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Ein brillantes literarisches Reflexionsspiel

Gerhard Köpf, in letzter Zeit vom Problem alternder Intellektueller in "splendid isolation" fasziniert, zeichnet in seiner neuen Erzählung ein sensibles, mit feiner Ironie grundiertes Porträt des so genialen wie sonderbaren Grafen Eduard von Keyserling, der einst zu den Leuchtfiguren Schwabings gehört hat.

Von Harro Zimmermann | 13.08.2010
    "Vielleicht kann ich mich besser verständlich machen, wenn ich mich – ganz Majestät – in die dritte Person setze, als sei ich ein anderer, ein Fremder, mit dem mich nichts verbindet als das gemeinsame Wissen um eine zerbrechliche Fragwürdigkeit. Das wäre billig zu haben, denn vorerst ginge es mir lediglich um das kleine Glück des Zuhörens. So brennend ist meine vergebliche Sehnsucht, wahrgenommen zu werden."

    Das neue Buch von Gerhard Köpf beginnt mit einer Art Möglichkeitsspiel. Wer erzählt hier eigentlich? Der legendäre Graf Keyserling? Sein wirklicher oder nur vermeintlicher Diener Loiblfing? Oder bilden beide nur eine in sich und zwischen den Zeiten oszillierende Kunstschöpfung des Autors? Ist das Ganze womöglich der Ausfluss einer ins Imaginäre verliebten fröhlichen Wissenschaft als Poesie? Gerhard Köpf zieht uns mit gekonnter Ironie und humoriger Bedachtsamkeit hinein in ein farbiges Vorstellungsspiel mit und von seinem außergewöhnlichen Protagonisten - den 1855 in Lettland geborenen und 1918 in München gestorbenen Schriftsteller Eduard von Keyserling. Als "Graf von Schwabylon" ist er einst berühmt geworden, der einsame, alte Mann mit dem vornehmen Habitus und dieser entlegen wirkenden Geistigkeit. Wenn Schwabing zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ästhetische Kulturexperimentierstation Münchens war, die Wahlheimat aller Spleenigen und Schlawiner, dann darf man den Grafen Keyserling als einen ebenso repräsentativen wie singulären Vertreter dieser Spezies begreifen. Doch so suppenwarm, kauzig und intellektuell irrlichternd Gerhard Köpf das einstige Schwabing auch zeichnen mag, Mal um Mal lässt er uns augenzwinkernd im Unklaren darüber, mit wem wir es bei seinem Helden und seiner Zeit wirklich zu tun haben:

    "Ein vollendeter Gentleman, sagten die aufmerksam jede Kleinigkeit registrierenden älteren weiblichen Stammgäste und ergänzten seufzend: ein Schattensucher – der Herr Ministerialrat. Unter diesem Titel kannte man ihn, obgleich er selbst das jederzeit mit einer wegwerfenden Handbewegung als bedeutungslos abgetan hätte. Manche nannten ihn wegen seiner Vornehmheit auch Herr Rat, und solche mit heraldischen Anwandlungen versuchten es mit Herr Baron oder mit dem englischen Lord. Was sich aber zuletzt durchsetzte, war die Bezeichnung Graf. Und so wurde der Pensionär kurzerhand in den Adelsstand erhoben ... 'Unser Herr Graf? Ja, ja, in Schwabing weltberühmt. Den kennt hier jeder, der stammt noch aus dem letzten Jahrhundert. Der ist wahrscheinlich von den Toten auferstanden. An dem klappern schon die Knochen. Schauen Sie sich doch bloß dieses zaunlattendürre Krisperl an. Und immer gebeugt, als habe er etwas verloren. Unentwegt auf der Suche nach dem gestrigen Tag. Freilich ist er ein waschechter Schwabinger, denn ein Schwabinger zu sein ist ein seliger Zustand, der keinen Platz hat in engen Gehirnen."

    Ist hier nun die Rede vom Grafen Keyserling oder von seinem ominösen Diener Loiblfing? Denn dessen Tagebuch ist doch gemeinsam mit vielen Nachlassdokumenten des berühmten Schriftstellers verbrannt und kann daher nur noch "schraffierend" nachgezeichnet werden. Der Leser kann nichts anderes tun, als dem Text auf die Spur zu gehen. So faszinierend muss die Gestalt des alten Keyserling gewesen sein, dass ihr nicht nur ihr erinnerungsseliger Diener, sondern ebenso rettungslos auch der Autor des Buches erlegen ist.

    Das Charisma des Grafen habe bei ihm die Vorstellung erweckt, als könne die Illusion durch eine kleine List sogleich Wirklichkeit werden, wundert sich Loiblfing irgendwo. Aber genau das scheint nicht nur für ihn zu gelten. Der poeta doctus Gerhard Köpf hat eine wunderbar fein gestimmte Hommage an den Dichter Keyserling geschrieben, so erlesen und humoresk wie das Werk seines Gewährsmannes, auch so selbstverliebt in den eigenen exquisiten Geisteshabitus - und doch so selbstironisch spielend mit den unverwüstlichen Anachronismen von damals und heute.

    Wenn das Unzeitgemäße die einzige Möglichkeit zu bieten verspricht, die wechselnden Zeiten noch zu ertragen, dann ist hier ein schönes Denkbild der Noblesse von Individualität und geistiger Freiheit überhaupt entstanden. Nur auf den ersten Blick könnte das wirken, wie aus allen Zeiten gefallen. Worum es wirklich geht, das ist die Selbstbeglaubigung einer Literatur, die in die Vergangenheit zurückkehren muss, weil sie darin Trost schöpfen möchte gegenüber der eigenen Gegenwart und dem darin beschlossenen Verfall. Ein Leben führen heißt, in seiner prekären individuellen Absonderung überdauern zu lernen. Bei Eduard von Keyserling glaubt Gerhard Köpf einen Gefährten und Inspirator gefunden zu haben, denn auch für ihn trug die Kunst, wie Thomas Mann schrieb, "Zweifel, Güte, Selbstzucht, Melodie und Traum" in sich.

    Der Grazie und dem Geist der keyserlingschen Literatur hat die köpfsche Prosa ihre eigene Verwandtschaft abgelesen, aber das führte zu keinem Imitat, sondern zu einem brillanten literarischen Reflexionsspiel, in dem das Leben und das Ästhetische sich wechselseitig durchleuchten können. In den schwebenden Spätzeitstimmungen des köpfschen Buches mag man gelegentlich die Stimme des alten Keyserling selber hören:

    "Jetzt gehe ich langsam aus meiner Zeit hinaus und nehme alles mit von dem, was ich einst war. Meine Spur wird sich verlieren. Schon bald wird es sein, als sei ich nie gewesen. Nur wir Schlaflosen, die wir fremde Stimmen hören und hin und wieder den Atem Gottes spüren, können den Gespenstern der Erinnerung bei ihrer Arbeit zuschauen. Wir sehen, wie sie behutsam die Kerzen ausblasen, die noch eine Zeitlang im Dunkeln geleuchtet haben. Wenn sie dann erloschen sind, eine um die andere, wenn die Windrose unserer Neigungen zur Ruhe findet, wenn es Herbst wird im Leben und sich nach einer schlaflosen Nacht frühmorgens die späten Nebel drehen, ehe sie von den Dächern gleiten, beginnen die Gedanken mitunter in seltenen Farben zu malen."

    Gerhard Köpf: Als Gottes Atem leiser ging.
    Erzählung. Allitera 2010, 96 Seiten, 11, 90 Euro