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Ein Gefangener des Gulag

Als der Verlag Matthes & Seitz 2007 eine Werkausgabe des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow ankündigte, erschien das Projekt als verlegerisches Wagnis: Ein nahezu unbekannter Autor und das schreckliche Thema der sowjetischen Straflager. Der erste Band ist bereits in der vierten Auflage erschienen - eine schöne Bestätigung für den Verlag und eine späte Würdigung des Autors. Nun ist der zweite Band der "Erzählungen aus Kolyma" unter dem Titel "Linkes Ufer" erschienen.

Von Brigitte van Kann | 22.01.2009
    Was ich im Lager gesehen und erkannt habe: 1. Die außerordentliche Fragilität der menschlichen Kultur und Zivilisation. Der Mensch wurde innerhalb von drei Wochen zur Bestie - unter Schwerarbeit, Kälte, Hunger und Schlägen. 2. Das wichtigste Mittel zum Zersetzen der Seele ist die Kälte. ... 3. Ich habe erkannt, dass Freundschaft, Kameradschaft niemals unter schwierigen, wirklich schwierigen - lebensbedrohlichen - Verhältnissen entsteht. 4. Ich habe erkannt, dass der Mensch sich am längsten die Erbitterung bewahrt. Das Fleisch an einem hungrigen Menschen reicht nur für die Erbitterung - allem anderen gegenüber ist er gleichgültig.

    46 Punkte umfasst das Register der Erkenntnisse, die Warlam Schalamow aus seinen insgesamt 16 Jahren in sowjetischen Straflagern mit in die Freiheit nahm. Als er 1951 nach vierzehn Jahren an der Kolyma, im Hohen Norden Sibiriens, entlassen wurde und fünf Jahre später nach Moskau zurückkehrte, nahm er das Lager mit. Er blieb ein Gefangener des GULAG, den er zum beherrschenden Thema seines Schreibens machte. "Ist die Vernichtung des Menschen mit Hilfe des Staates nicht die zentrale Frage unserer Zeit, unserer Moral?" fragte er 1965 in einem Essay "Über die Prosa", in dem er seine kompromisslose Poetologie einer Literatur über die Lager formulierte.

    Kürze, Einfachheit und "Abtrennung von allem, was Literatur genannt werden könnte" - so müsse man über die Lager schreiben. Nicht dokumentarisch, nicht publizistisch, nicht in Form von Erinnerungen oder gar romanhaft mit erdachten Figuren und schmückendem Beiwerk sei dieser menschlichen Ausnahmeerfahrung beizukommen. Gleichwohl müsse der Autor sie mit jeder Pore, jedem Nerv durchlitten haben, nicht wie ein Schriftsteller, der als Tourist, als Beobachter auftauche wie Hemingway im Spanischen Bürgerkrieg. Es ist ein gewissermaßen antiliterarisches Programm, mit dem Schalamow große Literatur schrieb.

    Die "Erzählungen aus Kolyma" sind sein umfangreichstes, sein zentrales Werk. Sie bestehen aus sechs Zyklen, die der Autor zu einer geschlossenen Binnenstruktur fügte und die er durch Einzelpublikationen nicht zerstört sehen wollte. Der in diesem Band auf deutsch veröffentlichte Zyklus ist der zweite und versammelt unter dem Titel "Linkes Ufer" 25 Erzählungen aus der Lagerwelt im äußersten Nordosten Sibiriens.

    Gegenüber dem ersten Zyklus "Durch den Schnee" zeigt Schalamow hier nicht nur "gesichts- und geschichtslose" Opfer, wie er es selbst für die Lagerprosa gefordert hat. Die meisten Protagonisten werden mit Namen genannt. Ihr Vorleben spielt eine Rolle. Kubanzew, ein hartgesottener Militärchirurg, der des besseren Verdienstes wegen in den Hohen Norden gegangen ist, zeigt sich handlungsunfähig und hilflos angesichts der ersten Schiffsladung mit Häftlingen, die er behandeln soll - so entsetzlich ist der Zustand derer, die die Reise überlebt haben. Der gefangene Chirurg Braude muss das Kommando übernehmen. Er hat dergleichen schon oft erlebt.

    Am fünften Dezember des Jahres neunzehnhundertsiebenundvierzig lief das Dampfschiff "KIM" mit menschlicher Fracht - dreitausend Häftlingen - in die Bucht von Nagajewo ein. Unterwegs hatten die Häftlinge revoltiert, und die Leitung beschloss, alle Schiffsräume unter Wasser zu setzen. All das geschah bei vierzig Grad Frost. Was Erfrierungen dritten, vierten Grades sind, wie Braude sagte - oder Abfrierungen, wie Kubanzew sich ausdrückte - , konnte Kubanzew am allerersten Tag seines einträglichen Dienstes an der Kolyma erfahren.

    Die Erzählungen in "Linkes Ufer" sind historisch und geographisch verortet, während der erste Zyklus die Lagerwelt als etwas in sich Geschlossenes in einer fast abstrakten, zeit- und namenlosen Frost- und Schneewüste zeigte, am "Pol der Grausamkeit", wie Schalamow einmal schrieb. In der Erzählung "Das letzte Gefecht des Majors Pugatschow" behandelt der Autor ein besonders tragisches und lange unterdrücktes Kapitel sowjetischer Kriegsgeschichte: Zwölf russische Offiziere, die in deutscher Gefangenschaft waren und deshalb zu Lagerhaft verurteilt wurden, unternehmen einen Ausbruchsversuch, der zum Scheitern verurteilt ist.

    In "Lend-Lease" geht es um den Missbrauch von Fahrzeugen und Maschinen, die Amerika der Roten Armee im Krieg für den Kampf gegen Hitler lieferte und wovon die Lagerleitungen in der Nähe der Pazifikhäfen einiges für sich abzweigten - keineswegs jedoch, um das Los der Gefangenen zu erleichtern. So besteht der Arbeitseinsatz eines funkelnagelneuen amerikanischen Bulldozers darin, die steif gefrorenen Leichen von Häftlingen aus einem Massengrab in ein anderes zu schieben. Etliche andere Erzählungen behandeln Verrat und Denunziation, die für die Betroffenen oft die Verurteilung zu weiteren zehn, fünfzehn Jahren Haft bedeuteten.

    1956 war Schalamow, wie Hunderttausende andere Opfer, rehabilitiert worden. Eine schonungslose Diskussion über die Verbrechen Stalins und seiner Schergen erlaubte das sowjetische Regime jedoch keineswegs. Es gab keine Wahrheitskommissionen, vor denen die Verantwortlichen und Abertausende von Helfershelfern, die ihre hungernden, wehrlosen Landsleute gequält hatten, Rechenschaft hätten ablegen müssen. Schon gar nicht gab es eine angemessene Kompensation für das Erlittene, für die unentgeltliche Schinderei in sibirischen Gold- und Uranbergwerken.

    Mit jedem Tag in den Gruben von Dshelgala immer schwächer werdend, hoffte ich, ins Krankenhaus zu kommen, und dort würde ich sterben oder mich erholen, oder sie schicken mich irgendwohin. Ich fiel um vor Müdigkeit und Schwäche und schleifte beim Laufen die Füße über den Boden, - eine winzige Unebenheit, ein Steinchen, ein Hölzchen auf dem Weg waren unüberwindlich. Doch in der Sprechstunde goss mir der Arzt jedesmal Kaliumpermanganat in eine kleine Blechkelle und krächzte, ohne mir in die Augen zu schauen: "Der nächste!" Kaliumpermanganat verabreichte man innerlich gegen die Ruhr, man bepinselte damit Erfrierungen, Wunden und Verbrennungen. Kaliumpermanganat war das universelle und alleinige Heilmittel im Lager. Eine Arbeitsbefreiung gaben sie mir kein einziges Mal - der treuherzige Sanitäter erklärte, "das Limit ist erschöpft". Kontrollziffern für die Gruppe "W", "vorübergehend von der Arbeit befreit", gab es tatsächlich für jeden Lagerpunkt, für jedes Ambulatorium. Das Limit "überschreiten" wollte niemand, allzu weichherzigen gefangenen Ärzten und Feldschern drohten die allgemeinen Arbeiten. Der Plan war der Moloch, der Menschenopfer forderte.

    Die Literatur übernahm die Anklage, indem sie den Opfern ihre Stimme lieh. Doch von wenigen Ausnahmen abgesehen - Alexander Solschenizyns "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" gehört dazu - wurden diese Texte erst gedruckt, als die Sowjetmacht unterging. Außer ein paar Gedichten konnte Warlam Schalamow nichts veröffentlichen. Er lebte in Moskau von einer kümmerlichen Rente, verbittert, krank an Körper und Seele. Unter der fehlenden literarischen Anerkennung litt er mehr als unter seiner materiellen Lage. 1982 ist Schalamow in einer Moskauer Nervenheilanstalt gestorben.

    Anders als Alexander Solschenizyn, der auf tradierte Formen zurückgriff, erprobte Schalamow neue literarische Mittel, um die Qualen der Opfer und die Grausamkeit, Sattheit und den Zynismus der Verantwortlichen zu vergegenwärtigen. Mit äußerster erzählerischer Disziplin erreichte er eine extreme Verdichtung, deren Kraft den Leser in wahren Schockwellen trifft. Seine Erzählungen sind Destillate des Schreckens, die man nur in kleinen Dosen verträgt.

    Alexander Solschenizyn wird man als politischen Autor im Gedächtnis behalten, als denjenigen, der den "Archipel GULAG" ins Gedächtnis der Welt prägte. Aus seinem Schatten ist Warlam Schalamow längst herausgetreten, sein überlegener literarischer Rang ist unbestritten. Der zweite Band der "Erzählungen aus Kolyma" wird auch neue Leser davon überzeugen.

    "Linkes Ufer"
    Erzählungen aus Kolymna. Band 2 des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow
    (Matthes & Seitz Verlag)