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Ein ganz normaler Lebenslauf

Der 1971 in Stuttgart geborene Moritz Heger wurde 2007 mit dem MDR-Literaturpreis und dem dazugehörigen Publikumspreis für Auszüge aus seinem ersten Roman ausgezeichnet. "In den Schnee" heißt sein literarisches Debüt. Ein Erstling, mit dem Moritz Heger sich als Experte für Seelenschattierungen vorstellt.

Von Michaela Schmitz | 09.06.2008
    Eigentlich ist er nichts Besonderes. Noch nicht einmal besonders unglücklich. Als Junge spielt er Tischtennis, träumt von schnellen Autos, geht mit dem Vater ins Fußballstadion, lernt seine ersten Mädchen kennen, schwänzt die Schule, macht Zivildienst und bricht das Studium ab, um als Buchhändler zu arbeiten. Kein Stoff für einen Roman; ein ganz normaler Lebenslauf - wenn man nicht so genau hinsieht. Moritz Heger sieht genau hin. In der vermeintlich glatten Biografie entdeckt er feinste Haarrisse. Unscheinbare Ereignisse als Auslöser intimer Verletzungen. "In den Schnee" heißt sein Debütroman.

    Letztes Jahr haben wir an Heiligabend einen Fisch im Backofen gehabt. Mach Wau, bevor du nen Sonnenstich kriegst, hat Johanna gesagt. Oder Miau. ( ... ) Das ist natürlich gelogen. In Wirklichkeit hatte sie mich eine Woche vorher rausgeworfen und ich ragte aus dem frisch verlegten Teppichboden dieses Apartments, die Tanne in der ausgestreckten Hand, einen Ständer zu kaufen, hatte ich nicht bedacht, schließlich lehnte ich sie an den einzigen Stuhl. Die Kerzen brachte ich im spitzen Winkel ( ... ) an, mit Kerzen ist nicht zu spaßen.
    Diesmal, meint er, habe er alles, was er braucht: einen Fisch im Ofen, einen ordentlichen Baum und ein ausreichendes Repertoire an Weihnachtsliedern. Aber es geht nicht. Die verbrannte Goldbrasse landet im Klo, die Weihnachtsgrüsse laufen auf den Anrufbeantworter, und die Strophen bringt er alleine nicht zu Ende. Die Stille, begreift Felix, ist eine "perfekte Kugel". Sie spiegelt ihn und seine Einsamkeit: sehr traurig, ein bisschen skurril und gar nicht rührselig.

    Ein Foto von einer Familienweihnacht Mitte der Siebziger zeigt ihn als Fünfjährigen. Er betrachtet den Jungen im roten Pullover wie einen Fremden. Seine jetzige Gegenwart ist papierdünn. Moritz Heger fixiert sie in sechs Sequenzen vom Heiligabend-Vortag bis Neujahr. Das Kind wird sich im Laufe des Romans auf ihn zu bewegen - Lebensphase für Lebensphase, in vier mal vier plus einem Abschnitt, jeweils zwischen die Feiertage geschoben. Die Stationen gehen vom Kindergarten über die Grundschule bis zur Pubertät mit erster Liebe, Selbstzweifeln und Sinnfragen:

    Leben. Mit Druck schreibt er es quer über den Collegeblock. Und nochmal und nochmal. ( ... ) Rückwärts heißt es Nebel. Aber wahrscheinlich erklärt das nichts. Nichts kann man rückwärts nicht aussprechen.
    Nach dem Studium zum Ende des Romans kommt der kleine Felix schließlich bei dem über Dreißigjährigen an. Dieser hat sehr viel mehr mit dem Jungen im roten Pulli gemein, als er glaubt - nicht nur seine große Verwundbarkeit. Felix zeichnet sich durch eine besondere Wahrnehmungsdisposition aus. Er kann die Mutter lächeln hören, vermag Steine zu riechen - wie beim Ausflug mit Johanna ins Kloster Maulbronn - und verbindet Zahlen mit besonderen Farben. "Der Zahlenmaler" sollte das Buch ursprünglich heißen. Als wäre das nicht genug, kann er mit seinen Gedanken fliegen - bis dahin, wo, so Felix, dem Himmel die Sterne ausgehen.

    Autor Moritz Heger scheint das besondere Wahrnehmungstalent seiner Hauptfigur zu teilen. Er kann emotionale Zustände fühlbar und seelische Vorgänge sichtbar machen. Er schafft es, Gefühlskonturen mit Worten zu zeichnen. Vielleicht, weil er sich in jeder Situation immer mehr vorstellt, als man sieht. Gerade dadurch gelingt es ihm auch, beiläufige Begebenheiten als biografische Schlüsselereignisse zu beschreiben. Denn besonders die kleinen Fehlfarben des Alltags bleiben oft in prägender Erinnerung: so zum Beispiel die Angst vor der alten Frau Schwerzlich. Beim Spielen ist der Fußball ausgerechnet auf dem Balkon der einsamen Nachbarin gelandet. Schmerzhaft genau beschreibt Heger die nur scheinbar unwichtigen, für Felix aber sehr bedeutsamen Erlebnisse. Biografisch einschneidende Situationen stellt der Autor dagegen beinahe nüchtern, scheinbar unbeteiligt dar - wie den heftigen Streit der Eltern. Die ganze Angst des kleinen Jungen findet in nur einem Nebensatz Platz:

    Der Junge hatte die Augen zugekniffen wie beim Seepferdchen, beim Sprung vom Beckenrand, und dachte nur A-rot-vier und E-gelb-eins und R-braun-sieben, Buchstabe und Zahl, zusammengezaubert seit Schöpfungstagen. ( ... ) A-rot-vier sagte er so leise, wie eine Schleichkatze schleicht.
    Auch den Tag, als die Eltern zur Scheidung beim Gericht sind, beschreibt Felix als vordergründig ereignislosen Besuch der Kinder im Haus der Großeltern. Aber er wird sich auch später noch an die kleinsten Details dieses Tages erinnern. Wie viele andere seelenschwere Augenblicke wachsen sie mit Felix mit - bis der Junge am Ende des Romans groß geworden ist und die Lebensläufe aufeinandertreffen.
    Heger ist Spezialist für die Wahrnehmung und Darstellung von Seelenfarben. Besonders viele Tonlagen kennt er für die Einsamkeit. Auch für die feinsten emotionalen Schwingungen findet er die passenden sprachlichen Abstufungen. Erstaunlich, wie professionell Heger in seinem Erstling diese Sprach-Schattierungen einsetzt. Denn stilistisch arbeitet der Seelenmaler ohne sprachliche Artistik und künstlichen Affekt. Dennoch findet Heger schon in seinem Debüt zu einem ganz charakteristischen Stil mit einem eigenwilligen subtil diskreten, lächelnd schwermütigen Charme.


    Moritz Heger: In den Schnee.
    Jung und Jung 2008.