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Ein Fotoreporter der ersten Stunde

Henri Cartier-Bresson war nicht nur Fotograf, er war auch Maler, Filmemacher, Surrealist, ein Reisender zwischen den Welten, der die Widersprüche unterschiedlicher Kulturen und politischer Systeme mit seiner Leica festhielt. Der Weltbürger beharrte stets darauf, dass er die 500 Foto-Reportagen, die er in vier Jahrzehnten publizierte, stets zum eigenen Vergnügen gemacht habe.

Von Carmela Thiele | 22.08.2008
    "Hey, Leute, dieser Kerl ist in der Fotografie, was Louis Armstrong für uns ist."

    Ein Musiker im Dixieland, einem der legendären Jazz-Clubs von Harlem, hat Henri Cartier-Bresson gesichtet, wie er mit der Leica um das Handgelenk zwischen den Tischen umhergeht. Der blasse, hochgeschossene Franzose liebt den Jazz, doch verfallen ist er der Fotografie.

    " Die Momentaufnahmen von Henri Cartier-Bresson halten den Menschen in Höchstgeschwindigkeit fest, ohne ihm Zeit zu lassen, oberflächlich zu sein. In einer Hundertstelsekunde sind wir alle gleich, sind wir alle im Zentrum unserer Menschlichkeit."

    Das schreibt der Philosoph Jean-Paul Sartre um 1954 im Vorwort zu Cartier-Bressons Bildband "China - gestern und heute". Der Fotograf befindet sich auf dem Höhepunkt seines Ruhmes. Indien, Pakistan, Birma: Gemeinsam mit seiner ersten Frau Ratna bereist er in den 1950er Jahren Asien und liefert Bilder, die von Magnum Photos an Zeitschriften in aller Welt verkauft werden. Cartier-Bresson gehört mit dem Kriegsberichterstatter Robert Capa zu den Gründungsmitgliedern von Magnum, der ersten Foto-Agentur, die gegenüber den Verlagen auf das Copyright der Fotografen pocht. Capa rät dem Kollegen früh:

    " Hüte dich vor Etiketten. Sie geben Dir Sicherheit, doch wenn Du sie ständig angehängt bekommst, wirst Du sie nie wieder los. Man könnte Dir das des ... surrealistischen Fotografen zuweisen, Du wirst Dich dabei verlieren, gespreizt und manieriert werden. "

    Surrealist? Der am 22. August 1908 im französischen Départment Seine-et-Marne als Sohn eines Textilfabrikanten geborene Henri scheitert am Abitur, begeistert sich aber für Literatur und Kunst. Im Alter von 19 Jahren tritt er in die Pariser Maler-Akademie von André Lhote ein. Magisch angezogen wird er von den Thesen der Surrealisten, deren Nähe er sucht. Der Objektive Zufall, ein Begriff, den André Breton prägte, deckt sich mit seiner Auffassung von Fotografie, die er zu Beginn der dreißiger Jahre mehr und mehr als sein Medium erkennt. Gemeint ist der Augenblick, in dem die Dinge - inmitten des alltäglichen Chaos - zu etwas Bedeutsamem gerinnen. Um diesen entscheidenden Moment zu erwischen, soll der Fotograf so gut wie unsichtbar sein, sagt Cartier-Bresson:

    " Ich will nicht, dass man mich als Berufsfotografen erkennt, je anonymer ich bin, desto besser kann ich heran an meinen Gegenstand. Am allerliebsten möchte ich unsichtbar sein. Aber im tieferen Sinne: Ich will nicht der Gesehene sein, sondern der Sehende. Die Kamera ist dann nur die Fortsetzung meines Auges."

    " Wir haben übrigens nie zusammengearbeitet. Aber er sagte, er wollte immer sein wie eine Fliege an der Wand, ganz und gar unauffällig."

    Die Magnum-Fotografin Martine Franck heiratet die Legende unter den Fotoreportern, als Cartier-Bresson schon offiziell seinen Abschied von seiner Profession verkündet hat. Seit 1970 konzentriert sich der nun 62jährige auf das Zeichnen. Überhäuft mit Ehrungen, beharrt der Weltbürger darauf, dass er die 500 Foto-Reportagen, die er in vier Jahrzehnten publiziert hat, zu seinem eigenen Vergnügen gemacht habe. Solche Widersprüche kennzeichnen die Persönlichkeit des Anarchisten unter den Fotografen.

    Viele Autoren rühmen die harmonischen, bildhaften Kompositionen der Momentaufnahmen von Cartier-Bresson. Es sind jedoch die Dissonanzen, die sein Werk zu etwas Besonderem machen. So fotografiert der Franzose die Skyline von Manhattan mit halbverfallenen Docks im Vordergrund. Anstatt die Krönung Georg VI. von England in Szene zu setzen, beobachtet der Fotograf die erschöpften Schaulustigen in den Parks. Letztendlich sind es aber die historischen Umbrüche, das Ende des Zweiten Weltkriegs oder die Geburt des kommunistischen China, die den Künstler in einen engagierten Fotoreporter verwandeln. Der Maler Avigdor Arikha über seinen 2004 gestorbenen Freund Cartier-Bresson:

    " Das ist immer politisch, er will immer links sein, aber sein Temperament war immer grand bourgeois."