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Ein Familienroman vom Dorf

Der erste Roman von Marica Bodrozic, "Der Spieler der inneren Stunde", führt den Leser in eine mystisch-archaische, irgendwie aus Zeit und Raum gefallene Welt, die gleichwohl mit minutiöser Genauigkeit erinnert und aufgezeichnet ist. Er basiert auf den Kindheitserinnerungen der Autorin, die bis zu ihrem zehnten Lebensjahr bei ihrem Großvater in Dalmatien lebte, während ihre Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen waren.

Von Cornelia Staudacher | 08.06.2005
    Die Autorin beschreibt das Leben auf dem Dorfe, fernab der fortschrittlichen, technisierten, Welt mit Akribie und Leidenschaft. Sie zollt Menschen, Tieren, Pflanzen und auch den Dingen die gleiche Aufmerksamkeit. Marica Bodrozic erinnert ihr Leben in der dörflichen Abgeschiedenheit als ein Leben, in dem sich die Magie der Natur mit der Kargheit der Landschaft und den Strapazen des alltäglichen Lebens auf selbstverständliche Weise verbindet.

    "Wenn man (z-B.) wie ich auf dem Lande aufgewachsen ist, dann sieht man, wie das Wetter Einfluß hat auf die Menschen, wie die Winde unbedingt das Leben der Menschen bestimmen, ich erinnere mich, wenn (dann) die Bora kam, also dieser ganz starke Wind, wie man sich gegen diesen Wind wehren mußte, man flog manchmal einen Meter zurück, und dieses Erlebnis mit der Natur hatte unmittelbar etwas mit dem eigenen Körper zu tun, ich glaube, so etwas prägt sich dann wie ein Stempel ein, und ich habe ohnehin ein ganz verschmelzendes Verhältnis zur Natur, also ich kann Blätter, oder einfache Pflanzen, ich lese darin, ich schreibe an einer Stelle, es gibt eine Mitte immer von etwas, (....), und die Anforderung, die ich an mich selbst stelle, war, dies zu beschreiben, ohne es zu bewerten, sondern es einfach nur sprechen zu lassen, und mir auch sagen zu lassen, was ist das, was ich da erlebe, (....) und was bin ich als Mensch, wenn ich da so stehe und die Wolken treiben so dahin, ja manchmal habe ich auch gedacht, ich sollte Wolkenforscherin werden, oder so etwas. "

    Wolkenforscherin ist sie nicht geworden, aber der Impetus, den Geheimnissen der Welt auf die Spur zu kommen, hinter die Phänomene zu blicken, ist auch der legitimste Antrieb für ein Leben als Schriftstellerin. Instrument ihrer Forschungen ist allerdings nicht das Fernglas, das Okular oder die physikalische Formel, sondern einzig und allein die Sprache. Mit ihr lotet sie die Tiefen menschlicher Existenz aus, um, wie sie es nennt "im Hinterland des Hinterlandes fündig zu werden". Schreiben ist für sie ein Vordringen ins Innere der Bilder, wo sich immer wieder neue Fragen stellen und neue Bilder eröffnen, und man immer mehr über sich selbst erfährt.

    "Das ist für mich eine Art Familiengeschichte, ja, ein Familienroman, der sich zusammensetzt aus Familienbildern, aus Sprengseln, die ich zusammenführe und (....) verbinde durch die Sprache, die Bilder haben sich mir selbst erzählt, es ist so eine Art Schweben hineingekommen. Ich habe diese Familie sehr gern, weil sie mir auch etwas über mich erzählt, sie ist mir zwar auch wieder fern, aber doch merke ich, daß durch diese Familie ich selbst auch eine Erzählung geworden bin (lacht), und das habe ich versucht, in diesem Roman auch zu beschreiben, wie doch alles da ist, auch wenn es räumlich nicht zusammenkommt, wenn es auch zeitlich auseinanderdriftet, und in der Erinnerung merkwürdigerweise eins wird, so als gäbe es überhaupt keinen Raum, und als gäbe es überhaupt keine Zeit. "

    Schreibend fügt die Autorin die unzähligen zerbrochenen Erinnerugsstücke wieder zusammen. "Zusammensehen und –hören werden im Buch geboren", heißt es einmal. Wie in einem kubistischen Gemälde verbinden sich die einzelnen, versprengten Bildteilchen allmählich zu einem Gesamttableau der einst gemeinsam lebenden dörflichen Großfamilie. Indem sie die einzelnen Familienmitglieder wieder miteinander in Beziehung setzt, entsteht literarisch eine Gegenbewegung zur politisch-gesellschaftlichen Realität des 20. Jahrhunderts, das ein Jahrhundert des Weggehens, der Emigration war. Zentrale Person in ihrem Leben war und ist auch in dem Roman Nicola, der Großvater.

    "Er war die zentrale Figur, die Bezugsperson, die immer da ist, eine Art Orientierung, ein Gerüst, sagen wir mal, ein Garant der Erinnerung, (...), er war eine starke Figur, auch ein Glöckner wie Nicola, er hieß zwar anders, aber er ist dem Nicola sehr verwandt, und mir hat dieser Mann vielleicht nicht nur eine Kindheit, sondern den wahren Namen, wer ich bin, weil ich mich dadurch erfahren habe, ich bin ja ohne Eltern groß geworden, und das Spannende ist, eigentlich hätte er für mich sorgen müssen, aber ich habe für ihn gesorgt, ich habe für ihn gewaschen und gekocht, und es ist interessant für die eigene Biographie, das mit einem Mal zu entdecken, daß man als Kind eigentlich für jemand gesorgt hat, und daß man das in so großer Liebe getan hat, daß es nie Arbeit wurde. Und natürlicherweise hat dieser Großvater einen großen Raum eingenommen. "

    Aber auch die vielen anderen Mitglieder der Familie werden von der Autorin ebenso kunstvoll wie liebevoll in dieses Panoptikum der Erinnerung eingearbeitet. Sie beschwört eine verlorene Welt, indem sie sie in einen neuen Aggregatzustand verwandelt, den der Literatur. Es entsteht ein Panoramabild von sinnlicher Plastizität, in dem alle Sinne angesprochen werden. Bodrozics Roman ist ein synaesthetisches Fest. Aus Gerüchen und Geräuschen, Stimmen, Farbschattierungen und Gesprächsfetzen entsteht die eindringliche Aura des Romans. Die Erinnerungs- und Gedankenwelt Jelenas, des alter egos der Autorin, fungiert dabei gewissermaßen als Katalisator. "Ich fühlte, ich falle nicht aus der Welt", sagt Jelena einmal, "sie fällt in mich hinein".

    "Für mich ist das z.B. ganz natürlich (..) in manchen Formen Zahlen zu sehen oder mit einem bestimmten Geruch eine Melodie zu verbinden, irgendwie höre ich die dann, und beim Schreiben suche ich genau diese Momente, wo es in dieses Schweben hineingeht, und interessanterweise hat mir da immer mein Mandelbaum aus meiner Kindheit (..) geholfen, beim Schreiben bin ich nämlich immer in Gedanken in den Wipfel dieses Baumes geklettert und hab es geschafft, da etwas zu berühren, was einem scheinbar schon entglitten war, und ich habe bemerkt, daß die Natur das speichert, und dass es in der Sprache genau diese Synapse gibt, die einen genau an diesen Punkt wieder zurückführt, und das hat mir diesen Atem gegeben. "

    Es ist eben dieser Atem – einmal nennt sie ihn himmelnah -, der wesentlich zum Gelingen des Romans beiträgt. In ihm schlägt sich das besondere Verhältnis der Autorin zur deutschen Sprache nieder. Einer Sprache, die sie erst mit zehn Jahren kennen und zu sprechen gelernt hat, und die ihr, wie sie, Bronsky zitierend, sagt, zum Schicksal wurde. Einer Sprache, der sie sich im Innersten verbunden fühlt und zu der sie einen unverbrauchten, von Konventionen unbehelligten, freien Zugriff hat. Es ist eine Mischung aus Distanz und Nähe, aus Beschwörung und Genauigkeit, die ihr Verhältnis zur deutschen Sprache prägt, und sich in eigenwilligen Brechungen, überraschenden Wendungen und gewagten Wortkombinationen niederschlägt.

    "Jeder Sprachmensch weiß, dass man die Brüche und Lücken braucht, um zur Sprache zu gelangen, und daß das, was man riskiert, nicht nur die Sprache ist, sondern das ganze eigene Leben. "

    Nach Erscheinen ihres ersten Erzählungsbandes mit dem Titel "Tito ist tot" wurde Marica Bodrozic von einigen Kritikern vorgehalten, es fehle den Geschichten an einer politischen Dimension. Gegen diese Erwartungshaltung, die vorwiegend von einem westlichen Publikum zu hören sei, setzt sich Marica Budrozic, die sich ganz der Literatur verschrieben hat und außerordentlich belesen ist, leidenschaftlich zur Wehr:

    "Ich weiß, man hat mir diesen Vorwurf auch schon gemacht, aber ich glaube, daß der osteuropäische oder aus Osteuropa stammende Autor, wie das Danilo Kis einmal so schön gesagt hat, nicht nur das Recht und die Pflicht hat, ein homo politicus zu sein, sondern auch jemand, der liebt, ein homo poeticus, der auch über die Liebe schreibt. ..... Ich kann die Erwartungshaltung des Westens verstehen, sie drückt ein Wissenwollen aus, aber ich fühle mich nicht verpflichtet, dem nachzukommen, nur weil ich dort geboren bin. Ich interessiere mich durchaus auch dafür, warum André Breton seine Nadja im Irrenhaus einsperrt, (.....), das beschäftigt mich auch, und ich möchte das auch literarisch auskundschaften, (.....), also dieses Recht möchte ich mir nehmen, mich mit Dingen zu beschäftigen, die außerhalb meiner politischen Biographie liegen. "

    Wenn es einem westlichen Leser überhaupt zukommt, der Autorin ein Recht zuzusprechen, so sei gesagt, daß wir uns noch viele Romane von Marica Bodrozic wünschen, einerlei ob sie diesseits oder jenseits ihrer politischen Biographie liegen. Wenn sie denn von derart poetischer Strahlkraft und menschlicher Einfühlungskraft sind wie "Der Spieler der inneren Stunde". Wie sich in ihm unter dem Gebot der Erinnerungsarbeit der kindliche Blick des in seiner Einsamkeit früh erwachsen gewordenen Mädchens in Literatur, genauer in Poesie verwandelt, das zeugt von einem harmonischen Verhältnis der Autorin zwischen Herz und Hirn, zwischen Gefühl und Intellekt: Ein Roman, der auf exemplarische Weise das Diktum Saint-Exupérys bestätigt, man sehe (und schreibe) nur mit dem Herzen gut.

    "Der Spieler der inneren Stunde"
    Von Marica Bodrozic
    (Suhrkamp Verlag)