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Ein Echo Becketts

Als "Echo" auf Becketts Theaterstück "Das letztes Band" möchte Peter Handke seinen Monolog "Bis dass der Tag euch scheidet" verstanden wissen: Eine Stimme spricht zu Krapp, dem Protagonisten des Beckett-Schauspiels - ein Nachhall, eine vernehmbare Nachwirkung der klassischen Moderne.

Von Martin Lüdke | 23.07.2009
    Unser aller Handke: Er war und ist immer für Überraschungen gut - für Provokationen ebenso wie für sanftmütige Demutsgesten. Er war der letzte Vertreter der klassischen Moderne und wurde, nach seiner "Langsamen Heimkehr" der erste ernst zu nehmende Gottsucher der Gegenwart. Er blieb, trotz allem, ein Markenartikel.

    Doch die Nachfrage ging, von Jahr zu Jahr, immer weiter zurück. Handke reagierte darauf. Trotzdem blieb er sich treu; in der Anbetung ebenso wie im heiligen Zorn. Jetzt präsentiert er wieder einmal den kleinen Peter, der zu seinen großen Vorbildern bewundernd aufschaut - und ihnen dennoch, hinterrücks und etwas heimtückisch, am Lack kratzt. Sein Blick geht also zurück: 40 Jahre.

    Ein Monument der klassischen Moderne wurde damals präsentiert. Die Zeitzeugen sahen einen unvergleichlichen Triumph. In Wahrheit wohnten sie, wie sich erst später herausstellen sollte, einer grandiosen Totenfeier bei. Zu Grabe getragen wurde, unter dem rauschenden Beifall eines bürgerlichen Publikums, nicht nur das Drama, sondern die - moderne - Literatur überhaupt.

    Auch die Theaterkritik bejubelte das Ereignis, feierte den Regisseur, lobte den Schauspieler und pries das Stück, noch nicht einmal ahnend, dass sich das kleine Drama als großes Requiem erweisen würde. Am 5. Oktober 1969 war die Premiere. Samuel Beckett selbst hatte sein kurzes, nur 45 Minuten dauerndes Stück "Das letzte Band" in der Werkstatt des Berliner Schillertheaters inszeniert. Krapp wurde von einem der besten Schauspieler jener Jahre, von Martin Held gespielt. Die Aufführung ist übrigens in einem "Regiebuch der Berliner Inszenierung", Edition Suhrkamp 389, dokumentiert. Das Stück endete - im Schweigen.

    Der junge Schriftsteller Peter Handke, der erste Popstar unserer Literatur, war 1969, rechtzeitig genug, nach Berlin umgezogen. Gut möglich, sogar wahrscheinlich, dass er, der Verlagskollege des berühmten Dramatikers, Becketts Inszenierung gesehen hat. Auf jeden Fall nahm Handke jetzt, genau 40 Jahre später, die Fäden wieder auf, die Beckett mit seinem Werk überhaupt und nicht zuletzt mit diesem kleinen Drama in die Literaturgeschichte des letzten Jahrhunderts eingewoben hat. Vorderhand gibt Handke heute nun, scheinbar bescheiden, den Schüler des großen Meisters.

    Sehr eng lehnt er sich an sein Vorbild an. Das schmächtige, aber durchaus wichtige Büchlein "Bis dass der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts. Ein Monolog" umfasst, alles in allem, gerade mal 52 Seiten. Es enthält die "Französische Erstschrift", 2007 entstanden, und die "Deutsche Version" von 2008. Beckett hatte es immer ähnlich gehalten, die englischen oder französischen Originale stets selbst in die andere Sprache übertragen und in gemeinsamen Ausgaben veröffentlicht. Aber Beckett hatte sich allen Deutungen verweigert und stets auf seinen Text verwiesen; anders Handke.

    In einer Grundsatzerklärung, als Nachbemerkung deklariert und, doppelt genäht hält besser, als Handzettel dem schmalen Band noch einmal beigelegt, nennt Handke seinen Monolog weniger eine "Antwort auf 'Das letzte Band' von Beckett? Eher ein Echo". Fern im Raum und fern in der Zeit, doch nahe an Krapp, dem Helden. Handke sieht die Zäsur, die Beckett gesetzt hat. "Kann es sein", fragt er deshalb, "dass nach Beckett nur noch unsere sekundären Stücke gekommen sind", wie, zum Beispiel, seine eigenen? Könnte es auch sein, fragt er weiter, dass "keine Reduktion mehr möglich" ist, "kein Null-Raum" mehr? "Nur noch Spuren der Verirrten"? Ist der Irrweg unvermeidlich?

    Dabei scheint er, was sich als Manko erweisen könnte, an keiner Begründung interessiert, sondern allein am ästhetischen Exempel. Auch hier soll die Devise seiner großen Predigt "Über die Dörfer" gelten: "Glaubt mir, und haltet euch daran." Er sucht, scheint es zunächst, nach der puren Poesie, die Nachfolge. In Wahrheit geht es ihm um die Widerlegung.

    Dabei geht der Griff erst einmal ins Offene, genauer betrachtet, sogar ins Leere. Handke baut nämlich ein Luftschloss, um dann - das macht sein Drama aus - an der Ausstattung zu basteln.

    "Was sehe ich da? Schon die ersten Worte reißen einen Raum der Illusion auf. Eine 'Art Halluzination'? Denn das, was aussieht wie 'ein Grabmal für die römischen Ehepaare einstmals', zwei Figuren, aus dem Stein gehauen, eng nebeneinander, das täuscht, weil in dem 'Gegensatz' zwischen Mann und Frau ein ganz anderer Gegensatz aufscheint, der von Leben und Tod. Die Statue der Frau beginnt zu sprechen. Der Monolog beginnt. Es ist ihr Spiel. Allein ihre Stimme, die spricht. Sein Spiel ist ausgespielt. Krapp bleibt Statue, 'tot und hinüber'."

    Im Vergleich zum "Letzten Band" haben sich bei Handke die Verhältnisse umgekehrt. Im "Letzten Band" sitzt der alte Krapp, Bananen mampfend, vor einem Tonbandgerät und hört sich - bruchstückhaft - an, was er selbst, 30 Jahre zuvor, auf das Band gesprochen hatte, schon damals Erinnerungen an eine noch weiter zurückliegende Zeit, an eine Jugendliebe, "was für Augen sie hatte", an Liebesszenen, im "Boot", im "Schilf", sein "Gesicht in ihren Brüsten". Nörgelnd kommentiert er jetzt, vor dem Tonband hockend, sich, als den "albernen Idioten". Er grübelt über die vergangenen Zeiten: "Was ist schon ein Jahr, heutzutage? Bitteres Wiederkäuen und steinharter Stuhl." Und dann starrt er "bewegungslos vor sich hin. Das Band läuft weiter, in der Stille." Das Ganze endet - im Schweigen.

    Handkes Frau dagegen sagt: "Was war, ist jetzt - der Sommer, das Wasser, das Boot, das Schilf, die Stille." Sie erkennt den schmalen Raum, der ihr belassen ist: "Mein Platz war ausschließlich in deinen Sätzen, deinem 'Boot', in deinem 'Schilf'." Erkennt sie sich damit als sein Geschöpf? Nein. An dieser Stelle lässt Handke keinen Zweifel aufkommen: "Etwas wie eine Replik von mir hast du nie erwartet. Ja, nicht einmal ein Echo. Nicht einmal einen Hall." Sondern, hier legt er sich fest: "Du der Hall, und ich der Nachhall."

    Ein Dialog kommt bei ihm ebenso wenig zustande wie bei Beckett. Die Stimme, die zu Krapp spricht, soll als "Nachhall" verstanden werden. Das heißt, als die vernehmbare Nachwirkung der klassischen Moderne.

    Becketts Werk hatte mit den Sprachkaskaden von "Murphy" begonnen. Es endete bekanntlich im Schweigen. Und damit war die literarische Moderne ebenso an einem Endpunkt angelangt wie die moderne Musik mit John Cage etwa, oder die Malerei mit dem Werk von Lucio Fontana, der seine monochromen Farbquadrate zusätzlich noch mit einem Messer aufgeschlitzt hatte. Weiter geht es nicht. Irgendwann muss jede Reduktion an ihr Ende kommen. Fraglich bleibt freilich die Deutung dieses Prozesses. Hier liegt Handkes wahres Interesse. Er will nun die Rechnung noch einmal aufmachen.

    Die Frau, die zu Krapp spricht, hat nämlich, wie sie sagt, "entdeckt, dass du selber gar nicht an jenes Schweigen glaubtest, jenes Schweigen so anders groß als das der unendlichen Räume, das nicht bloß Blaise Pascal so erschaudern lassen hat." Der Vorwurf, den sie ihm macht: "du hattest kein Vertrauen in die stille Welt als der Weisheit letzter Schluss", dieser Vorwurf zielt über Krapp hinaus auf Beckett und auch über Beckett noch hinaus auf die kritische Grundhaltung der klassischen Moderne, die - etwas platt, dafür deutlich gesagt - nicht die Welt, so wie sie ist, anbeten, sondern, im Gegenteil, zum Besseren verändern wollte. Damals hieß es: Nur wenn das, was ist, zu ändern ist, ist das, was ist, nicht alles. Doch Handke will jetzt das Schweigen nicht länger die Reaktion auf die Schrecken der Welt verstanden wissen, sondern als unser demütiges Verstummen angesichts der Schönheit der Schöpfung.

    Handkes Haltung, die sich hier zeigt, scheint konsequent. Mit Beckett hat er sich den besten Gewährsmann ausgesucht. Wenn das Verstummen bei Beckett nicht kritisch, sondern affirmativ verstanden werden müsste, dann wäre die klassische Moderne auch nicht zu Ende gegangen, sondern an ihrem Ziel - vor dem Altar - angekommen. Dann hieße die Parole nicht länger: Alles ist möglich. Sondern: Hut ab, zum Beten!

    Dahin will uns Handke bringen. Ob wir mitgehen, ist eine andere Frage.

    Peter Handke: Bis dass der Tag euch scheidet
    oder Eine Frage des Lichts. Ein Monolog

    Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2009, 52 Seiten, 14,80 Euro