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Ein Bett aus Schnee

Ein halbes Jahr raus, ein halbes Jahr im Ausland leben. Alles hinter sich lassen, die Freunde, die vertraute Umgebung und die Allgegenwärtigkeit der eigenen Sprache - um nur noch intensiver mit ihr zu arbeiten, um endlich das Buch zu schreiben, das es im Kopf schon lange gibt.

Elke Biesel | 16.05.2003
    Roswitha Haring hat es getan. Sie zog von Köln ins englische Liverpool und schrieb dort nach mehreren Kurzgeschichten ihr erstes längeres Stück, die Novelle "Ein Bett aus Schnee". Liverpool sei im Nachhinein betrachtet eine gute Wahl gewesen, sagt die Autorin. Nicht nur weil sie sich in den blühenden Parks vom Schreiben erholen konnte und die Menschen sie so selbstverständlich aufnahmen, sondern auch weil sich eine unerwartete Parallele zu ihrem Buch ergab.

    Ich merkte mit der Zeit, dass auch Liverpool sehr viel mit seiner Vergangenheit kämpft. Liverpool hatte einfach viel bessere Zeiten bis zur Erfindung des Flugzeugs, die ganzen Industrien hingen alle mit der Schifffahrt zusammen und die sind alle eingegangen. Einfach dieser Prozess, was man mit der Vergangenheit macht, wie man damit heute umgeht, das habe ich in der Stadt so beobachtet.

    Für die Erzählerin in Harings Novelle, ein junges Mädchen an der Schwelle zur Pubertät, ist die Vergangenheit eine zähe, schwere Wolke, die ihre Gegenwart verdunkelt. Warum lastet ein Schweigen auf ihrer Familie? Warum gibt es keine lustigen Treffen mehr mit den Verwandten? Irgendetwas Schlimmes ist passiert, aber niemand spricht mit ihr, dem Nesthäkchen, darüber. Und dann kommt der Winterurlaub bei Onkel und Tante. Es sollen tolle Ferien werden: Ferien von Zuhause, vom Wohnzimmer der Eltern, vom Geruch des Essens, das die Mutter kocht und dem Leberkäse, der "in der Plastedose klebt und riecht". Doch es kommt ganz anders. Der Onkel ist gar nicht so witzig, wie sie ihn in Erinnerung hatte und vor einer Kulisse aus kaltem, weißen Schnee spitzt sich der Konflikt zu.

    An manchen Stellen im Buch sagt sie ja auch, ihr mit eurer Scheiß-Vergangenheit lasst mich in Ruhe. Aber sie will es ja wissen, was passiert ist. Sie will ja wissen, woher dieser Ärger oder dieser Stille in der Familie kommt. In diese Konflikte wird sie einfach geschickt. Die Scheiß-Vergangenheit ist sehr kompliziert, das wird ihr nicht mitgeteilt, aber die Bindung an die Eltern ist schon noch stark, aber auch die wird eben nicht so richtig eingelöst.

    Onkel und Tante sprechen mit ihr über den Vorfall, der die Familienbande durchtrennt hat, doch wieder bleibt die Protagonistin im Ungewissen, es gibt keine Auflösung. Wie es ihr mit den widersprüchlichen Bruchstücken aus der Vergangenheit geht, interessiert niemanden.

    Eine Novelle, dem schließe ich mich an, hat ja eine unerhörte Begebenheit und diese unerhörte Begebenheit ist für mich dieses Gespräch mit dem Onkel als die beiden sich über den Vorfall, der nun nicht genau ausgesprochen wird, unterhalten. Und sie hat ein klumpiges Taschentuch und die Tränen rollen und der Onkel tröstet sie nicht. Das war für mich das Ziel, wohin ich diese Geschichte geschrieben habe. Dieses Mädchen wird in die Welt geschickt ohne Trost, der ein Teil Erklärung ja sein könnte. Sie steht immer so alleine und rings herum wirbelt etwas, aber sie hat keinen Anteil daran und wird auch nicht als Individuum da hinein gezogen.

    Die wichtigsten Sprachbilder, mit denen Haring die Einsamkeit und Fremdheit des Mädchens in für den Leser nachvollziehbar macht, hängen alle zusammen mit einem Grundgefühl: der Kälte in jenem Winter in den Bergen.

    Das war ganz wichtig für mich. Ich hatte gedacht, diese Geschichte läuft in Kälte, nur in Kälte. Alle Ereignisse, alle Bedingungen, die ich in meiner Erinnerung mit Kälte verbinde, die habe ich dafür rangeholt und die habe ich jeden Tag sozusagen mitgenommen an den Schreibtisch.

    Ein weiteres prägnantes Stilmittel, das Haring benutzt, um der Geschichte Spannung und Lebendigkeit zu verleihen, sind unvermittelte assoziative Sprünge zwischen den verschiedenen Zeitebenen. Gerade noch lässt sich die Erzählerin von der Tante frisieren und denkt an Modezeitschriften, da ist sie auch schon in der heimischen Küche, in der sie der Mutter stolz ihre neuen moderne Klamotten vorführt. Doch die schaut kaum hin.

    Harings Sprache oszilliert zwischen poetischen Bildern und knappen, manchmal geradezu brüsken Sätzen. Sie reflektiert auf authentische Weise den geschilderten ärmlichen Alltag zwischen durchgesessenem Sofa, Mietshaus und quietschender Straßenbahn. Ausgesprochen wird es zwar nicht, aber unzweifelhaft liegt der Ort der Handlung in der ehemaligen DDR.

    Haring, die in der DDR geboren wurde und dort fast 30 Jahre ihres Lebens verbracht hat, nutzt sie als Kulisse für ihre Familiengeschichte einer nachgetragenen Kindesliebe. Der Leser erfährt dabei ganz beiläufig interessante Details über eine Jugend im anderen Teil Deutschlands und über die Rahmenbedingungen eines oft mühseligen Alltags.

    Ich habe einfach 29 Jahre da gewohnt und das hat mich wie jeden sehr geprägt und es hat mich die letzten Jahre dort zunehmend geärgert und aufgeregt. Ich selber muss die DDR nicht abarbeiten, das nicht. Ich habe wirklich dort schon sehr viel darüber nachgedacht und dann auch hier viele Jahre. Es ist für mich nur interessant mit einer Figur und einer Geschichte.

    Bis auf den Schluss, der die Erzählerin Jahre später zeigt und der wie angeklebt wirkt, hat Roswitha Haring mit dieser Geschichte eine überzeugende Variation des Motivs vom einsamen Kind vorgelegt. Sie hat zu einem eigenen Ton gefunden, der den Leser eintauchen lässt in eine atmosphärisch dichte Welt. Ein Erstling, der neugierig macht auf mehr.