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Ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte

Die Schüler stellen sich, nach Klassen geordnet in Zweierreihen auf, um in ihre Klassenräume zu gehen. Ein Lehrer kommt auf sie zu:

Von Simone Hamm | 22.01.2005
    Seine hagere Gestalt baute sich bedrohlich vor Erich auf, der schmächtig und klein für sein Alter, gerade mal auf die Brust mit dem Parteiabzeichen starren konnte. "Levi, kam es von oben," Levi du wirst dich ganz hinten mit deinen Verwandten aufstellen. Mit 'ganz hinten’ meine ich am Schluss, hinter den Sextanern.

    Die drei Jungen gehen zurück. Sie spüren die Blicke der anderen Schüler, die hören deren Lachen. Sie fühlen sich unwohl, sie versuchen zu begreifen, warum sie so abseits gehen müssen.
    Die drei Jungen stammen aus der Familie Levi, sind jüdisch. Der Schulhof ist der Schulhof eines deutschen Gymnasiums in Ellwangen. Im Jahre 1933.

    In ihrem Roman "Etwas bleibt" beschwört Inge Barth - Grözinger gekonnt die unheimliche Atmosphäre herauf, die nach 1933 geherrscht haben muss. Anfangs stehen noch einige Kinder zu ihren jüdischen Mitschülern am Gymnasium in Ellwangen, greifen ein, wenn sie schikaniert werden. Dann wenden sie sich ab, schauen weg. Sie haben Angst, selbst bedroht zu werden. So genau wollen sie gar nicht wissen, wie es ihren jüdischen Freunden geht. Eine unheilvolle Entwicklung nimmt ihren Lauf.

    Das ist genau der Punkt, der mich am Anfang auch mit am meisten fasziniert hat, dieses Schleichende, dieses Unheimliche, das da in das Leben dieser Menschen hineingreift. Was bedeutet das für eine Mutter, die plötzlich erlebt, dass sie nicht mehr gegrüßt wird, dass sich Freundinnen von ihr abwenden, dass die Kinder plötzlich verprügelt werden, schlechte Noten bekommen ohne das sie wissen, warum. Der Vater, der vor dem wirtschaftlichen Ruin steht, weil nicht mehr bei ihm eingekauft wird. Das Vieh wird nicht mehr gekauft. Die Bauern wenden sich ab. Das wollte ich einfach so dicht wie möglich auch anderen jungen Menschen nahe bringen, was bedeutet denn das für eine Familie, die plötzlich ausgegrenzt wird.

    Hauptperson in "Etwas bleibt" ist der etwa 14- jährige Erich Levi, Sohn eines angesehenen Viehhändlers, der mit seinen Freunden am Fluss spielt, sich mit seinem jüngeren Bruder zankt, für die Schule lernt. Ein ganz normaler Junge also, gut aufgehoben in der Klassengemeinschaft. Bis zur Machtergreifung der Nazis.

    Eines Nachts werden die Levis von Peter, der sich um ihr Vieh kümmert, geweckt. Sie hören Gegröle und Geschrei und dazwischen das ängstliche Muhen der Kühe. Sie laufen zum Stall an der Jagst. Auf der Brücke bleiben sie wie gelähmt stehen.

    Erich schloss für eine Sekunde die Augen, als könne er so das Bild verscheuchen, das sich ihm bot, aber es blieb da und plötzlich war ihm, als seien die Geräusche so intensiv, dass er sie nicht mehr ertragen konnte. Und das Bild brannte sich in die Tiefen seiner Seele ein und er würde es nie wieder vergessen können.

    Männer in Uniformen treiben mit brutalen Stockschlägen das Vieh heraus. Sie hetzen die Kühe direkt in den Fluss. Eine Gruppe von Männern in Zivil brüllt: "Zugabe."
    Zuerst sind die Menschen vor dem Stall nur eine Masse für Erich:

    Die eine Szene, als Erich vor der Menge der alkoholisierten SS und SA Leute steht und sagt, das sind alles Uniformen und plötzlich fällt ihm auf, dass die Menschen auch Gesichter haben und völlig erstaunt darüber ist, dass sich hinter diesen Gesichtern Menschen verbergen, die er eigentlich kennt.

    Es sind Nachbarn, die mitmachen und Nachbarn, die reglos zuschauen. Und doch bilden sie als Nazis zunächst eine amorphe Masse, sind jeglicher Persönlichkeit beraubt.

    Aber Persönlichkeiten gibt es auch in Ellwangen. Menschen, die Zivilcourage haben. Etwa Erichs Freund Helmut, der als einziger bis zum Schluss zu Erich steht. Es ist eine besondere grausame Ironie der Geschichte, dass der Junge, der Vorbild ist für Helmut, der Junge, der so gegen die Nazis war, den Krieg nicht überlebt hat. Er ist, so erfahren wir im Anhang, in Russland gefallen.

    Dann ist da der Wirt Bieg, der Julius Levi bedient, auch wenn er dafür angepöbelt wird. Oder die Schwestern Pfisterer, die Vermieterinnen, die die Levis nicht nur wohnen lassen, sondern auch noch die von Nazis zerschmetterten Fensterscheiben reparieren lassen, und die immer ein paar Süßigkeiten für die Kinder bereit halten. Es gelingt Inge Barth – Grözinger das kleinstädtische Milieu sehr differenziert darzustellen. Wenn Jugendliche heute verstehen sollen, was damals geschah, kann man nicht nur schwarz-weiß malen.

    Ich wollte natürlich eine Bandbreite von Verhalten darstellen. Diese Figuren, die sie gerade beschrieben haben, sind historisch verbürgt. Diese Menschen haben gelebt und waren tatsächlich so widerständig, wie ich sie beschreiben habe. Ich wollte den Lesern das vorführen, dass es auch diese Möglichkeit gab. Ein solches Widerstehen der Gewalt und der Macht, das war mir wichtig, das aufzuzeigen.

    Für die meisten Personen, die in "Etwas bleibt" vorkommen, hat es also reale Vorbilder gegeben. Aber eine Person stammt doch aus der Phantasie Inge Barth – Grözingers: das Mädchen Gertraud. Die Ellwanger, die Erich Levi gekannt haben, erzählen übereinstimmend, wie schön und charmant er gewesen sei. Ein richtiger Mädchenschwarm. Im Roman verliebt Erich sich ausgerechnet in die Nichte des grausamen Deutschlehrers, einen besonders eifrigen Parteigänger, der ihn nur zu gerne quält. Deshalb können sich Gertraud und Erich nur heimlich treffen. Postillion d’amour ist zunächst der Freund Helmut:

    Helmut sah ihn immer noch unverwandt an. "Vor langer Zeit gab es einmal ein jetzt weltberühmtes Liebespaar. In Italien, genauer gesagt in Verona. Romeo und Julia hießen sie, wie du dich sicher erinnern wirst. Bedauerlicherweise haben sie ihre Liebe nicht überlebt....Erich pass auf, das ist kein Spiel!"

    Was bedeutet das, wenn dieser Riss auch durch die ersten Beziehungen geht, wenn ein junger Mensch auch auf dieser Ebenen plötzlich seinen Traum zerstört bekommt . Dass nun die Beziehung zur Gertraud eine ganz und gar unmögliche ist, das wird ja aus den ganzen Umständen ersichtlich.

    Wider alle Vernunft treffen sich Erich und Gertraud heimlich – bis sie entdeckt werden. Gertraud wird sofort auf ein Internat geschickt. Lange wartet Erich vergeblich auf ein Zeichen von ihr.
    Erich Levi muss die Schule verlassen, darf kein Abitur machen. Er geht nach Pirmasens, macht eine Lehre als Kaufmann. Einmal kehrt er in seine Heimatstadt zurück, geht auf den Schulhof. Seinen ehemaligen Mitschülern erzählt er, wie erfolgreich er sei. Er erschrickt über sich selbst, seine Angeberei, seine Reden übers Geld.

    Was tue ich da ?, hatte er verzweifelt gedacht. Ich bin genauso, wie sie mich haben wollen, bin der schmierige, geldgierige Jude und jetzt brauchen sie auch kein schlechtes Gewissen mehr zu haben.

    Das war mir eine ganz wichtige Stelle…Weil ich glaube, dass man in diesem Prozess der Stigmatisierung, wo man ja die ganzen Vorurteile bemüht hat, die Leute auch in die eigenen Rollenbilder hineingetrieben hat. Am extremsten zeigt sich das ja nun, wenn man die Bilder aus den KZ’s sieht, wo ja nichts mehr Menschenähnliches an diesen Menschen war. Man hat sie wirklich zu Untermenschen ausgehungert und geprügelt.

    Die Vorurteile treiben die jüdischen Menschen geradezu hinein in bestimmte Verhaltensweisen. Indem Erich angibt mit Schnäppchen, die er gemacht hat, erfüllt das Klischee vom geizigen, geschäfttüchtigen Juden. Und die braven Bürger können sich bequem zurücklehnen und sagen, seht’ her, so sind die Juden.

    In ihrem Roman "Etwas bleibt" gibt Inge Barth–Grözinger eine Antwort auf die Frage, die junge Menschen von heute unter den Nägeln brennt: Wie konnte es dazu kommen, dass Juden ausgegrenzt, verfolgt, schließlich ermordet wurden. Sie schildert, wie auf dem Schulhof mehr und mehr Naziuniformen zu sehen waren, sich weniger und weniger Widerstand regte, das Land gleichgeschaltet wurde.

    Sie schont ihre sympathische Hauptfigur Erich nicht, schildert ihn in allen seinen Facetten, schildert seinen Charme, seine Intelligenz, seine Treue aber auch seine Unsicherheit, seine Wut, seine Arroganz und seine Zweifel:

    Tief in seinem Inneren war noch etwas anderes, ein Gedanke, den er nicht weiterdenken wollte, den er zu unterdrücken versuchte. Aber schließlich musste er sich eingestehen, dass er ihnen grollte, ihnen beiden, Vater und Mutter. Er war wütend auf sie und wusste nicht genau warum. Und da war er, der Gedanke, der doch nicht gedacht werden durfte und der sich jetzt sogar auf seine Lippen drängte. Lautlos sprach der den Satz: "Und wenn ich kein Jude wäre?.

    Das schien mir eigentlich eine ganz logische und normale Reaktion. Das ist ein junger Mensch in der Pubertät, in einem ganz, ganz schwierigen Alter, in einem ganz schwierigen Reifeprozess befangen. Und dieser Junge erfährt nun mit voller Wucht dieses Ausgegrenztwerden, dieses Zerfallen der ganzen Lebensträume, dieses Zerfallen der ganzen Bindungen. Und ich denk’, es ist doch nur normal, dass sich manchmal eine Art von Aversion, eine Art von Aggression gegen das entwickelt, was einen fremd macht, was einen in den Augen der anderen stigmatisiert. Das ist ja eine Zeit in der man seine eigenen Identität sucht und ich glaube schon und ich halte es fast für zwanghaft normal und natürlich, dass ein junger Mensch bei dieser Identitätsfindung diesen Teil der Identität gerne abstreifen möchte.

    Gerade diese Unsicherheit, diese Momente der Verzweiflung rücken den Leser ganz nah an Erich heran. Inge Barth-Grözinger lässt den Leser mit leiden mit Erich, lässt ihn wütend und traurig werden: Ganz wie sie es sich vorgenommen hat, ein Sich hineindenken und Fühlen in Erich, in die Zeit. 1938 emigriert die Familie Levi. Erich Levi, von dem sein Sohn sagt, dass ihn Zeit seines Lebens eine große Traurigkeit umgeben habe, stirbt in Amerika.

    Ein großartiges Jugendbuch über das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte ist Inge Bart - Grözinger gelungen – und ganz gewiss nicht nur für junge Leser.

    Inge Barth-Grözinger: Etwas bleibt. Thienemann. 448 Seiten. 18 Euro