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Ehrlich erfunden

Felicitas Hoppe, Trägerin des Georg-Büchner-Preises 2012, erzählt in ihren Büchern mit unverwechselbarer, kecker und frischer Stimme vom Aufbrechen und Nie-Ankommen, vom Reisen und Sich-Verlieren. Ihr neues Buch "HOPPE" trägt die Gattungsbezeichnung Roman. Erzählt wird jedoch die Lebensgeschichte eines Menschen, der mit der Verfasserin den Namen teilt - und möglicherweise mehr.

Von Jörg Plath | 22.06.2012
    Felicitas Hoppe hat in ihrem neuen Buch alles anders gemacht. Sie hat all die Ritter und Märchengestalten, die ihr bisheriges Werk bevölkern, all die Paradiesbewohner und Seemannsgarnspinner, die kauzigen Kinder und seltsamen Eltern dieses Mal beiseitegelassen und sich entschlossen einer real existierenden Person zugewandt, die sie so gut kennt wie niemand sonst: sich selbst. Hoppe hat mit "HOPPE" eine Autobiografie verfasst. Sie kommt als Biografie einer gewissen Felicitas Hoppe daher, verfasst von einer Erzählerin, die ihren Namen – wenig erstaunlicherweise – mit den zwei kleinen Buchstaben "fh" abkürzt. Die Großbuchstaben im Titel "HOPPE" aber zeigen nicht nur Selbstbewusstsein, auch Distanz an.
    Warum nur hat die real existierende Person Felicitas Hoppe bis zu ihrem 51. Geburtstag gewartet, um "fh" das Leben von "HOPPE" aufschreiben zu lassen?

    "Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass ich doch 'HOPPE' als Ende einer Kette sehe und das Gefühl hatte, ich müsste mich durch allerlei andere Figuren durcharbeiten, um letzten Endes zu ihr zu kommen, und das hat dann einfach bis 50 oder 51 gedauert."

    Felicitas Hoppe hat in "HOPPE" alles so gemacht wie immer. Eine gewisse Felicitas Hoppe läuft wie ein Stehauf-Ritter durch das Buch. Ihre Rüstung ist ein Rucksack, gefüllt mit Eishockeyschläger, Taktstock und Lippenstift. Sie legt ihn nie ab, nicht einmal beim Eishockeyspiel oder Dirigieren, was beide Karrieren abrupt beendet. Sie absolviert allerlei Seereisen und einen Flug, gerät in überaus komische Situationen und wieder heraus und ist stets auf der Suche nach dem Paradies, meist in Übersee, von Kanada oder Australien aus gesehen. "HOPPE" ist, so kommentiert die Erzählerin "fh" mit einem der vielen Hoppe-Zitate, "ehrlich erfunden", mithin voller Slapstickszenen und kauziger Gestalten, allen voran – die Hauptperson Felicitas Hoppe. "HOPPE" ist ein pikaresker, ein Schelmenroman, er eifert dem Lieblingsbuch der Verfasserin nach, dem italienischen Kinderbuchklassiker "Pinocchio". Das ist sehr unterhaltsam, weil – bis auf wenige Stellen – das Erzähltempo hoch und die Zahl der skurrilen Einfälle groß ist. Mit ihnen verwandelt sich Hoppe selbst in eine literarische Figur Hoppescher Art, auch wenn oder vielmehr: gerade weil die Biografin "fh" stets sofort dagegenhält und ihr Zitat aus einem der zahlreichen apokryphen frühen Hoppe-Werke umstandslos abqualifiziert.

    Und die Fakten besagen: Alles, was über die Hamelner Kindheit der Autorin als drittes von fünf Geschwistern und den Kasperletheater spielenden Vater bekannt ist, ist nichts als herbeifantasiert. Jahrzehntelang verfasst Hoppe Briefe und Postkarten an eine nicht existierende Familie in Hameln, während sie an der Seite eines Patentanwalts und ohne Mutter in Übersee aufwächst. In Kanada freundet sie sich mit der Nachbarsfamilie Gretzky an, deren Sohn Wayne, das berühmte Eishockeygenie, ihre Begeisterung für den Puck weckt. Dann reisen Vater und Tochter per Schiff nach Australien, wo sich die einsame, stets schreibende Hoppe in einer Erzählung, dem "Buch L", einen nach ihr suchenden Besucher herbeischreibt. Es ist der erfundene Hamelner Bruder. Er nimmt, so heißt es in "Buch L", an einer Weihnachtsfeier in der Hafenpension "Grant's Children" teil, die die schöne Helena führt.

    "Am Morgen danach", so der Hoppetext weiter,

    "wusste die schöne Helena so gut wie alles über den Deutschen: wie schlecht er schlief, dass er im Halbschlaf die Namen meiner Geschwister aufsagte und dass er, obwohl sein Pass nichts verriet, tatsächlich mein großer Bruder war, nicht gekommen, um mich zu suchen, sondern um mich zu finden und für immer nach Hameln zurückzuholen. Damit hatte natürlich niemand gerechnet, am wenigsten ich. Weshalb mein Bruder am nächsten Morgen verloren im Frühstücksraum saß und vergeblich darauf wartete, dass ich die Treppe herunterkäme, um ihm stürmisch in die Arme zu laufen und ihn endlich, von Angesicht zu Angesicht, zu fragen, wie es unseren Schwestern geht und unserem kleinen Bruder. Ob meine Mutter immer noch Sahne schlägt und mein Vater immer noch wagt zu behaupten, dass es das Krokodil gar nicht gibt. Und ob sich das Miramare immer noch, spätestens im September, in einen Ausstellungsraum für Pelze verwandelt, wenn die Italiener kurzfristig nach Süden verschwinden."

    In Australien nimmt Hoppe ein Kompositionsstudium auf, heiratet ohne weitere Folgen, studiert dann in Oregon, USA, die deutsche Literatur und unterrichtet jene Sprache, die sie bisher nicht gesprochen, nur an die erfundenen Geschwister und Eltern in Hameln geschrieben hatte. Nach dem Examen verschwindet sie spurlos, und es ist allein der Hartnäckigkeit eines Freundes und Universitätskollegen zu verdanken, weiß die Biografin fh, dass der Rowohlt-Verlag acht Jahre später ihre hinterlassenen Texte veröffentlicht. Der Band "Picknick der Friseure" ist, so heißt es unmissverständlich, das Debüt der "als drittes von fünf Kindern in Hameln an der Weser" "geborenen deutschen Autorin Felicitas Hoppe". Das Debüt gebiert die Schriftstellerin, und die als Biografie getarnte Autobiografie kommt an ihr Ende.

    "Für mich war eine Geschichte ganz entscheidend oder entschieden zu Ende erzählt, nämlich die, wie wird Hoppe tatsächlich Schriftstellerin. Also im Grunde genommen wird die Geschichte auf das reduziert, was man in einem meiner Lieblingsbücher von Alexander Herzen bezeichnen würde als Kindheit – das heißt: 'Kindheit, Jugend und Verbannung'. Und das Kapitel der Verbannung fehlt hier, also es ist wirklich Kindheit, Jugend oder frühes Erwachsenenalter dann natürlich, sie ist ja dann 35, und da fällt der Startschuss zu einem Leben, das gänzlich anders ist und was dann für mich auch nicht mehr neu zu erfinden ist. Denn in dem Moment, wo Felicitas als veröffentlichende Schriftstellerin auftritt, ist sie diejenige, die sie ist, und das soll auch so bleiben."

    "HOPPE" ist Hoppe hoch zwei. Die Hoppe-Standards Aufbruch und Reise sind hier zur Lebensreise gewendet, das literarische Motiv des verlorenen Sohns für Tochter und Vater reformuliert, alle Figuren sind Typen, der Ton ist hoppisch legendär, also frisch, rhythmisch, apodiktisch, hakenschlagend. Hoppe ist eine der letzten Erzählerinnen, die nicht nur ältere literarische Formen wie Märchen, Sage, Legende wiederbeleben, sondern auch vorrangig rhetorischen Figuren folgen.

    All das muss man zum Glück nicht wissen, man bekommt es auf die Nase gebunden: Denn "fh" zitiert ausgiebig aus bisher unbekannten und vermutlich sämtlich "ehrlich erfundenen" Schriften Hoppes, als deren erste sie "Häsi, das Hasenkind" nennt. Zu Wort kommen neben Freunden auch Feinde, Kritiker und Literaturwissenschaftler etwa, die in Hoppes Werk mal säuerlich, mal aggressiv Charaktere, die Wirklichkeit und einiges mehr vermissen. Auch die Biografin fh sagt dem Objekt ihrer Aufmerksamkeit ohne Zurückhaltung Aufschneiderei, Prahlhanserei, "Selbstrettungsprosa" nach. Was immer an Einwänden gegen Felicitas Hoppes Erzählweise in "Pigafetta", "Paradiese, Übersee" oder "Johanna" vorgebracht werden könnte und auch schon vorgebracht worden ist, wird – nicht selten giftiger und unmissverständlicher formuliert – Teil der Biografie. "HOPPE" saugt alles auf, bis es nichts mehr außer "HOPPE" gibt.

    Solcher Totalitätsanspruch ruft natürlich Widerspruch hervor, zuallererst bei – Felicitas Hoppe. Und so richtet sie in diesem geschlossenen literarischen Kosmos dem Widerstrebenden, Nichtzuwissenden, dem Inkommensurablen einen Platz ein. Nennen wir ihn das Herrgottseckle. Dass diese Lücke in "HOPPE" auf den Namen "Stille" hört, passt ebenso gut. Denn manchmal, wenn auch sehr selten, verstummt selbst eine Hoppe.

    "Still wie die Stille, vor der sich die Biografen so sehr fürchten, weil es in ihr nichts zu recherchieren gibt. Das betrifft ja das menschliche Leben ganz allgemein, also dass es Momente gibt in jedem Leben, die wir nicht dingfest machen können, dass es da einen Moment gibt, von – Leere möchte ich es gar nicht nennen, Stille ist ja keine Leere, sondern es gibt einen Moment des Verstummens. Man sagt, hier lassen sich keine gültigen Aussagen machen, vielleicht auch deshalb, weil in diesen Momenten die entscheidenden Dinge passieren, die sich eben nicht in Worte fassen lassen. Das hat was Bedrohliches, zugleich aber auch was unglaublich Beruhigendes.".

    Felicitas Hoppe, HOPPE.
    Roman. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2012. 330 Seiten, 19,99 Euro