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Ein Freudentag nach der Trauerzeit

Das Lag Ba'omer Fest ist im jüdischen Glauben ein Freudenfest, bei dem Feuer entzündet, Süßigkeiten und Kartoffeln gegessen werden. Mit dem Fest wird an den Bar-Kochba-Aufstand gegen die Römer erinnert. Das Fest markiert das Ende einer Trauerzeit, in der fromme Juden bis heute der Katastrophen und Pogrome gedenken, die Juden durchlitten haben.

Von Gretel Rieber | 10.05.2009
    Es ist Mittag in dem frommen Städtchen Safed in den Bergen Galiläas, in der Nähe des Sees Genezareth, des Kinneret. Die Sonne brennt auf das Zeltdach, das den großen Hof vor dem Haus der Familie Abbo überspannt, dessen Außenmauern in leuchtendem Safed-Blau gestrichen sind. Bunte Fähnchen wehen im kräftigen Wind.

    Obwohl es auf dem Hof schon voll ist, drängen immer mehr Menschen herein: einige Frauen in langen Röcken und mit einer Kopfbedeckung, wie sie religiöse Jüdinnen tragen, andere in Jeans, die Männer mit Kippa oder Baseballkappe, viele mit weißen Zizit, die unter den Hemden heraushängen, den Schaufäden an den Ecken des kleinen Gebetsumhangs, den fromme Juden täglich unter ihrer normalen Kleidung tragen; manche Männer mit schwarzem Hut und langen Schläfenlocken, dem Zeichen ultraorthodoxer Juden.

    Traditionell religiöse, säkulare und religiöse Israelis drängen sich im Hof der Abbos, Männer und Frauen gemeinsam, auch ein paar Touristen sind in der Menge. Einige Männer und ein paar kleine Jungen tanzen in der Mitte des Hofes zum Klang der fünfköpfigen Klezmerband, die mitreißende religiöse Lieder spielt.

    Frau Abbo und ihre Tochter, beide nicht orthodox und deshalb in kurzen, leuchtend roten Röcken, die handbreit über dem Knie enden, drängeln sich durch die Menge und bieten Kaffee, Wasser, Arak, Melonenstücke, Kuchen, Sandwichs und Süßigkeiten an. Dies sei eine Mitzvah, die Erfüllung einer religiösen Pflicht, sagt Judith Abbo, die Frau des jetzigen Oberhauptes der Familie Abbo:

    "Diese Familie kam vor 200 Jahren hierher und sie kaufte den Berg Meron, weil dort das Grab von Rabbi Shimon Bar Jochai ist, der zusammen mit seinem Sohn gegen die Römer rebellierte. Das Familienoberhaupt lebte hier in Safed und baute die vom Erdbeben zerstörten Synagogen wieder auf. Als Akt der Dankbarkeit kaufte die Gemeinde ein Torarolle und gab sie ihm. Die Gemeinde wollte, dass jedes Jahr die Tora, von diesem Haus ausgehend, auf den Berg Meron getragen würde."

    Diese Tradition, die der reiche jüdische Händler Schmuel Abbo, der 1817 aus Algerien eingewandert war, begründet hatte, wird nun schon seit 177 Jahren in der fünften Generation fortgesetzt. Es ist laut und heiter bei den Abbos, eine Frau trillert vor Begeisterung wie es die Araberinnen bei einer Hochzeit tun. In Safed, dem alten Städtchen mit den wunderschönen Synagogen und den Ateliers frommer Künstler, wird der Beginn von Lag Ba'omer gefeiert. Später am Abend wird das Fest mit dem großen Freudenfeuer auf dem Berg Meron, beim Grab des Shimon bar Jochai, und vielen kleinen Feuern überall auf dem Berg weitergehen. Und an Zehntausenden von Lagerfeuern überall in Israel wird auch getanzt und gesungen und die traditionellen Kartoffeln gebraten.

    Auf dem Hof der Abbos ist die Torarolle in ihrem silbernen zylinderförmigen Behälter hinter einem blausamtenen Vorhang verborgen. Ab und zu tritt jemand vor den Vorhang, schiebt ihn kurz zur Seite: Man kann einen Blick werfen auf den über und über mit Blumen und bunten Seidentüchern geschmückte Zylinder, dann fällt der Vorhang hinter dem Betenden, nur die Schuhe sind noch zu sehen. Die Lehrerin einer Vorschulklasse führt Kinder herbei und zeigt ihnen den silbernen, geschmückten Behälter.

    Arnon Bruckstein lebt und arbeitet in Jerusalem. Er ist Lehrer für jüdische Religion, Philosophie und jüdische Geschichte, außerdem ist er Reiseleiter. Zurzeit studiert er an einem Rabbinerseminar in der Altstadt von Jerusalem, um Rabbiner für eine nicht-orthodoxe, traditionelle Gemeinschaft zu werden.

    Omer, so erklärt er, bedeutet das Zählen der Tage zwischen dem Opfer der ersten Getreideernte an Pessach bis zur Opfergabe der ersten Weizenernte am Wochenfest, Schawuot. Die Buchstaben L, Lamed, und G, Gimmel, - also Lag - bedeuten in Zahlen ausgedrückt 33; Lag Ba'omer - der 33. Tag der Zählung.

    "Lamed ist 30 und Gimmel ist drei, also zusammen 33. Also wir zählen 49 Tage, von Pessach Anfang, Pessachfest und Schawuotfest, sieben Wochen danach. Die Befreiung aus Ägypten war nicht nur eine Befreiung aus physischer Sklaverei, die Rabbiner sehen es am meisten aus spiritueller Sklaverei. Es ist ein Wandle von Unreinheit, die tiefste Unreinheitsstufe, bis zur allerheiligsten Stufe. Und so etwas dauert sieben Wochen. Weil es so ein Denken gibt, dass die Leute in Ägypten vertieft waren in sieben Arten von Unreinheit. Es ist geschrieben, dass man sieben Tage braucht, um sich zu reinigen aus Unreinheit. Also, um sich zu befreien von sieben Stufen von Unreinheit, brauchen die Leute sieben Wochen Reinigung sozusagen: spirituelle Reinigung. Es ist so, dass Lag Ba'omer nichts zu tun hat mit der Omer Zählung. Es ist nur ein Datum inzwischen. Und der Grund, dass alle Leute es machen wie ein Feuerfest, ist, dass an diesem Tag, Lag Ba'omer, ein großer Rabbiner gestorben ist: Rabbi Schimon bar Jochai."

    Nach der Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer und dem fehlgeschlagenen Bar-Kochba-Aufstand an dem Rabbi Schimon bar Jochai und sein Sohn teilgenommen hatten, wurde die Zeit des Omer Zählens zu einer Zeit der Trauer, in der fromme Juden bis heute der Katastrophen und Pogrome gedenken, die Juden durchlitten haben.

    Orthodoxe Juden dürfen sich in dieser Zeit weder Bart noch Haare schneiden. Man feiert keine Hochzeiten, keine fröhlichen Feste. Am 33. Tag dieser Zeit aber, an Lag Ba'omer, wird die Trauer unterbrochen.

    "Also, meine Kinder feiern Lag Ba'omer wie jedes israelische Kind mit Kartoffeln und Süßigkeiten und Fröhlichkeit, Musik und Tanzen - ein wunderschöner Abend am Beginn des Sommers. Aber es hat nichts mit Kabbala oder Mystik oder Religion oder Judentum zu tun. Es ist nur ein Karneval aus Feuer geworden."

    Das größte religiöse Lag Ba'omer Fest wird auf dem Berg Meron in Galiläa gefeiert, ein gigantisches Feuer wird hinter der ummauerten Grabstelle von Schimon Bar Jochai und seinem Sohn entzündet, denn der Todestag von bar Jochai fällt auf diesen Tag und wird als Freudenfest gefeiert.

    Schimon bar Jochai gilt in der Überlieferung als Autor des Buches vom Glanz, als Begründer der Kabbala, deren tiefste Geheimnisse er zu seinen Lebzeiten nicht offenbaren durfte. Erst an seinem Todestag war es ihm erlaubt, diese Geheimnisse mit seinen Schülern zu teilen. Er habe Zeit seines Lebens auf diesen Tag der Erleuchtung und Freude gewartet, soll der Sterbende gesagt haben - und dabei habe ein Kranz von Feuer sein Haupt umgeben. So wie es in der Schrift heißt, im Buch Jeremias: "Die Worte Gottes sind wie Feuer."

    "Alle Darstellungen sagen, dass, als die Leute mit Kabbala beschäftigt waren, sie immer umkreist von Feuer waren. In dieser Nacht war das Feuer besonders groß geworden. Aber es hat immer mit Feuer zu tun - und deswegen feiern wir bis heute in Meron [das Fest] mit einem großen Feuer. Und manche Leute gehen wirklich in tiefste Ekstase. Und sie schmeißen teuerste Kleider hinein - und auch Schmuck und so weiter. Und es gibt viel Geschrei von Rabbinerseite gegen diese Sitten. Es wäre sehr viel besser, statt etwas Wertvolles in das Feuer zu schmeißen aus Ekstase, vielleicht für die armen Leute etwas zu geben. Es ist eine Sitte, die eigentlich seit Mittelalter zu finden ist. Und das ist bis heute."

    Doch bevor das nächtliche Feuer, das wohl größte Lagerfeuer der Welt, wie Arnon Bruckstein sagt, auf dem Berg Meron beginnt, erreicht die Feier im Hof der Abbos ihren Höhepunkt. Es ist - nach den Ansprachen des Familienoberhauptes, des Bürgermeisters, nach den Gebeten und Segenswünschen des Rabbiners und dem freudevollen Ton der Schofar - das feierliche Herausnehmen der Torarolle in ihrer silbernen, prachtvoll dekorierten Umhüllung.

    Der silberne Zylinder wandert von Hand zu Hand. Die Männer tanzen mit ihr. Ihre Gesichter strahlen vor Glück. Sie strecken die Hände nach dem Behälter aus. Alle wollen den Sefer Tora, die Torarolle, halten und mit ihr tanzen. Viele knüpfen weitere bunte Seidentücher an den schweren Zylinder, der über den Köpfen der tanzenden Männer schwankt. Auch im Kindergarten, ein paar Häuser weiter, wird gefeiert. Die Lehrerin hat ein Lagerfeuer gebaut, das sie jetzt entzündet. Sie legt Kartoffeln in das Feuer. Die Kinder singen ein Lied über Schimon bar Joachai.

    Dann beginnt der Hakafot, der Umzug mit der Torarolle, durch die engen Gassen der Stadt. Die Männer, an der Spitze der Zeremonienmeister und die Klezmerband, verlassen den Hof der Abbos. Eine bestickte cremefarbene Standarte wird dem Zug vorangetragen. Immer wieder halten die Männer an. Der Zeremonienmeister schwingt einen mit bunten Bändern geschmückten Stab. Die Männer singen und tanzen zum rhythmischen Trommeln der Klezmerband. Der Umzug wird erst in Meron enden, allerdings werden die Leute aus Safed nicht zu Fuß gehen, wie früher, sondern mit einem der unablässig zwischen Safed und dem rund zehn Kilometer entfernten Meron pendelnden Busse fahren.

    In Meron hat der Trubel schon am frühen Morgen begonnen. Ein großer Parkplatz wird hergerichtet für die 1000 Busse der Egged-Busgesellschaft und die 400 Busse anderer Firmen, die aus allen Teilen Israels kommen werden. Toilettenhäuschen werden aufgestellt. Parkplätze für Pkw ausgewiesen. Die Straßen sind in weitem Umkreis gesperrt. Von den Parkplätzen kommt man nur mit Pendelbussen nach Meron. Und überall an den Straßen ist Polizei in Stellung. Die Sicherheitsstufe ist extrem hoch.

    Man erwartet 300.000 bis 500.000 Menschen, religiöse Pilger und Schaulustige.
    Viele sind mit Decken und Schlafsäcken, einige mit richtigen Matratzen beladen, denn die meisten werden die Nacht hier verbringen und bis zum nächsten Tag bleiben. Die Straße, die hinaufführt zu den Gräbern, ist gesäumt von Spenden- Sammelstellen der verschiedenen religiösen Wohlfahrtsorganisationen, Spendenwerbung schallt aus den Lautsprechern, überspannt auf Spruchbändern die Straße.

    Bei den Buden mit Fast Food und Getränken und den Ständen mit Wunderkerzen und neonbunt leuchtenden Plastikringen drängen sich die Menschen, fromme Popmusik plärrt aus den Lautsprechern. Es ist ein bisschen wie auf einem Straßenfest.

    An einem großen Stand mit Devotionalien, mit Gebetbüchern, wundertätigen Amuletten, Medaillons mit Segenssprüchen, Wein, Kippot und Bildern von Rabbi bar Jochai und Rabbi Nachman von Breslau drängen sich Neugierige. Die jungen Breslauer Chassiden - die Breslav Chassidim - mit weißen Kippot, die wie Zipfelmützen mit winzigen Quasten aussehen, bringen ihre Ware an Mann und Frau.

    Einer von ihnen schwärmt von deutschen Fußballspielern. Er hat selbst früher Fußball gespielt, aber seit er mit 20 Jahren zur Religion gefunden habe, sei damit natürlich Schluss gewesen, erzählt er.

    Im Mausoleum von Rabbi Schimon bar Jochai und seinem Sohn, beten die Pilger, natürlich nach Frauen und Männern getrennt. In der Frauenabteilung ist es laut, die Frauen unterhalten sich, rufen nach ihren Kindern, die Kinder machen Lärm. Aber dazwischen sind einige Frauen tief im Gebet versunken.

    Draußen vor dem Grab spaziert eine Mutter mit ihrer erwachsenen Tochter durch die Menge, beide in knallengen weißen Jeans, Stöckelschuhen und blonden Zopffrisuren. So könnten sie auch in Tel Aviv über die Strandpromenade bummeln. Etwas gebeugt und so schnell, dass die Schläfenlocken fliegen, hasten fromme Männer in Schwarz den Berg hinauf, schleppen sich mit Bettzeug und Matratzen ab.

    Männer mit schwarzen Hüten oder den Fellmützen einer bestimmten chassidischen Gemeinschaft, schieben Kindersportwagen, in denen kleine Jungen mit langen Locken sitzen, gekleidet in elegante dreiteilige Anzüge, mit Lackschuhen, weißen Hemden und kleinen Schlipsen. Später, wenn der Oberrabbiner aus Jerusalem eingetroffen sein wird, wird den kleinen Dreijährigen zum ersten Mal das Haar geschnitten - als Zeichen dafür, dass nun ihre erste Unterweisung in religiösen Dingen erfolgen darf.

    "Ein Mann ist mit einem Baum zu vergleichen. Die Seele des Mannes ist wie ein Baum. Und ein fruchtbarer Baum ist nicht zu benutzen, bevor er drei Jahre alt ist. In dieser Zeit ist ein Baum orla: nicht zu benutzen, nicht zu essen. Weil ein Mann wie ein Baum ist, bringen die Orthodoxen die Kinder nach drei Jahren, um zu bezeichnen, dass sie jetzt nicht mehr orla sind sozusagen. Sie sind über drei Jahre alt geworden. Und das Haareschneiden ist so eine Zeremonie, so etwas zu bezeichnen. Sie sind nicht mehr orla, sie sind - Gott sei Dank - gewachsen, und diese Zeremonie wird in Meron gefeiert. Es hat etwas mit Mystik zu tun. Diese Weltanschauung, dass man wächst von einer Stufe zur anderen, ist auch in der Kabbala zu finden. Also: Ein Sitte zu feiern an einem Ort, der so verbunden ist mit der Kabbala, macht nur Sinn. Und es gibt nur Fröhlichkeit."

    Immer noch steigen Familien den Weg zum Mausoleum hinauf. Im obersten Teil zweigt ein schmaler - den Männern vorbehaltener - Pfad ab und eine Steintreppe führt hinauf zu dem Weg, der zum Hof hinter dem Mausoleum führt. Hier können orthodoxe Männer hinaufsteigen, ohne im Gedränge ein Frau berühren zu müssen. Ein geländegängiges kleines Feuerwehrauto rückt aus, irgendwo am Berg ist ein kleines Lagerfeuer außer Kontrolle geraten.

    Als es endlich dunkel wird, steigt die Spannung. Gegen 21 Uhr wird auf dem Dach das Grabes eine Flamme entzündet, die dann das riesige Lagerfeuer im Hof hinter dem Gebäude entfacht. Die Flammen steigen hoch, bis weit über das Dach des Grabes. Eine kompakte Menschenschlange schiebt sich langsam auf einem schmalen Weg hinter das Mausoleum, Kerzen und die Kinderhaare des ersten Haarschnittes sollen ins Feuer geworfen werden. Das bringt einen ganz besonderen Segen des Oberrabbiners, der das Feuer segnet. Lag Ba'omer erreicht seinen Höhepunkt.

    Ganz sicher beten die frommen Juden heute auch, dass bis zum nächsten Lag Ba'omer endlich der Maschiach, der Messias, den sie stündlich erwarten, erschienen sein wird.