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Ein Denkmal für den toten Sohn

Vor 13 Jahren verlor Wolfgang Hermann seinen jugendlichen Sohn. Diesen Verlust hat er nun in einer Erzählung verarbeitet. Der Autor beschreibt mit klarer Sprache und genauer Wahrnehmung, wie die Dunkelheit und Schwere nach dem Tod am Ende Freundschaft und Licht weicht.

Von Matthias Kußmann | 25.04.2013
    Die Zeit verschwand an jenem Morgen. So still war es nie im Haus. Ich schlug die Augen auf und wusste es. Aber es konnte ja nicht sein, es durfte nicht sein. Es war doch nur eine Grippe. Es war nur Fieber. Daran stirbt ein junger Mensch nicht. Aber die Stille sagte es, es war die Stille, die nur die Anwesenheit des Todes bedeuten kann.

    An einem Novembermorgen findet ein Mann seinen 17-jährigen Sohn tot in dessen Zimmer. Dabei war Fabius doch ganz gesund, ein normaler Junge, der Skateboard fuhr, Gitarre spielte, eine hübsche Freundin hatte. Von einer Minute auf die andere verliert der Vater jeden Halt, verdunkelt sich sein Leben. Er lebt in einem permanenten Gefühl des Verlusts. "Abschied ohne Ende" heißt denn auch Wolfgang Hermanns neue Erzählung, der eigene Erfahrungen zugrunde liegen. Vor 13 Jahren verlor er seinen Sohn. Nach einigen Monaten versuchte er erstmals, schreibend darauf zu reagieren:

    "Das war die größte Gefahr, dass ich zu sehr über mich schreibe. Ich bin der Hinterbliebene, der Trauernde, der dem Sohn ein Denkmal setzen möchte, aber unter Tränen auch immer wieder Gefahr läuft, über seine Tränen zu schreiben. Das war der Hauptgrund, warum ich es jahrelang vor mir her geschoben hab."

    Mit "Abschied ohne Ende" ist es ihm nun gelungen, über den Verlust zu schreiben, der sein Leben prägt. Der knapp hundertseitige Text ist weder Lamento noch betont nüchterne Darstellung, sondern dicht und intensiv erzählt, mit der für Hermann typischen klaren Sprache und genauen Wahrnehmung. Zugleich gibt es durchaus "pathetische" Stellen, die dem Schmerz, der verhandelt wird, aber angemessen sind – etwa über den Mann, der gerade sein totes Kind entdeckt hat:

    Der Schrei, der ich war, war zu schwach, um zu bestehen, er erlosch, meine brennende Kehle hatte nicht die Kraft weiterzuschreien, nicht die Kraft, meinen Sohn zu mir zurückzuschreien. Es ist beschämend, so schwach zu sein, nicht die Kraft zu haben, irgendwo zu sein. Auch stehen konnte dieser Körper nicht mehr. Er sank in sich zusammen, krümmte sich. Es ist nicht wahr, das war es, was sich dieser Kehle entrang, es ist nicht wahr, bitte bitte bitte. Ja, er bat, dieser gekrümmte Körper, er bat, er flehte um Unwirklichkeit. Er krümmte sich neben dem Bett, auf dem sein toter Sohn lag, und bat um Unwirklichkeit.

    "Angesichts der Tragödie ist das Pathos, das ja aus der griechischen Tragödie kommt, absolut legitim. Die tiefen Gefühle, die sind einfach uralt im Menschen und waren vor 3000 Jahren die gleichen wie heute. Wenn eine Mutter ihr Kind verliert oder die Frau ihren Mann, sind das archaische Gefühle, die sind so alt wie der Mensch. Ich kann da nicht 'cool' sein beim Schreiben."

    Der Ich-Erzähler macht sich Vorwürfe, als Vater und Mann von Fabius´ Mutter versagt zu haben. Er und Anna liebten sich, doch sie waren noch Schüler, als sie schwanger wurde, viel zu jung. Weder ihre noch seine Eltern unterstützten sie. Als er zu studieren begann, ein Träumer mit wenig Sinn für die Realität, trennte sie sich von ihm, aus Angst, er könne die junge Familie nicht ernähren. 15 Jahre war er ein sogenannter "Besuchsvater", bis Anna ihn bat, Fabius zu sich zu nehmen, der schwierig sei, Probleme in der Schule habe, sie schaffe es nicht mehr. Nicht lange, nachdem sein Sohn zu ihm gezogen ist und Vertrauen gefasst hat, stirbt der 17-Jährige – der schon einmal einen Schwächeanfall hatte, den der Vater nicht ernst genug nahm.

    Hermann erzählt, wie der Vater die ersten stockdunklen Wochen nach dem Tod seines Sohns erlebt, ängstlich, verstört – doch auch, wie er langsam lernt, der Dunkelheit etwas entgegenzusetzen.

    Ich lebe in einem Tunnel aus immer gleichen Angstbildern. - Ich setze gegen sie die anderen, die Bilder der Liebe zu meinem Sohn. Erinnere dich, halte am Leben fest, nur in der Erinnerung bleiben wir.

    Er erinnert sich an die Geburt des Sohns, an Szenen aus dessen Kindheit, dann an gemeinsame Ausflüge und Spaziergänge. Er lernt Fabius´ Freundin Julia kennen, die ihn öfter besucht und durch ihre Jugend neues Leben in das Trauerhaus bringt. Auch Fabius´ Mutter Anna kommt und gemeinsam helfen sie sich, wieder in den Alltag zurückzufinden. Der Verlust bleibt für alle bestehen, doch sie lernen langsam, so gut wie möglich damit umzugehen – und auch das Gute, das ihnen begegnet, zu sehen, und sei es nur die Veränderung der Natur im Rhythmus der Jahreszeiten.

    Der Zitronenbaum, den ich lange Zeit vergessen hatte zu tränken, war abgestorben und verholzt. Wie zum Trotz goss ich ihn nun. Und wie um dem Tod zu widersprechen, schoss bald ein zarter hellgrüner Trieb aus dem Totholz. Aus dem Trieb wurde ein durchsichtig scheinender Ableger, der rasch an Höhe gewann. Er würde keine Früchte tragen und nicht die schöne Kugelform eines gesunden Zitronenbaums annehmen. Aber er lebte.

    Am Ende des Buchs ist ein Jahr vergangen, es ist wieder November, der Trauermonat. Aber Hermann lässt seine Erzählung, die so dunkel und schwer begann, mit Bildern der Freundschaft und des Lichts enden.

    "Man könnte ein ewiges Jammerbuch schreiben, nur düster und alles schwarz, das wollte ich aber auch nicht. Mir ging es wirklich um diesen Kampf ums Licht. Ich wollte eine Geschichte erzählen, die eigentlich besser ausgeht, als sie in Wirklichkeit damals ausgegangen ist. Das ist ja die Freiheit der Literatur. Auch ein tragisches Ende darf man vielleicht anders formulieren, als es in Wirklichkeit war. Es ist das Buch meines Sohnes, es ist für ihn, aber auch für mich, der damit fertig werden musste, geschrieben."


    Wolfgang Hermann: Abschied ohne Ende.
    Verlag Langen-Müller, 102 Seiten, 12,99 Euro