Freitag, 19. April 2024

Archiv


Ein Doppelleben in Paris

Eigentlich hätte schon das vorangestellte Zitat misstrauisch machen müssen. "L’histoire n’est qu’une fable convenue" - Die Geschichte ist nicht mehr als ein angenehmes Märchen, sage der französischen Dichter und Philosoph Bernard le Bovier de Fontenelle, der 1757 starb und die tradierten Weltbilder seiner Zeit durch seine Schriften sprengte. Paul de Witt, der Held der Miniatur, die der Diogenes Verlag aus Werbezwecken als Roman bezeichnet hat, Leon de Winters Held ist in vielfacher Hinsicht ein Flüchtling.

Von Jochanan Shelliem | 20.04.2006
    Zu der Zeit guckte ich alles. Während die Abende mit dem Korrigieren von Klassenarbeiten verstrichen, zeichnete der Videorecorder die Sendungen auf, die ich mir nachts ansah. Ich hockte vor dem Fernseher, bis sich das Unwetter hinter meinen Augen ausgetobt hatte, worauf ich, auf dem Sofa liegend, ein paar Stunden durch lautlose Träume lief.

    Der rasende Stillstand scheint dem Geschichtslehrer die einzige Zuflucht aus dem Kerker seiner bürgerlichen Existenz zu sein. Auch diese hat sich Paul de Witt nicht selbst geschaffen, seine Frau Mieke hat aus ihrer Studentenliebe einen Ehehafen geformt. Mieke versorgt die beiden Töchter, während Paul sich vor die Flimmerkiste flüchtet oder sich mit seiner Dissertation beschäftigt, die alles infrage stellt.

    Mein erster Besuch der Bibliothèque National 1966 war ein verwirrendes und zugleich bewegendes Ereignis gewesen. Ich studierte damals noch und schrieb an einer Hausarbeit. Ich erinnere mich, dass ich mich mit Tränen in den Augen – viel zu große Emotionen für einen unbedeutenden kleinen Archivbesuch – in dem Gebäude zurechtzufinden suchte, in dem Zehntausende von Manuskripten und Millionen von Büchern eine Macht zur Schau trugen, die dem Ausgangsmaterial von Natur aus fremd waren (denn das bestand aus nicht mehr als Papier, Druckerschwärze, Leinen, Pergament). Die Vergangenheit, die geordnete, rubrizierte verflossene Zeit, warf ihren unerträglich schweren, pechschwarzen Schatten über mich. Sie stand hinter mir, die GESCHICHTE, und sah auf mich herab. Und sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte nicht durch die unzähligen Bücherregale hindurch sehen, hinter denen sie sich versteckte, wenn ich mich umdrehte, um sie ins Visier zu nehmen.

    Alter Krempel, verstaubter Mist, muffiges dummes Zeug bist du, schrie ich durch den Gang (in Gedanken), mich kriegst du nicht, sieh doch, wie ich hier gehe und wandele und mich nicht um deine Wendigkeit schere, sieh, wie ich dir den Rücken zukehre und auf deine Macht pfeife !

    Paul möchte zeigen, dass es keine Zwangsläufigkeit, keinen Sinn in der Geschichte gibt, dass die Geschichte nur Historie ist, aus einer Kette unglücklicher Zufälle besteht. Am Beispiel der Flucht Ludwig XVI. vor französischen Revolutionären, die 1791 in Varennes beendet wird, will Paul de Witt die Zufälligkeit von Geschichte nachweisen. Wenn die Beschützer des Monarchen nicht auf der falschen Seite der Brücke Varennes gewartet hätten, hätte Ludwig XVI. seine Husaren nicht verpasst, die französische Revolution wäre anders ausgegangen, kein Napoleon hätte Europas Fürstenhäuser düpiert und den Kontinent vereint, dann hätte es kein Versailles gegeben und vielleicht, ja vielleicht hätte auch kein Adolf Hitler den Reichstag von innen gesehen, ja ohne ein Versailles.... Hinter all diesen Fragen, verbirgt Leon de Winter eine eigene private Tragödie.

    "Bei uns zuhause ist aufgewachsen ein Cousin von mir. Der Sohn des Bruders meines Vates. Er hieß Hermann de Winter und Hermann war geboren 1942 und ist gleich nach seiner Geburt bei Menschen untergebracht worden und seine Eltern sind später verraten worden. Also er hat seine Eltern nie gesehen. Die sind umgebracht worden, im KZ. Und nach dem Krieg haben meine Eltern ihn in ihr Haus genommen. Also sie hatten schon einen Sohn, bis sie selbst ihre Kinder bekommen haben. Er war immer ein bisschen im Hintergrund. "

    Eigentlich ist diese letzte Veröffentlichung des Bestsellerautors aus Amsterdam ein Frühwerk. Vor 25 Jahren schrieb Leon de Winter diesen Roman. Doch es scheint, als konjugierte der Autor die Folgen der Zufälligkeiten von Geschichte seither. In dem 2003 erschienen Roman Malibu ist es die Kettenreaktion, die auf ein Erdbeben folgt, das den Protagonisten, einen holländischen Drehbuchautor aus dem Lot wirft. In Place de la Bastille sinniert nun der Geschichtslehrer Paul de Witt über den Verlauf der französischen Revolution, geht entscheidenden Zufällen nach, verliebt sich bei seinen Recherchen und lässt sich an der Place de la Bastille in eine zweite Beziehung ziehen. Hinter seinem Doppelleben, durch die Rastlosigkeit seiner Archivarbeit verbirgt Paul ein Geheimnis. Für Leon de Winter entstand dieser Roman auch aus einem zweiten Motiv heraus.

    "Diese Geschichte und andere Geschichten. Da ist ein bekannter Historiker in Holland, der die großen Standartwerke über den Zweiten Weltkrieg geschrieben hat, Lou de Jong. Hat überlebt in England, in London in dem Zweiten Weltkrieg. Und der hatte einen Zwillingsbruder, der umgekommen ist im Krieg. Also das waren zwei Quellen. Mit denen ich spielen möchte. Etwas, das nahe war, aber auch nicht zugleich zu nah. Ich brauchte damals – ich war noch sehr jung – eine gewisse Distanz ich hatte nicht den Mut über meine verrückte Juden zu schreiben, die ich ja später beschrieben habe wie in "Leo Kaplan", ein Buch, das ich gleich nach "Place de la Bastille" geschrieben habe. "Bastille" hat mir den Mut geschenkt, über diese, endlich mal über meine jüdische Gegend zu schreiben. Aber ich war noch nicht imstande diese Vergrößerung dann zu beschreiben. "

    Insofern ist dieses 1981 verfasste und nunmehr aus der Schublade gezogene Manuskript die erste Ausführung seines Grundmotivs, doch in Pastell. In Rückblenden berichtet der getriebene, flüchtende und verwirrte Paul von seiner Suche nach dem zweiten Selbst. Eher leise wird das erzählt. Von den schrillen jüdischen Protagonisten – wie in seinem Bestseller "Supertex" – und ihrem sarkastischen Humor findet sich keine Spur. 1981 traut sich Leon de Winter noch nicht, die – wie er zu sagen pflegt – verrückten Juden seiner Kindheit zu portraitieren. Zu dieser Zeit weiß der 27-Jährige noch nicht, ob er sich nach seinem ersten Film "Suche nach Eileen" und dessen Erfolg dem Kino oder der Literatur zuwenden will. Der Sohn des reich gewordenen Lumpensammlers aus 's Hertogenbosch traut sich noch nicht an die Öffentlichkeit. Insofern ist der an der Place de la Bastille herumirrende Zwilling Paul de Witt auch keine ausgeprägt jüdische Figur, auch wenn ein jüdisches Motiv dem ganzen unterliegt.
    "Nein, das stimmt. Dazu hatte ich noch nicht den Mut. Es war auch nicht Teil dieses Themas. Paul de Witt ist verheiratet in eine Nicht-jüdische Frau. Das Jüdische spielt kaum eine Rolle in dieser Familie, aber diese Hintergrund, diese Idee, dass er weiß, was da in seiner Vergangenheit passiert ist. Diese Idee, wie er zur Welt gekommen ist. Und dass er vielleicht einen Zwillingsbruder hatte. Was bedeutet das. Was ist das Schicksal, warum hat er überlebt. Hat er ein Recht auf ein Leben gehabt und sein Zwillingsbruder – der zur gleichen Zeit auf die Welt gekommen ist – hatte das Recht verloren, offensichtlich. Das sind Fragen die man kaum beantworten kann. Aber die man ohnehin stellen sollte. Ist das etwas Jüdisches? Ja, bei Überlebenden ist das... ich kenne kaum jemand, der diese Zeit überlebt hat oder als Kind erlebt hat, der nicht diese Fragen stellt. "

    Auch in seinem nächsten Roman – so viel kann schon verraten werden – wird sich Leon de Winter diesen Schuldfragen stellen, dann aus der Sicht eines palästinensischen Flüchtlings im Nahen Osten. "Right of Return" sagt er, sei der Titel seines demnächst erscheinenden Romans. Mit "Place de la Bastille" hat er in einem packenden Vexierspiel die Leitlinien dieses Identitätskonfliktes skizziert. Verwunderlich, dass das Buch erst jetzt auftaucht.