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"Ein Coffee Table Book, das Lust macht auf Veränderung"

Bei der Frage nach seinem "Buch des Jahres 2012" muss der Hamburger Verleger Lutz Schulenburg von der Edition Nautilus nicht lange überlegen. Ihn hat das Thema Gentrifizierung beschäftigt und was sie aus seiner Stadt macht. Deshalb empfiehlt er "Mehr als ein Viertel. Ansichten und Absichten aus dem Hamburger Gängeviertel".

Von Verena Herb | 03.12.2012
    Am Anfang steht die Frage: Tee oder Kaffee' Lutz Schulenburg nimmt zwei große Tassen aus dem Hängeschrank und stellt sie auf den langen massiven Holztisch in der Mitte des Raumes. Gemütlich ist es in der Küche der Hamburger Edition Nautilus – kein Wunder, dass dies des Verlegers Lieblingsort ist.

    Lutz Schulenburg: "Da sitzen wir ja jeden Mittag hier zusammen. Essen und trinken und so was – hier in der Küche. Da wird über Gott und die Welt natürlich gesprochen. Es wird sehr gerne gelästert und Witze gemacht... heitere Stimmung... aber es werden dann natürlich auch beiläufig Probleme oder Neuigkeiten erörtert."

    Der 59-Jährige setzt sich auf den Stuhl am Kopfende. Lässig hängt die selbst gedrehte Zigarette im Mundwinkel. Vergleicht man alte Fotos mit heute wird schnell klar: Lutz Schulenburg ist seiner Frisur treu geblieben: Die schulterlange Haarpracht hat sich nur in der Farbe gewandelt. Von dunklem Braun in strahlendes Weiß. Und auch seine Gesinnung ist noch dieselbe wie vor 38 Jahren, als er gemeinsam mit Hanna Mittelstadt und Pierre Gallissaire in die "Bücherverlegerei" herein rutschte, wie er sagt. Damals hießen sie noch MAD-Verlag: Materialien, Analysen, Dokumente. Das fand das gleichnamige Satiremagazin gar nicht witzig – und klagte. Ein neuer Name musste her.

    MAD wird zur Edition Nautilus, Lutz Schulenburg zum Käpt´n Nemo, der – wie die TAZ einst schrieb - als "Rächer der Enterbten" mit seinem Unterseebot im Büchermeer versucht, der Gesellschaft mit ihren Zwängen und Konventionen zu trotzen.

    Die Edition Nautilus verlegt von Beginn an Schriften der Dadaisten, der Surrealisten und Situanisten. Mainstream-Allerweltsliteratur würde zum bekennenden Anarchisten Schulenburg auch nicht passen.

    Lutz Schulenburg: "Ich persönlich wollte Berufsrevolutionär werden. Und dann dachte ich: Naja, Berufsrevolutionär ist vielleicht nicht das richtige. Ich werde aber revolutionär im Beruf. Und das hat natürlich diese Verlagstätigkeit ermöglicht. Weil sie ermöglicht natürlich, dass man schmugglerisch sehr viele Intentionen transportieren kann."

    Ein Blick auf das deckenhohe Bücherregal aus Fichtenholz in der Küche verrät die Publikationsvielfalt des Verlages. Titel wie Abbas Khiders Roman "Die Orangen des Präsidenten", Jochen Schimmags "Beste Mitte", viel Globalisierungskritisches und Biografien linker Revolutionäre wie Che Guevara, Dunnuti sowie Mesrine und Hugo Chavez finden sich im Programm.

    Lutz Schulenburg: "Politisch sind wir äußerst links. Und das spielt natürlich dann in der Auswahl der politischen Titel – sagen wir es mal so vorsichtig – eine gewisse Rolle. Dass man sagt: Na gut, das machen wir nicht aus Gründen der Kritik dass wir so ne Standpunkte nicht vertreten können."

    Der Verlag gibt sich unkonventionell, eigenwillig, kämpferisch. Kämpferisch besonders dann, wenn es um die permanente Proklamierung niemals endenden Wachstums geht. Und so kämpft Lutz Schulenburg:

    "… gegen eine Gesellschaft wie diese kapitalistische Gesellschaft, die letztlich alles lebendige, unkonventionelle, spontane und nicht konsumfreudige und marktgängige ausradieren will: Oder beseitigen will. Oder umformen will."

    Wie auf Stichwort zieht er ein Buch zu sich heran, dass in diesem Jahr im Verlag Assoziationen A erschienen ist und das ihn als politisches Buch 2012 besonders begeistert hat:

    "'Mehr als ein Viertel. Ansichten und Absichten aus dem Hamburger Gängeviertel.' Das hat ziemlich viel damit zu tun, was alle Menschen heute in Europa und wahrscheinlich weltweit berührt. Es ist die Frage: Wie können wir in einer Stadt leben, die immer mehr zur Marke wird, und die sich gegen ihre Bürger entwickelt?"

    Das Buch ist die Geschichte der Besetzung des historischen Gängeviertels in der Hamburger Innenstadt im Sommer 2009 durch eine Gruppe junger Künstler. Jahrelang ließ die Stadt die Fachwerkhäuser aus dem 17. Jahrhundert verfallen. Ein niederländischer Investor hatte das Quartier gekauft, um dort klobig-moderne Bürogebäude zu errichten. Dort, wo einst Johannes Brahms geboren wurde.

    Es ist ein Beispiel für die all um sich greifende Gentrifizierung, wie sie in den letzten Jahren nicht nur in deutschen Großstädten zu beobachten ist: Alteingesessene Bewohner und traditionelles Gewerbe müssen teuren Eigentumswohnungen und Markenketten weichen. Zumindest beim Gängeviertel haben Hamburger Bürger es geschafft, diese Entwicklung zu vereiteln.

    Lutz Schulenburg: "Das ist ein Fest der Fantasie, was dort stattfindet. Und das kann man in diesem Buch wirklich sehen. Und das wird auch jemanden, der nicht Hamburger Verhältnisse genauer kennt – also aus Konstanz kommt oder aus Köln oder aus Flensburg oder Wanne Eickel oder so –, wird das wirklich interessieren, weil es inspiriert."

    Die Besetzer nutzten die Räume als Ateliers, stellten ihre Werke aus, veranstalteten Lesungen, Konzerte. Sie protestierten für den Erhalt des letzten Kleinods geschichtsträchtiger Häuser in der Hansestadt. Kunst statt Krawall lautete ihre Devise.

    Lutz Schulenburg: "In diesem Klima hat diese Bewegung ein unglaubliches Potenzial entfaltet. Und das ist ein Buch darüber, eine Geschichte mit verschiedenen Aspekten – detailliert. Untersucht auch die Geschichte des Gängeviertels. Aber: Lebendig geschrieben und unglaublich gut gestaltet. Quasi ein Coffee Table Book. Aber was Lust macht auf Veränderung."

    Die Künstler haben Erfolg. 2010 kauft die Stadt die Häuser zurück. Schulenburg zitiert:

    "Wir stehen gegen die Stadt, die auf den Fundamenten von Investorenträumen und Konsumzwang Ausgrenzung, Verdrängung und Segregation vorantreibt. Und für eine Stadt, die von unten, von ihren Bewohnern, und für sie selbst gestaltet wird. Schafft mehr als ein Viertel, nehmt Euch die Stadt."

    Ein Buch ganz nach Lutz Schulenburgs Geschmack: informativ, anregend, opulent aufgrund der grafischen und künstlerischen Aufmachung:

    "Und man beneidet die Kollegen, die das gemacht haben. Und freut sich doch, dass man diese ganze Arbeit mit den Enthusiasten, die das mit gestaltet haben aus dem Gängeviertel, natürlich nicht am Hals oder an den Hacken hatte, weil das ist eine ziemliche Schufterei."

    Dabei schuftet Schulenburg ganz gerne und publiziert durchaus Werke, die sich nicht rechnen:

    "Weil man auch Dinge verlegt, die sich besser rechnen. Bestes Beispiel: 'Tannöd', der Krimi von Andrea Maria Schenkel."

    Erschienen 2006 - Ein Bestseller, ein Mega-Coup.

    Lutz Schulenburg: "Dadurch, dass man insgesamt mit den Taschenbüchern von einem Buch eine Millionen absetzt. Das passiert nicht häufig. Es passiert einmal. Und dann ist auch gut."

    Das Programm habe sich dadurch aber nicht verändert.

    Lutz Schulenburg: "Aber es hat natürlich vieles ermöglicht. So ein Erfolg bringt natürlich viele Überschüsse, die man dann in Projekte stecken kann an die man sich sonst nie so wagemutig herangetraut hätte. Ohne Glück gäbe es uns natürlich nicht mehr."

    Gängeviertel e.V. (Hrsg.): Mehr als ein Viertel. Ansichten und Absichten aus dem Hamburger Gängeviertel.
    Verlag Assoziation A, 240 Seiten, 18 Euro
    ISBN: 978-3-862-41418-5