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Ein Bestiarium aus Diamantenjägern, Rüstungsexporteuren und Reisegruppen

Kimberlit ist ein diamantführendes Gestein, was ihm eine ökonomische und politische Bedeutung einbringt. Das wiederum sind Dinge, die den Theaterregisseur und -autor Kevin Rittberger sehr interessieren. Fast alle verschachtelten szenischen Bilder in dem Stück Kimberlit haben einen doppelten Boden.

Von Cornelie Ueding | 02.02.2013
    Neun mobile Spielinseln in Halle 1 des Frankfurter Kommunikationslabors, manche mit Deckel, viele voller Sand. Wüstensand. Grabessand. Regisseur Samuel Weiss macht aus Kevin Rittbergers ambitioniertem, vor fantastischen Zusammenfügungen strotzendem - und beim Lesen eher kryptischen - Bestiarium überhaupt erst ein Bühnenstück. Er zeigt wohldosierte Grenzüberschreitungen im Zukunftslaboratorium Theater.

    Alles scheint möglich im Zeitalter der rapiden Globalisierung. Auch das Großprojekt eines Jagdschlosses für einen Beduinenfürsten im absoluten Nichts der marokkanischen Wüste – in einer Kiste als Modell zu besichtigen. Erbaut aus Wüstensand. Eine instabile Idylle. Schwärmt doch in dieser szenischen Geisterbahnfahrt durch Geschichten wie aus 1001 Nacht sogar eine Art Jagd-Zeremonienmeister in grotesker Klimbim-Manier von Falkenjagdfesten - mit beinahe tödlichem Ausgang.

    Fast alle verschachtelten szenischen Bilder haben einen doppelten Boden. Es ist Sand im Getriebe der schönen neuen Welt des Fortschritts. Deren luxusabgewandte Seite: stillgestellte Lemuren mit schlecht sitzenden Prothesen, irgendwo in einem deutschen Provinzaltenheim, die an fadem Tee und löchrigen Erinnerungen nuckeln und buchstäblich in der Scheiße sitzen.

    Es ist, als ob sich der Autor vorgenommen hätte, das Rätsel zu lösen, wie beide Lebenswelten zusammenkommen: Falkenjagd und Pflegedienst, Diamanten und Demenz. Seine Antwort ist überraschend, möglicherweise nicht ganz stichhaltig, aber nicht ohne Witz: Es ist die Geschichte. Einer der dahinvegetierenden Insassen des Pflegeheims, zu Beginn nur ein erbarmungswürdiges Bündel Mensch auf dem Sterbebett, wird sich im Verlauf der rapide voranzuckenden, commedia dell'arte–artig rasanten Bilderfolge nicht nur unvermutet vital erweisen, sondern am Ende gar als rabiater Nazi mit einer alles andere als unverfänglichen Vorgeschichte.

    Auch er war einst Söldner und maître de plaisir in marokkanischen "Hofdiensten" und Ausbilder des unbezahlbaren Wunderfalken, der dem Scheich jetzt abhandengekommen ist. In dieser Situation gibt es für Earl, so etwas wie ein schnoddriger Enkel des Greises, nur eines: Er schnappt sich den Alten und transportiert ihn mitsamt der allerletzten Pflegekraft des maroden Heims im wackligen Chevy in die Wüste.

    Für wenige Augenblicke stellen sich in halsbrecherischem Tempo Bonny-und-Clyde - Roadmovie-Impressionen ein: am Steuer der kokainbeflügelte Enkel, die plötzlich Kalaschnikow-schwenkende Pflegekraft, der röchelnde Opa auf dem Rücksitz.

    Podestwechsel. Unvermittelt mutiert der Moribunde, reanimiert, zu alter Größe und schwadroniert in schauerlicher Komik, hochaufgerichtet, als bellender Duce-Verschnitt von Härte, Untermenschentum und Sieg.

    Und plötzlich ist er da, der gesuchte Bezug zwischen großem Geld und Elend, globalem Rausch und clash of cultures, freigelegt wie ein aus dem Wüstensand gescharrter Totenkopf.

    Im Windschatten der Moderne schwanken die Gespenster der totalitären Vergangenheit. Unerkannt, wie Sand an den Schuhsohlen, werden sie über alle Grenzen mitgeschleppt.

    Dass diese Einsicht unabweisbar ist und doch ohne Zeigefinger auskommt, auch nicht mit moralisierendem Gestus vorgetragen wird, verdankt sich der Regie- und Schauspielkunst von Samuel Weiss, der bei der Frankfurter Uraufführung sogar kurzfristig für viele kleine Rollen einspringen musste. Und seinen beiden Schauspielern, der phänomenalen Lisa Stiegler und Vincent Glander, virtuosen Komikern und Menschendarstellern.

    Am Ende beherrscht eine starre, schwarze Gestalt mit breit grinsendem, Diamanten besetzten Totenschädel den Raum: streng wie ein Naturgesetz, zugleich spielerisch leicht und bildhaft fassbar materialisiert sich der Bezug zum Titel von Kevin Rittbergers Stück Kimberlit. Der dunkle Stein zerspringt in der Kälte von Laborbedingungen. Asche, Schlacke und Diamanten kommen zum Vorschein – alles zusammen bildet die Wirklichkeit wie Wunde und Schorf, Biss und Narbe.