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Ein Dichter greift zum "Klappmesser"

Alle Zeichen stehen in dieser Poesie auf Angriff. Der Dichter schickt seine "Sturmtruppen" ins Feld, er lässt die "Stadthunde" von der Leine und greift zum "Klappmesser". Er liebt es, sich radikal zu äußern und seinen Versen die denkbar härteste Fügung zu geben. Nichts liegt ihm ferner, als der alten friedfertigen Vorstellung zu folgen und die Lyrik auf unmittelbare Gefühlsaussprache oder harmonische Seelenlagen zu verpflichten. Im Gegenteil: Dieser Lyriker begibt sich freiwillig in das Zentrum des Infernos, wo das "Trommelfeuer" das

Von Michael Braun | 23.01.2005
    Geschehen diktiert.

    "Sturmtruppen", "Klappmesser", "Stadthunde" - so heißen die Gedichtbücher, mit denen der lyrische Grenzgänger und Provokateur Gerald Zschorsch seit vielen Jahren regelmäßig für Irritationen sorgt. Kein Wunder, dass so mancher Leser reflexhaft in Deckung geht. Denn die Metrik wird hier mitunter diktiert durch die Ballistik, also die Lehre von der Flugbewegung von Projektilen. Sehr häufig fallen Schüsse in diesen Gedichten - als gehe es darum, dem Text einen Schockeffekt mitzugeben und ihm jede falsche Feierlichkeit auszutreiben. Hier gibt es keine leisen Töne, kein sanftes Gesetz, das dem lyrischen Weltgefühl einen Halt geben könnte, sondern ausschließlich die kategorische Geste, die harte Fügung. "Alle entscheidenden Schläge / werden mit der linken Hand geführt", verfügt der Dichter und geht in die Offensive, dass die Fetzen fliegen. In vier programmatischen Zeilen definiert sich der Lyriker als martialisches Subjekt:

    Der Typ des Dichters als Subjekt

    Blutblaue Halle.
    Jetzt kämpfen wir den Krieg.
    Wer besteht, klärt die Richtung;
    nach dem Sieg.


    Wer Reizwörter wie "Krieg", "kämpfen" oder "Sieg" in seine Gedichte einschleust, der sucht die Herausforderung. Und er macht sich politisch verdächtig. Seit Gerald Zschorsch Gedichte schreibt, hat es nicht an Kritikern gefehlt, die ihn als politischen Reaktionär disqualifizieren und ins Lager der nationalkonservativen Rechten abschieben wollen. Der Dichter selbst neigt dazu, diese Lesart seiner Kritiker vorsätzlich zu munitionieren, indem er bei passender wie unpassender Gelegenheit die Kriegs-Metapher bemüht. Das Motto seines 1996 publizierten Gedichtbandes "Eiserner Felix" zitiert ein Diktum von Napoleon, das die intime Nähe von Liebe und Krieg heraufbeschwört. Der rätselhaft anmutende Titel des Buches "Eiserner Felix" verweist im übrigen auf den ersten Geheimdienst-Chef der kommunistischen Sowjetunion, auf Felix Dsershinski, der wegen seiner Brutalität "Eiserner Felix" genannt wurde.

    Im aktuellen Sammelband "Torhäuser des Glücks", in dem Zschorsch seine bislang erschienenen Bücher nebst einer eigenen Abteilung neuer Gedichte versammelt, hat er nun ein Poem eingefügt, das mit einem Gruß an eine anonyme Geliebte beginnt - dann aber zur Apologie des "heiligen Krieges" übergeht:

    Um dies alles

    Komm übers Eis;
    liebe mich.
    Fege den Schnee,
    kümmer dich.

    Spann Pferde an;
    Die Nüstern voll Dampf.
    Rüste dich zum Kampf -
    Mann gegen Mann.

    Und noch eines:
    Es geht um den Sieg.
    Zehntausend muss die Seuche raffen:
    Zehntausende der heilige Krieg.


    Zweifellos werden mit diesen Zeilen über den "heiligen Krieg" wieder jene Geister auf den Plan gerufen, die Zschorsch als einen Ästhetizisten der Gewalt verbuchen. Tatsächlich hat der Dichter Zschorsch immer darauf hingewiesen, dass seine Poesie viel dem apodiktischen Stil Ernst Jüngers verdankt. Es ist freilich nicht der Stahlhelm-Autor von "In Stahlgewittern", dem sich Zschorsch nahe fühlt, sondern eher der stoische Einzelgänger und kalte Diagnostiker der gesellschaftlichen Verhältnisse.

    Freilich sagen solche stilistischen Affinitäten nur wenig über die elementaren Widersprüche und Zerrissenheiten, die in der Poetik des Dichters Gerald Zschorsch ausgetragen werden. Die Schizophrenien der deutschen Geschichte haben diesen Autor nämlich besonders hart getroffen. Der 1951 in Elsterberg im Vogtland geborene Dichter suchte schon früh den Konflikt mit seinen linientreuen Eltern, die im SED-Staat Karriere gemacht hatten. Sein Vater war ein hochrangiger DDR-Diplomat, seine Mutter eine Staatsanwältin, die sich beide von ihrem renitenten Sohn lossagten, als er in die Mühlen der DDR-Justiz geriet. Als Jugendlicher hatte Zschorsch gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei demonstriert und musste das mit zwei Jahren Jugendhaft büßen. Die Brutalität der sozialistischen Verwahrungsmaßnahmen und die rigide Sprache der Gewalt haben sich später in seine Gedichte eingeschrieben.

    Das lange Poem "Kettenburg" beschreibt zum Beispiel in harten, nüchternen Versen den Ort der Haft, jene Vollzugsanstalt im Herzen Thüringens, die bis 1991 den zweifelhaften Ehrentitel führen durfte, das am längsten im Betrieb befindliche Zuchthaus Deutschlands zu sein. Im "Sommer nach 1968", heißt es in diesem Gedicht, tritt "ein staksiger Junge", gerade siebzehn Jahre alt geworden, in den leeren Innenhof der Kettenburg - und erlernt zwei Jahre lang die Rituale der Demütigung und Bestialisierung des Menschen.

    Arbeit in Schicht
    für ROBOTRON SÖMMERDA.
    Drehen, Bohren, Fräsen, Stanzen.
    Die alten Exzenterpressen
    schlugen nach
    und trennten Fingerglieder ab.
    Oder gegen Haftende.
    Freikommando auf der LPG,
    im Hopfen,
    oder aber beim Bau
    der Tankstelle.
    Erdarbeiten ohne Gerät.
    Mit Brechstange und Kreuzhacke.

    Die wenigen Altstrafer, die da waren,
    zuständig für Küche, Wäsche, Effekten,
    sprachen bei Randale Mut zu
    oder gaben Schutz bei Übergriffen
    aus den eigenen Reihen.
    ...
    Einmal, im Winter,
    beim Einölen der Laufrollen
    des Fallbeiles
    im Trakt,
    schien die Sonne.
    Er dachte
    An den Sommer 1886, an den 28. Juno.
    Andreas Thaldorf,
    Hingerichtet mit dem niederfallenden Stahl
    wegen vierfachen Mordes.
    Hier.
    Erstmals durch diese Neuerung.
    Nicht mittels Hochgericht.

    Dachte auch
    in Tagen und Nächten
    unten in der
    Wolfsschlucht.
    Dem Arrest.
    Wo Gitter vor Gitter waren;
    Auf Klappritsche, Klapphocker
    mit nur einer Decke
    und mit dem Kübel
    voller Chlor.
    Tränen im Auge;
    Blut im Urin.
    ...


    Kaum war Zschorsch 1970 aus der thüringischen Zwingburg entlassen worden, kollidierte er erneut mit der Sprache der Macht. Als Regieassistent am Theater Plauen erlaubte er sich das öffentliche Rezitieren von Gedichten, die sehr deutlich das Leiden an den versteinerten Verhältnissen im realen Sozialismus formulierten. Die Folge war eine Anzeige wegen sogenannter "staatsfeindlicher Hetze" und eine Verurteilung zu vier Jahren verschärftem Freiheitsentzug. In den Akten der Stasi wurde der renitente Linksradikale als "Überzeugungstäter" geführt und 1974 schließlich ausgebürgert und in die Bundesrepublik abgeschoben. Lange vor den Turbulenzen um Wolf Biermann hat man an dem jungen DDR-Dichter und Liedermacher Gerald Zschorsch ein autoritäres Exempel statuiert - aber die Utopien der jungen DDR-Poesie hat man dadurch nicht auslöschen können. Nach seinem Wechsel von Ost nach West verfasste Zschorsch das Poem "Grenzübertritt", das im Anklang an Heinrich Heines "Wintermärchen" den Traum von einem geeinten Deutschland aufgreift und später in den Debütband "Glaubt bloß nicht, dass ich traurig bin" aufgenommen wurde. Daraus die vier zentralen Strophen

    Ich ging im deutschen Winter
    von Osten hier nach West
    auf meinen Wangen froren
    die Eiskristalle fest

    Das kommt weil meine Trauer
    gehört der Republik
    die jenseits dieser Mauer
    mich ließ nicht mehr zurück

    Es ist das ewig Gleiche
    In diesem deutschen Land
    Die einen werden verschwiegen
    Die andern werden verbannt
    ....
    Und warten nah der Grenze
    mit Lied und mit Gedicht
    dass durch die vielen Strophen
    die Mauer einmal bricht
    ...


    Nach seiner Übersiedlung in den Westen begann Zschorsch ein Philosophiestudium in Gießen und verwandelte sich allmählich in einen ästhetischen Extremisten. Aus dem radikalkommunistischen Träumer, der mit Rudi Dutschke befreundet war, wurde ein illusionsloser Lakoniker, der in harten Fügungen die gnadenlosen Gewaltverhältnisse in Ost und West besang. Nun waren keine Heineschen Volksliedstrophen mehr von ihm zu hören, sondern sarkastische, staccatoartige Verse, hervorgeschleudert in aggressiven Gesten. Die Gedichte, "mit harter Zunge gesprochen", wurden zu seinem Markenzeichen. Seine ersten drei Gedichtbände wurden bei Suhrkamp verlegt, wo er sich mit seinem unversöhnlichen ästhetischen Radikalismus und seiner scharfen Diktion bald auf einsamem Posten befand.

    "Der Dichter Gerald Zschorsch", so hat einmal Heinz Czechowski über ihn geschrieben, "kann ein unerträglicher Mensch sein." Mit dieser temporären Unerträglichkeit hatte es wohl zu tun, dass es Mitte der achtziger Jahre zu einem kleinen Zerwürfnis mit Siegfried Unseld kam und Zschorsch für sechzehn Jahre zum Klett-Cotta Verlag abwanderte. Mit seiner poetischen Gesamtschau, dem Sammelband "Torhäuser des Glücks", der nicht nur alle bislang erschienenen Gedichtbände, sondern auch fünfzig neue Texte versammelt, ist Zschorsch nun in sein altes Verlagshaus zurück gekehrt.

    Nachdem es in den letzten Jahren ein wenig still um ihn geworden war, präsentiert er sich in diesem Band nun in seinem ganzen häretischen Eigensinn. Zschorsch zeigt das Subjekt in all seinen Beschädigungen und Verletzungen, versehrt durch die Gewalt der Erziehung und durch die Traumata der politischen Sozialisation. Er artikuliert das Leiden an der deutschen Geschichte, am nicht enden wollenden "Deutschen Krieg", der als "Zwitter aus Gier und Schund" apostrophiert wird. Die verletzende, aggressive Direktheit, mit der er seine Verse in knappste Verse und oft prädikatlose Sätze presst, ist ein Akt poetischer Notwehr. Zschorsch scheut sich nicht, den Hass auf die Gewalt der alten und neuen Täter bis zur Omnipotenzphantasie zu steigern. Im Gedichtband "Eiserner Felix" schildert er im Gedicht "Das Geräusch" einen brachialen Triumph über zwei Skinheads. Mit Heavy Metal-Gedröhne haben hier zwei Bomberjacken-Burschen die Reisenden in einem Intercity-Großraumwagen empfindlich gestört. Als sich auch der verantwortliche Zugbegleiter nicht durchsetzen kann, stellt sich das lyrische Ich zum Kampf und streckt die Skinheads mit zwei Faustschlägen nieder.

    Die Jungs lagen im Mittelgang
    auf dem Fußboden.
    Rangen nach Luft.
    Blut lief aus Nase und Mund
    Und Haut hing ab.
    Aus den Augen Tränen vor Schmerz.

    Still war es.

    Nur das Keuchen von zwei Menschen.
    Und das Fahrgeräusch.

    Die Mitreisenden
    hatten sich erhoben
    Klatschten in die Hände.
    Und eine sagte:
    >Bravo,
    endlich mal einer:
    diesem Dreck auf die Fresse. <

    Versuchten,
    Hände zu schütteln;
    er hatte seine verstaucht.
    Knetete und rieb sie gegeneinander.
    Hielt sich fern.


    Da ist er wieder, der Lyriker als Außenseiter, als der nie Dazugehörende, der sich fern hält, aber auf Gewalt mit Gegengewalt reagiert. Angesichts solcher Verse richtet sich die Skepsis indes gegen alle Akteure: gegen die Nazi-Posen der Skinheads ebenso wie gegen das Triumphgeheul der Augenzeugen und auch gegen die Selbststilisierung des großen Nazi-Bändigers.

    Es wäre aber ein großes Missverständnis, die Gedichte von Zschorsch auf solche Potenzbeweise hin zu durchsuchen.
    Ästhetisch viel reizvoller als das triumphale "Geräusch"-Gedicht sind die kaleidoskopisch gebauten Gedichte, in denen die Verzweiflung und Ohnmacht des Ich sichtbar werden - ohne dass dem jeweiligen Text dabei seine Mehrdeutigkeit genommen wird. Die stärksten Momente finden sich dort, wo Zschorsch in seinen Stadtgedichten auf expressionistische Techniken eines Jakob von Hoddis oder Alfred Lichtenstein zurückgreift und in paradoxem Reihungsstil die urbanen Bewusstseinsreize im Gedicht festhält. Oder er konzentriert in düsterem Lakonismus die Augenblicke eines aussichtslosen Daseins. So lesen sich Gedichte wie "Flut" und "Paternoster" als negative Utopien:

    Flut

    Es hantiert sich schlecht.
    Esser in fremden Stuben.

    Stille Wasser bilden Satz.
    Einen vor den Latz.

    Und: eines Tages werden die verlängerten Leben
    Die Lebenden ersticken.

    Kein Nicken. Kein ja.
    Der Reim ist die Kante des Haltes.
    Peitschenlaut knallt es.

    Auch da.



    Paternoster

    Wer klein ist, muss sterben.
    Wer groß ist auch.
    Es steigt aus den Essen der Öfen Rauch.
    Jede Haut brennt, krustet, bricht.
    Jeder Laut verliert sein Geräusch im Angesicht
    Des Rosts. Durch den die Aschen fallen.
    Funken stieben, Himmel lallen
    Vor Freuden.

    Die Schroffheit solcher Verse mag das Missverständnis befördern, der Dichter Gerald Zschorsch gewähre der Schönheit kein Existenzrecht in seinen Gedichten. Der ästhetische Imperativ, den das lyrische Subjekt am Ende des Bandes "Eiserner Felix" aufruft, deutet in Richtung einer Poetik des Schreckens:

    Schönheit ist Gefahr.

    Aber es gibt in den jüngsten Gedichten sehr viele Momente, da sich der eiserne Habitus des Ich löst und der Blick sich weitet auf Sehnsuchtslandschaften und auf Glückserfahrungen erotischer Kommunion. Bereits als "Eiserner Felix" hatte Zschorsch Venedig und Rom als Schauplätze eines neuen Arkadien evoziert, als Wunschlandschaften, die bevölkert sind von begehrenswerten Frauen. In den jüngsten Gedichten führt die Reise des Dichters nach Osten, in jene Gebiete Polens, die einstmals den Osten Deutschlands bildeten, und in denen das Ich von einer verzehrenden Wehmut befallen wird. Hier stellt sich dann schon fast ein feierliches Raunen ein, eine sentimentalische Hingabe an eine "Bilderflut", die alle Negativität hinwegschwemmt:

    Warmia

    Ermland nah, Grenzland;
    Eiland am See.
    Spiele der Schatten
    und Haschischtee.

    Himmeltief Winde;
    Ständiger Hall.
    Fiepende Ratten
    und Sonnenball.

    Kraniche steigen,
    im Auge gut.
    Plötzliche Ferne
    und Bilderflut.

    Figurinen der Welt;
    Allzeit bereit.
    Ermländer Sterne
    und Kinderzeit.

    Aus seiner eisernen Form-Verpanzerung heraus tritt Zschorsch manchmal auch in seinen erotischen Gedichten. Speziell in seinem Rom-Gedicht, das den Band "Eiserner Felix" beschließt, erleben wir plötzlich einen expressiv-schwelgerischen Gestus. Die hier auftretenden Prostituierten werden in einer glühenden, rauschhaften Metaphorik als Göttinnen des Begehrens und des Begehrtwerdens besungen, als gelte es, den frühen Gottfried Benn mit seinen Körper-Ekstasen zu überholen. Hier regiert ein Pathos der Männlichkeit, das sich mit einem diktatorischen Lustprinzip bewaffnet und sich ab und an auch einen machohaften Voyeurismus gestattet. Da werden dann lange Frauenbeine "mit dem Auswuchs der Hinterbacken" als unüberbietbarer Männer-Traum besungen, und es wird die Gewissheit artikuliert, dass die Frau im Liebesakt zur "Sache" wird - "und die Sache erregt". Dieser klassische männliche Selbstgenuss, der sich als Liebesdienst ausgibt, verbindet sich in einigen Gedichten mit jener martialischen BiIdlichkeit, die in den Kriegs- und Hass-Poemen die Verse geprägt hat. Und so fallen auch in der Liebesdichtung wieder Schüsse - auch wenn sie hier eine leibliche Konnotation bekommen:

    Der Kuss

    Ich habe dich geküsst
    Und hab es immer müssen.
    Wir hatten ein Gelüst
    Nach schnellen, scharfen Schüssen.

    War deine Nadel stumpf;
    So gab ich dir die meine.
    Auch Asse waren Trumpf
    Und stachen. Meine deine.

    Es war kurz vor dem Mond,
    der schien. Und sommerlich hell.
    Da pfiff, wer halt da thront;
    Unser Lied: Komm, küsse schnell.

    Nicht nur Liebe und Krieg treten bei Zschorsch in ein intimes Verhältnis, auch Liebe und Gewalt. Die Lust als absoluter Souverän verlangt offenbar nach tragischen Opfern:

    Im Mai

    Alle Künste begründen
    Sich auf die Bebauung
    des Landes mit der Hand.
    ( Ruskin )

    Geh gegen Abend;
    Blicke nicht um.
    Senke die Lider
    Und schweige stumm.

    Tritt in den Garten;
    höre den Kies.
    Atme Schwarzerde,
    öffne und lies.

    Den Brief aus der Zeit
    kälterer Lust.
    Steig aus dem Kleid
    mit hoher Brust.

    Nimm das Messer fein;
    sage noch: du.
    Setz an den Stahl
    und stoße zu.

    Man hat die Dichtung von Gerald Zschorsch mit der Malerei der Neuen Wilden vergleichen wollen. An demonstrativer Schroffheit und harter Material-Fügung herrscht bei ihm gewiss kein Mangel. Mit großer Raffinesse, aber auch einer gewissen Verbissenheit arbeitet er an der Verbindung von Schönheit und Schock. Seinen Begriff von Poesie als Überlebenskunst hat Zschorsch vor einigen Jahren in einer faszinierenden Anekdote veranschaulicht. Als Zweijähriger, so erzählte er auf einer Veranstaltung in Berlin, habe er einen sibirischen Schneesturm nur deshalb überlebt, weil sein Vater einen Elch erlegt hatte, in dessen Eingeweiden er sich bergen konnte. Das schützende Gehäuse war freilich ohne die Tötung des Tieres nicht zu haben. Die gefährliche Nähe von Liebe und Krieg, von Existenz und Gewalt - Gerald Zschorsch kommt von ihr nicht los.