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Ein Bündnis ohne Gegner

Das Ende des Kalten Krieges war auch das Ende des Warschauer Paktes. Doch auch für die NATO musste ein neues Konzept her - der Gegner war abhanden gekommen. Darüber berieten die Staats- und Regierungschefs auf dem Londoner NATO-Gipfel im Juli 1990.

Von Matthias Rumpf | 05.07.2010
    Eigentlich hatte die NATO 1990 allen Anlass für eine große Feier. Die Berliner Mauer war gefallen, der Kalte Krieg gewonnen und der Warschauer Pakt stand vor seiner Auflösung. Doch ein großes Fest stand nicht auf dem Programm, als sich die Staats- und Regierungschefs der 16 NATO-Mitglieder am 5. und 6. Juli in London trafen.

    Helmut Kohl:
    "Und da wir unseren Verstand behalten wollen, werden wir so eine Feier nicht abhalten. Das ist ja ein bitterer Weg. Dass sich die Idee der Freiheit durchgesetzt hat, das ist wahr. Das ist auch Grund zum Feiern. Aber wir haben noch ein weites Wegstück vor uns. Und das Schlechteste, was wir psychologisch tun können, übrigens gerade wir als Deutsche, ist wenn wir an der falschen Stelle feiern."

    Ausgelassen war die Stimmung auch deshalb nicht, weil Helmut Kohl und den anderen Gipfelteilnehmern keineswegs klar war, welche Sicherheitsordnung für Europa an die Stelle der Konfrontation der Blöcke treten würde. Zunächst ging es aber darum, den alten Ost-West-Konflikt zu beenden. Im Abschlusskommunique des Gipfels heißt es:

    "Die Mitgliedsstaaten des Nordatlantischen Bündnisses schlagen daher den Mitgliedsstaaten der Warschauer Vertragsorganisation eine gemeinsame Erklärung vor, in der wir feierlich bekunden, dass wir uns nicht länger als Gegner betrachten, und in der wir unsere Absicht bekräftigen, uns der Androhung oder Anwendung von Gewalt zu enthalten, die gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit irgendeines Staates gerichtet oder auf irgendeine andere Weise mit den Zielen und Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und mit der KSZE-Schlussakte unvereinbar ist."

    Eine solche Erklärung wurde als Charta von Paris im November 1990 im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterzeichnet. Ebenfalls auf dem Londoner Gipfel schlug die NATO weitere Abrüstungsschritte bei atomaren wie konventionellen Waffen vor. Doch für die Allianz ging es um weit mehr, wie der sowjetische Stratege Georgi Abatov damals treffend beschrieb:

    "Wir haben Euch etwas Schreckliches angetan: Wir haben Euch die Bedrohung genommen und ohne uns werdet ihr nicht überleben."

    Der Londoner Gipfel versuchte das Überleben der NATO mit einer Rückbesinnung auf ihre nichtmilitärische Dimension zu sichern.

    "Unsere Allianz muss ein Motor des Wandels werden. Sie kann helfen, die Strukturen für einen vereinten Kontinent aufzubauen, indem sie Sicherheit und Stabilität fördert, mit der Stärke unseres gemeinsamen Glaubens an Demokratie, die Rechte des Individuums und die friedliche Lösung von Konflikten."

    Dafür wollte man zunächst einen Rahmen für Austausch und Begegnungen mit den einstigen Gegnern schaffen. Michael Gorbatschow und die Regierungschefs der anderen Warschauer Pakt Staaten wurden nach Brüssel eingeladen. Manfred Wörner reiste als erster NATO-Generalsekretär nach Moskau. Der langjährige NATO-Sprecher Jamie Shea über die damalige Strategie der Allianz.

    "Im Grunde wollte die NATO zeigen, dass sie Stabilität und Sicherheit, wie sie bisher nur die NATO-Mitglieder im Westen genossen hatten, in Richtung Osten ausdehnen kann. Es ging darum, Sicherheit in verschiedenen Stufen auf die vielen Länder des euroatlantischen Raumes auszuweiten und mögliche Bedrohungen auf Distanz zu halten. Die NATO-Mitglieder wollten so ihre eigenen militärischen Anstrengungen deutlich reduzieren und, wie man Anfang der 1990er-Jahre hoffte, eine Friedensdividende einstreichen."

    Diese Sicherheitszone entstand nur langsam und mit Widersprüchen. 1999 wurden mit Polen, Tschechien und Ungarn die ersten neuen Mitglieder aufgenommen. Den blutigen Bürgerkriegen nach dem Zerfall Jugoslawiens sahen die NATO-Mitglieder jedoch lange fast tatenlos zu. Auch die Friedensdividende konnten die NATO-Mitglieder nur für kurze Zeit genießen. Heute liegen die Militärausgaben in vielen NATO-Staaten, allen voran in den USA, inflationsbereinigt deutlich über dem Niveau von 1990.

    Für die deutsche Vereinigung allerdings brachte der Londoner NATO-Gipfel entscheidende Fortschritte. Mit den versöhnlichen Signalen von London im Gepäck konnte Helmut Kohl wenige Tage später nach Moskau und in den Kaukasus reisen und erhielt dort von Michael Gorbatschow die Zusage, dass auch das vereinigte Deutschland weiter Teil des atlantischen Bündnisses bleiben konnte.