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Ein Abenteuerroman im besten Sinne

Gekämpft, gestorben, geliebt und gefeiert: Während "St. Ives" im Ausland seit Langem als Klassiker gilt, liegt der Roman erst jetzt auf Deutsch vor. Robert Louis Stevenson stellt in diesem lässig komponierten Spätwerk seine literarische Bravour noch einmal unter Beweis.

Von Maike Albath | 18.09.2011
    Robert Louis Stevenson lebte längst auf der Südseeinsel Samoa, als er 1892 begann, eine Geschichte über einen französischen Adligen zu erfinden, die ausgerechnet seine alte Heimat Schottland herauf beschwor. Vicomte Anne de Kéroual de Saint-Yves nannte er seinen Helden. Es handelte sich um einen großherzigen, mutigen und ein wenig vorwitzigen jungen Mann, der seine Familie während der Revolution auf dem Schafott hatte sterben sehen und in die Dienste Napoleons eingetreten war. Napoleon ist nun besiegt, und Saint-Yves sitzt als Kriegsgefangener in der Festung von Edinburgh ein. Für den hitzigen Franzosen ist das Leben auf der düsteren Felsenburg eher eintönig, obwohl er wegen seiner perfekten Englischkenntnisse bevorzugt behandelt wird. Zur Zerstreuung veranstalten die Häftlinge regelmäßig einen kleinen Markt, auf dem sie den Bewohnern der Stadt ihr Kunsthandwerk anbieten. Eine junge Schottin hat es Saint-Yves besonders angetan.

    "Ich gab mich gerade meinem Verdruss über den scheußlichen Tag hin, als sie erschien. Ihr Haar wehte mit wechselndem Farbenspiel im Wind, ihr Kleid modellierte ihren Körper wie eine Skulptur, die Enden ihres Schultertuchs flatterten um ihre Ohren und wurden mit unnachahmlicher Gewandtheit wieder eingefangen. Haben Sie schon einmal einen Teich an einem böigen Tag gesehen, wie er plötzlich in Wallung gerät und sprüht, als wäre er ein lebendes Wesen? So glühte ihr Gesicht in diesem Augenblick von Leben und Farbe. Und wie sie da so stand, etwas nach vorn geneigt, die Lippen geöffnet, ein göttlicher Schauder in den Augen, hätte ich ihr applaudieren und als Tochter der Lüfte zujubeln mögen. Sie näherte sich dem Teil des Hofes, wo ich hockte und meine Waren feilbot, als ihrer Hand das Taschentuch entglitt und zu Boden fiel. Im Nu hatte der Wind es ergriffen und in meine Nähe geweht. Ich sprang auf, vergessen mein senffarbener Aufzug, vergessen der einfache Soldat und das Salutieren. Mit einer tiefen Verbeugung reichte ich ihr das Stück Musselin. 'Madam', sagte ich, 'Ihr Taschentuch. Der Wind hat es mir zugetragen.'"

    Flora heißt die hübsche Neunzehnjährige, meistens taucht sie im Schlepptau ihrer goldbebrillten Tante auf, einer sauertöpfischen, alten Dame, oder wird von ihrem Bruder begleitet, der eine große Bewunderung für alles Soldatische hegt. Saint-Yves lässt seinen französischen Charme spielen, überreicht der jungen Frau bei der nächsten Gelegenheit einen selbst geschnitzten Löwen und wickelt sie mit seinen ausgesuchten Manieren um den kleinen Finger. Sogar den Bruder weiß er zu bezirzen. Kurz darauf wagt ein ungehobelter Mithäftling, das Mädchen zu beleidigen. Als Adliger, der etwas auf sich hält, fordert Saint-Yves den Missetäter zum Duell – und besiegt den alten Haudegen in einem heimlich ausgetragenen Kampf mit offenen Scherenblättern.

    Sein Gegner, der sich im Moment des Todes ebenfalls als edelmütig entpuppt, nimmt alle Schuld auf sich: Wie Nebukadnezar habe er sich aus Schmach in seine Waffe stürzen wollen. Der Sieger heult wie ein Schlosshund und bereut seine Tat. Ein englischer Major, dem Saint-Yves regelmäßig Französischunterricht erteilt, errät den Grund des Duells und macht seinem Lehrer ein Kompliment für dessen guten Geschmack. Er bemüht sich sogar, den zuständigen Untersuchungsrichter zu beruhigen. Genau in diesen Tagen wird ein Londoner Rechtsanwalt bei Saint-Yves vorstellig. Sein Großonkel, der schon während der Revolution nach England geflohen war und seine Reichtümer in Sicherheit gebracht hatte, wolle ihn zu seinem Erben machen, teilt ihm der Anwalt mit, aber er müsse sich auf schnellstem Wege nach Dunstable in England begeben. Der Onkel liege im Sterben, außerdem gelte es, Saint-Yves' Cousin Alain auszustechen, einen verschwenderischen Lebemann.

    Seit Längerem gab es unter den Gefangenen einen Fluchtplan, und nun will man den Ausbruch wagen. In einer halsbrecherischen Nacht- und Nebelaktion seilen sich die Männer an der nackten Felswand der Festung ab. Saint-Yves sucht Zuflucht bei den einzigen Menschen, deren Sympathie er sich gewiss ist, und spürt Flora und ihren Bruder auf. Die Geschwister verstecken ihn im Hühnerstall. Als ihre Tante sich abends zu Bett gelegt hat, holen sie den Freund ins Haus. Doch plötzlich steht die alte Dame mit Nachthaube in der Tür.

    "Sie starrte mich unverändert durch ihre Brille an und gab einen gebieterischen Grunzlaut von sich. Dann wandte sie sich an ihre Nichte: 'Flora, wie kommt dieser Mann hierher?' Die Sünder ließen einen Wechselgesang von Erklärungen ertönen, der schließlich in bedrücktem Schweigen endete. 'Ihr hättet doch wohl mindestens eurer Tante Bescheid sagen können', schnaubte sie. 'Madam', warf ich dazwischen, 'sie wollten es gerade tun. Es ist meine Schuld, dass es noch nicht geschehen ist. Aber ich bat darum, Rücksicht auf ihren Schlaf zu nehmen und mich Ihnen erst morgen vorzustellen.' Die alte Dame betrachtete mich mit unverhohlenem Unglauben, worauf mir nichts anderes einfiel, als mich tief und, wie ich glaube, elegant zu verbeugen. 'Französische Häftlinge sind schön und gut dort, wo sie hingehören', sagte sie, 'aber ich sehe nicht ein, warum sie etwas in meinem Speisezimmer verloren haben.' 'Madam', sagte ich, 'ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, aber abgesehen von der Festung von Edinburgh kenne ich keinen Ort, dem ich lieber fern wäre.' Hier, so glaubte ich zu meiner Erleichterung bemerken zu können, stahl sich der Anflug eines Lächelns in ihre eisernen Gesichtszüge. "Und wenn die Frage erlaubt ist, wie nennen Sie sich denn?', fragte sie. 'Vicomte Anne de Saint-Yves, zu Diensten', sagte ich. 'Missjöh le Wiekommt', sagte sie, 'ich fürchte, Sie erweisen uns einfachen Leuten zu viel Ehre.'"

    Obwohl sie so garstig tut, besitzt die alte Tante einen gesunden Menschenverstand und schickt den flüchtigen Soldaten im Morgengrauen mit ihren Schäfern Richtung Süden. Schon auf den ersten hundert Seiten wartet Stevenson mit so vielen Überraschungscoups auf, dass einem der Atem stockt. Wie auf einer rasanten Kutschfahrt über Stock und Steine treibt der Schriftsteller die Handlung voran, schürzt Knoten, spinnt Intrigen, schlägt Haken um Haken, lässt auf halsbrecherische Verfolgungsjagden mit Slapstickeinlagen gemächliche Wanderungen durch schottische Moore folgen. Es wimmelt von sympathischen Trunkenbolden und finsteren Halunken, die Saint-Yves nach dem Leben trachten, aber im letzten Moment taucht immer ein rettender Helfer auf.

    Die Angelegenheit mit dem Duell ist noch längst nicht ausgestanden: Der Vicomte, zu seinem siechenden Onkel nach England unterwegs, wird des Mordes bezichtigt und sogar steckbrieflich gesucht. Es geht also zur Sache in Stevensons Roman, es wird gekämpft, gestritten, gestorben, geliebt und gefeiert. Begeistert folgt man den Abenteuern des kecken Flüchtlings, der trotz widrigster Umstände nie den Mut verliert. Saint-Yves ist deshalb eine so fesselnde Figur, weil ihn Stevenson als wenig verlässlichen Icherzähler in Aktion treten lässt und trotz aller bestandener Bewährungsproben hinterrücks ironisch demontiert.

    Es handelt sich also gerade nicht um einen jener langweiligen, perfekten Helden, denen nie ein Fehler unterläuft, im Gegenteil. Saint-Yves ist eher ein Hochstapler und liebenswerter Feuerkopf, der alles aus dem Weg räumt, was ihm in die Quere kommt, seine Kräfte nicht richtig einschätzen kann, mit einem Stock einem feindseligen Schäfer eins über den Kopf zieht, sodass dieser fast sein Leben lassen muss. Außerdem neigt er zur Eitelkeit und hat er eine Schwäche für schöne Kleider. Zurückgekehrt nach Edinburgh, wappnet sich der Vicomte für einen Ball als gelte es, in die Schlacht zu ziehen.

    "Um sechs Uhr zog ich mich zum Ankleiden zurück. Ich trat aus meinem Zimmer im Bewusstsein eines gut sitzenden Rocks und ansehnlicher Beine. Die würdevolle Schlichtheit meiner tournure stand dem Sprössling eines exilierten Hauses gut an, sie wurde aufgelockert von der Andeutung dandyhafter Rüschen am Hemd und spielte ins Zierliche hinüber durch die nagelneue Weste mit den Vergissmeinnicht (für Treue) und den rosa Korallenknöpfen (für Hoffnung). Zufrieden mit der Wirkung, suchte ich meinen Diener Mr. Rowley von der traurigen Gestalt in seinem Zimmer auf. Sein Gesicht war nicht mehr ganz so gelb, aber immer noch zerknirscht, und er lauschte Mrs. McRankine, die mit einem aufgeschlagenen Buch an seinem Bett saß und ihn mit einschlägigen Mahnungen aus den Sprüchen Salomonis bearbeitete. Sein Gesicht hellte sich auf. 'Hej, Mr. Anne, Sie sehen umwerfend aus!' Mrs. McRankine schloss das Buch und musterte mich mit herbem Beifall. 'Sie tragen es mit Haltung, würde ich sagen.'

    Der adlige Name des Helden auch gab dem Roman den Titel: St. Ives. Mit großer Nonchalance stellt Robert Louis Stevenson in diesem lässig komponierten Spätwerk seine literarische Bravour unter Beweis. Man kann sich kaum eine vergnüglichere Lektüre vorstellen. Während "St. Ives" in England, Frankreich und Italien seit Langem als Klassiker gilt, lag der Roman auf Deutsch bisher gar nicht vor. Der Turiner Schriftsteller und große Modernisierer der italienischen Literatur Cesare Pavese stellte 1950 fest, dass Stevenson sowohl den Naturalismus als auch den Ästhetizismus überwunden habe. Zwar sei er an Dumas, Flaubert und Maupassant geschult und schildere gesellschaftliche Zustände, koppele sie aber nicht von sinnlichen Eindrücken ab. Auf diese Weise führe Stevenson die stilistischen Errungenschaften der französischen Naturalisten in die englische Literatur ein und verleihe ihnen zugleich einen exotischen Zauber; vor allem sei er ein perfekter Handwerker, der sprachlich mit größter Präzision arbeite.

    Pavese hat recht: Stevensons Syntax ist äußerst geschmeidig und verrät sein Gespür für Rhythmus und Akzente. Er bleibt auch im Überschwang stoisch und bricht romantische Anklänge mit subtiler Ironie. Die Handlung von "St. Ives" mit all ihren Schleifen, Verzögerungen und überraschenden Wendungen gerät zwar manchmal in der Nähe einer Räuberpistole, aber das Personal mit seinen Haupt- und Nebenfiguren bietet ein mitreißendes Gesellschaftspanorama. Schon nach wenigen Seiten verfällt man, genau wie Flora, dem Helden Saint-Yves – so berückend dreist und aufrichtig ist dieser Mann.

    Ein bisschen hat sich Stevenson in Saint-Yves auch selbst porträtiert. Denn dem Schriftsteller, der als Sohn eines wohlhabenden Leuchtturmingenieurs aus Prestigegründen zum Jurastudium gezwungen war, gelang es, seine Professoren mit Charme in die Defensive zu bringen. Als er bei einer Prüfung auf keine der Fragen, die wortwörtlich im Lehrbuch standen, eine Antwort wusste, entgegnete er, niemand könne von ihm verlangen, ein so schlechtes Buch zu lesen. Obwohl er kaum je einen Gesetzestext aufschlug, hatte er am Ende ein schottisches Anwaltspatent in der Tasche. Der hochstaplerische Charakterzug von Saint-Yves war ihm also wohl vertraut.

    In Intrigen und Erbschaftszwist kannte sich Stevenson ebenfalls bestens aus, denn ausgerechnet sein bewunderter älterer Cousin Alan, ein Maler und geachteter Kunstkritiker, mit dem der Schriftsteller in seiner Jugend innig verbunden war, zettelte nach dem großen Erfolg von Stevensons Abenteuerroman "Die Schatzinsel" 1883 eine üble Hetzkampagne gegen ihn an und zog etliche gemeinsame Freunde auf seine Seite.

    Für Irritation sorgte Stevensons große Hartnäckigkeit in Liebesdingen, eine Eigenschaft, die er seinem Helden Saint-Yves ebenfalls auf den Leib schrieb. Denn Stevenson hatte sich in die zehn Jahre ältere, verheiratete Bohemiendame Fanny Osbourne verliebt, die sich erst nach großen Gewissensqualen und langwierigem Hin und Her scheiden ließ – am Ende wurde sie mit Stevenson getraut, der auch die Kinder Lloyd und Belle in seinen Haushalt mit aufnahm. Unter den Frauenfiguren in seinem Spätwerk beeindruckt weniger die sanfte, ein wenig blasse Flora als vielmehr die alte Tante, die zunächst wie ein Drachen wirkt, dann aber klug die Fäden zieht. Ein weiterer weiblicher Besen taucht auf, als Saint-Yves nach dem hochdramatischen Antrittsbesuch im Hause seines Onkels, bei dem der verlotterte Cousin enterbt wird, leichtsinnigerweise nach Edinburgh zurückkehrt. Das ganze Land ist ihm auf den Fersen, aber er hat nur Flora im Kopf. In Edinburgh nimmt er Quartier bei der schon erwähnten vertrockneten Witwe McRankine, die vor allem mit dem Besuch von Gottesdiensten beschäftigt ist. Als hartgesottener Charmeur weiß Saint-Yves auch diese Dame für sich zu gewinnen. Mit zärtlichem Humor schildert Stevenson, wie Saint-Yves Mrs. McRankine in die Kirche begleitet und ohne mit der Wimper zu zucken gleich mehrere Predigten über sich ergehen lässt.

    Wie Sancho Pansa seinem Don Quichotte auf Schritt und Tritt folgt, hat auch Saint-Yves einen getreuen Diener an seiner Seite, um den man ihn sofort beneidet. Einen gewissen Mr. Rowley, sechzehn Jahre alt, sommersprossig, fröhlich, geschwätzig und seinem Herren treu ergeben. Als Beschützer taugt er allerdings nicht sonderlich, denn als Saint-Yves ein Spitzel nachstellt, versagen seine Geisteskräfte.

    "'Wie sieht der Mann eigentlich aus, Rowley?' fragte ich, während ich mich ankleidete. 'Wie der Mann aussieht?' wiederholte Rowley. 'Na ja, ich weiß nicht genau, wie Sie ihn beschreiben würden, Mr. Anne. Er ist jedenfalls keine Schönheit.' 'Ist er groß?' 'Groß? Na ja, nein, groß würde ich nicht sagen, Mr. Anne.' 'Gut, ist er vielleicht klein?' 'Klein? Na ja, ich glaube nicht, dass ich klein sagen würde. Nein, nicht sonderlich klein, Sir.' 'Dann, nehme ich an, muss er etwa mittelgroß gewesen sein?' 'Ja, das könnte man sagen, Sir, aber nicht auffallend.' Ich unterdrückte einen Fluch. 'Ist er glatt rasiert?', versuchte ich es erneut. 'Glatt rasiert?', wiederholte er mit derselben beflissenen Offenheit. 'Zum Donnerwetter, Mann, wiederholen Sie nicht immerzu meine Worte wie ein Papagei!', rief ich. 'Sagen Sie mir, wie der Mann aussah. Es ist sehr wichtig, dass ich ihn erkennen kann.' 'Ich versuche es ja, Mr. Anne. Aber glatt rasiert? Ich habe da kein klares Bild vor Augen. Es kommt mir teilweise so vor, dass er's war, aber dann habe ich das Gefühl, das er's nicht war. Nein, es würde mich nicht wundern, wenn Sie mir sagen würden, dass er nen Backenbart hatte.' 'War sein Gesicht rot?', brüllte ich mit Betonung jeder einzelnen Silbe. 'Ich finde nicht, dass Sie deswegen böse mit mir werden müssen, Mr. Anne!', sagte er. 'Ich sage Ihnen jedes Fitzelchen, das ich gesehen habe! Rotgesichtig? Ach nein, nicht so, dass Sie es erwähnenswert finden würden.'"

    Stevenson liefert wunderbare Miniaturen, Porträts und Milieustudien, schildert schottische Eigenarten wie den militanten Puritanismus oder die sogenannte "Universität von Cramond", eine Gemeinschaft von gelehrten Vieltrinkern. Effektvoll verlangsamt wird das Geprassel an Abenteuern durch suggestive Landschaftsbilder. Dass der Roman nichts von seiner Frische verloren hat, liegt vor allem an der Sprache. Stevenson ist ein großer Stilist, und seine Wirkung im Deutschen ist allein seinem Übersetzer und Herausgeber Andreas Nohl zu verdanken. Nohl bildet Stevensons' vibrierende Ironie wunderbar nach, versteht sich auf die verschiedenen Stillagen und wartet mit einem reichhaltigen Vokabular auf.

    Schon in der Neuübersetzung von Mark Twains "Tom Sawyer" hatte Nohl seine Könnerschaft unter Beweis gestellt, und Stevenson verleiht er eine ebenso charakteristische Stimme. Sein informatives Nachwort versorgt den Leser mit Details zur Entstehungsgeschichte des Romans, die mehr als kurios sind. Denn Stevenson, der seit seiner Jugend unter einer schwachen Konstitution litt und aus gesundheitlichen Gründen 1890 nach Samoa übergesiedelt war, diktierte seiner Stieftochter Belle Zeile um Zeile und wechselte je nach Laune zwischen zwei Romanen hin und her. Neben "St. Ives" stand "Die Herren von Hermiston" auf dem Programm. Wegen einer Reise nach Australien unterbrach Stevenson das Diktat.

    Nach seiner Rückkehr herrschte Krieg auf Samoa. Der Schriftsteller bemühte sich um Vermittlung und vertrat eine äußerst fortschrittliche politische Position, die den Ureinwohnern der Insel zugutegekommen wäre. Statt ihre Energien für Kriegsführung zu verschwenden, sollten die Häuptlinge lieber Kakao anbauen, schlug Stevenson vor, und investierte selbst in erste Maschinen. Aber die weißen Kolonialherren schürten die Auseinandersetzungen, weil so der Wert ihrer Güter stieg. Eine Kampagne gegen Stevenson war die Folge.

    Ernüchtert verlagerte sich Stevenson wieder auf das Schreiben beziehungsweise Diktieren. Dreißig der geplanten sechsunddreißig Kapitel von "St. Ives" waren fertig, und eine Skizze der letzten Kapitel lag vor. Stevensons Frau Fanny berichtet, wie ihr Mann immer wieder von seiner Arbeit abgehalten wurde. Verschiedene Parteien suchten Zuflucht auf dem Anwesen der Familie, Häuptlinge fragten um Rat. Kanonendonner war das Hintergrundgeräusch der Niederschrift von "St. Ives", und oft ritt Stevenson durch den Urwald, um Verwundete zu versorgen. Mitten in der neuen Geschäftigkeit starb er 1894 mit nur vierundvierzig Jahren.

    Fanny und Belle Stevenson gewannen den Schriftsteller Arthur Quiller-Couch für die Beendigung des Buches, und so kommt es, dass wir "St. Ives" heute in einer Fassung lesen, deren Schluss zwar von Stevenson erdacht, aber von Quiller-Couch vollendet wurde. Quiller-Couch hat ganze Arbeit geleistet, denn wenn es nicht vermerkt wäre, würde einem der Wechsel der Autorschaft kaum auffallen. Das Ende entspricht dem Charakter des Franzosen, wie Stevenson ihn erdacht hatte: Kein Hindernis kann die Liebe zu Flora brechen. Es war höchste Zeit, auch auf Deutsch die Bekanntschaft mit dem ungestümen Vicomte Saint-Yves zu machen.

    Robert Louis Stevenson: "St. Ives". Roman.
    Aus dem Englischen von Andreas Nohl.
    Carl Hanser Verlag München 2011, 520 Seiten, 27, 90 Euro.