli
    Dagyeli Verlag, Berlin. 179 Seiten, 19.90 Euro.