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Ein Dorf im Zwiespalt

Seit anderthalb Jahren leben zwei Sexualstraftäter in dem kleinen Ort Insel in Sachsen-Anhalt. Ein Gericht hatte sie zu fünf Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Nach zwanzig Jahren kamen sie frei. In Insel sind sie nicht willkommen.

Von Susanne Arlt | 10.01.2013
    Willkommen steht auf einem hölzernen Schild am Ortseingang. Auf den ersten Blick wirkt Insel wie ein normales Dorf: verwinkelte Straßen mit Kopfsteinpflaster, gepflegte Vorgärten, zweistöckige Backsteinhäuser. Kurz bevor die Hauptstraße nach rechts abknickt, parkt ein großer, dunkelgrüner Polizeiwagen am Straßenrand. Das Auto blockiert die Einfahrt eines unsanierten Hauses. Wer hinein will, muss an den Beamten vorbei.

    Seit anderthalb Jahren leben hier Günter G. und Hans-Peter W. Beide Männer saßen über 20 Jahre lang in der Sicherungsverwahrung. In den 70er- und 80er-Jahren hatten sie mehrfach Frauen vergewaltigt. Beide wurden zu fünf Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Erst durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kamen sie wieder frei. Insel sollte ihre neue Heimat werden - doch nicht jeder im Dorf lässt sie. Dorfbewohner gründeten eine Bürgerinitiative, der Ortsbürgermeister organisierte Demonstrationen, lautstark forderte man ihren Wegzug. Schnell protestierten Neonazis mit. Schließlich schalteten sich Landespolitiker ein. Auch sie wollten die beiden anfangs zum Wegzug überreden. Sören Herbst, rechtspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, kritisiert darum bis heute die schwarz-rote Landesregierung.

    "Ich glaube, von Anfang an hat Politik hier in Insel nicht stark genug mit einer Stimme Haltung bekannt und ganz klar gesagt: Wir können es nicht dulden, dass gegen unsere Mitmenschen demonstriert wird, ihre Vertreibung aktiv betrieben wird. Und ich glaube, das ist einer der Grundfehler, die gemacht wurden, weil Menschen dann hier im Ort das Gefühl bekommen haben, an diesen Vertreibungsforderungen könnte etwas Legitimes dran sein, und das ist grundfalsch."

    Sören Herbst ist an diesem Wintermorgen mit Hans-Jochen Tschiche nach Insel gefahren. Gemeinsam mit dem Bürgerrechtler und früheren Grünen-Abgeordneten möchte er die beiden Männer besuchen. Sie öffnen das Gartentor, steigen die steinerne Treppe hinauf zur Wohnung der beiden. Der über 80-jährige Tschiche ist einer der wenigen, die sich von Anfang an um die beiden Männer gekümmert haben.

    "Ich denke, jeder hat eine Chance, noch einmal neu sein Leben zu versuchen, und daran arbeite ich hier. Insel ist ja unterdessen so ein Symbol für ganz Deutschland geworden. Und ich hoffe, dass ich mich daran beteiligen kann, dass man einen anderen Umgang mit ehemaligen Sicherungsverwahrten versucht in unserer Gesellschaft durchzusetzen, zumindest mehrheitlich. Dass man also erkennt, jeder Mensch hat das Recht auf eine neue Chance."

    Er besucht sie darum regelmäßig, fährt mit ihnen in den Zoo, lädt sie zum Grillabend ein. Günter G. und Hans-Peter W. nennen Hans-Jochen Tschiche inzwischen liebevoll Opa.

    Günter G. stellt Tassen mit dampfendem Kaffee auf den Tisch. Die Stimmung ist freundschaftlich. Und die Stimmung im Dorf? Günter G. zuckt mit den Achseln, mit Journalisten möchte er nicht mehr reden. Zumindest nicht ins Mikrofon. Seit einem halben Jahr schallen keine laustarken "Raus aus Insel"-Rufe mehr durchs Dorf. Das Oberverwaltungsgericht hat die Demonstrationen untersagt. Die Richter argumentierten unter anderem mit der pogromartigen Stimmung. Als die Landesregierung nach vielen Monaten klarstellte, dass die beiden Männer das Recht haben, in Insel zu wohnen, brach die Bürgerinitiative auseinander. Seitdem organisieren noch siebzehn Dorfbewohner sogenannte Spaziergänge. Dann laufen sie durch das Dorf bis zu unserem Haus, erzählt Günter G. Viele im Dorf möchten mit Journalisten nicht mehr reden. Waltraud Klingbeil ist da eine Ausnahme.

    Die 71-jährige Rentnerin steht im Garten der beiden; zeigt auf zehn junge Obstbäume. Die hat Günter im Sommer gepflanzt, erzählt sie. Den Rasen hat er akkurat gemäht, das Laub zusammengeharkt. Vor zwei Jahren sei dieser Garten noch ganz verwildert gewesen. Dann sind Günter G. und Hans-Peter W. in das verwahrloste Haus eingezogen. Viele im Dorf hätten sich anfangs noch darüber gefreut, erinnert sich Waltraud Klingbeil. Als dann bekannt wurde, dass sie wegen Vergewaltigung jahrelang in der Sicherungsverwahrung saßen, sei auch sie anfangs verunsichert gewesen.

    "Und dann habe ich mich an einem Sonntag aufgemacht und bin zu den beiden Männern hin, habe geklopft und die waren begeistert, schön, jetzt kommt einer und unterhält sich. Und da habe ich dann gefragt. Und dann haben die mir eine Tasse Kaffe angeboten und gesagt, ja das erzählen sie gerne."

    Schließlich bietet sie den Männern ihre Hilfe an, lässt ihre Telefonnummer da. Nach über 25 Jahren Haft haben sie das Leben in Freiheit ganz sicher verlernt, glaubt Waltraud Klingbeil. Sie geht mit den beiden einkaufen, begleitet sie bei Behördengängen. Nur wenige im Dorf können das verstehen, die meisten sind entsetzt, wechseln bis heute die Straßenseite, wenn sie Waltraud Klingbeil sehen. Die Spaziergänge finden auch vor ihrem Haus statt, hinzu kommen Beleidigungen, anonyme Anrufe, sogar Morddrohungen.

    "Man würde mir das Haus anzünden, man würde mich umbringen, aber das hält mich von meiner Gesinnung nicht ab. Ich bleibe dabei, die Menschenrechte, die sind wichtig und die sollte man einfach achten. Und das steht im Grundgesetz drin, Artikel eins: Die Würde des Menschen ist unantastbar."

    Im Oktober ist der gesamte Ortschaftsrat zurückgetreten. Das Land habe den 450-Seelen-Ort mit dem Problem alleine gelassen, schreiben die ehemaligen Ratsmitglieder. Im März soll es Neuwahlen geben. Auch wenn sich viele Dorfbewohner inzwischen still verhalten, Waltraud Klingbeil bleibt skeptisch.

    "Ich habe Befürchtungen, dass wir ein braunes Dorf werden. Ich habe Befürchtungen, dass von den Nazis sich etliche in den Ortschaftsrat wählen lassen und demzufolge wir doch ein braunes Dorf werden und dann die wenigen, die sich öffentlich zu den Menschenrechten bekennen, dass die dann eben mundtot gemacht werden."