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Ein Gegenentwurf zum Vernunftmenschen

Im alten Rom wurde geradezu entfesselt der Spielleidenschaft gefrönt. Das Mittelalter verteufelte den Spieler, der dem Zufall verfallen war und damit Gottes Allmacht herausforderte. Und in der Gegenwart werden Spielernaturen zu Süchtigen erklärt. Michael Kohtes' Essay forscht den Glücksspielern und dem Spielerglück nach.

Von Matthias Eckoldt | 13.08.2009
    Als der junge Schiller im Gasthaus "Zum goldenen Ochsen" wieder einmal über jede Vernunft hinaus sein Spielglück versucht hatte, soll er der entsetzten Serviertochter, deren Anmut sich proportional zu seinem Übermut verhielt, die denkwürdigen Worte ins Öhrchen geflüstert haben: "Der Mensch ist nur da ganz Spieler, wo er sich verschenkt!"
    So führt Michael Kohtes ohne Umschweife ins Herz seines Buches "Va Banque". Sein gut hundertseitiger Essay über Glücksspieler und Spielerglück forscht den heißen Leidenschaften nach, die den passionierten Spieler immer wieder an den Roulettetisch treiben. Der Hasardeur fühlt sich nur am schmalen Grad des Abgrunds wirklich lebendig. Er trotzt der Rationalität, die ihm in klarer Sprache sagt, dass nicht er, sondern am Ende immer nur die Bank gewinnt. So wird der Spieler, den nichts auf der Welt so sehr reizt als alles auf eine Karte zu setzen, zum Antipoden des Vernunftmenschen. Er lebt den radikalen Gegenentwurf zum ökonomisch denkenden Bürger.

    "Der Spieler unterscheidet sich vom Bürger schon dadurch, dass er sich nicht diesem Lebensvermeidungsdiktat unterwirft. Er ist kein sparsamer, kein sich zurücknehmender, kein sich disziplinierender Mensch. Er scheut die Verantwortung, er übernimmt ungern Aufgaben, er bindet sich auch selten an Heim und Herd. Der Spieler ist ein an den Augenblick gebundener Mensch, der sich dem Auf und Ab des Daseins ausliefert, der das Abenteuer sucht, ein Mensch, der das Leben schmecken will und weniger es meistern will."

    Michael Kohtes, der bereits über das Laster und übers Boxen geschrieben hat, zieht das Abenteuer magisch an. Mit seiner oft geradezu beschwörenden Sprache gelingt es ihm, schon nach wenigen Seiten den Leser zum Verbündeten zu machen. Man möchte den Blick durch die Augen des Autors auf den morbiden Glanz der Spielsäle auf Dauer stellen. Dort sieht man den Respekt fordernden Drehcroupier, der die Kugel ins Spiel bringt, den Saalmeister, der als Gott im Smoking firmiert, die Lady mit Zigarettenspitze, den gleichmütig die Gewinnzahlen notierenden Systemspieler, den Draufgänger mit Zuhältercharme und den aufgeregten Anfänger nebst Begleiterin. Sie alle versammeln sich im schillernden Tempel des Zufalls, um ihrer teils ausgeprägten, teils zerstörerischen, teils auch erst zart aufbrechenden Leidenschaft zu opfern. Kohtes kann diesen ebenso dezenten wie festlichen Kreis der Verschworenen adäquat beschreiben, weil seine eleganten, hintersinnigen und dabei doch immer erstaunlich leichten Sätze selbst voll Leidenschaft sind. Man merkt, mit welcher Grandezza der Autor seine Bücher lebt, um sie schreiben zu können. Was Michael Kohtes zu einem der interessantesten Essayisten deutscher Feder macht, sind seine von höchster geistiger Präsenz und breiter Wissensbasis getragenen philosophischen Meditationen über sein Thema. So steht das Roulette für mehr als nur für eine Form des Glücksspiels:

    Irgendwann - so lehrt uns das Hasard - verlieren wir alle. Rätselhaft und unberechenbar wie die kreisende Kugel ist der Lauf der Dinge, den wir so lange herauszufordern versuchen, bis unsere Einsätze aufgezehrt sind und der Tod allem Spiel ein Ende setzt. Wir sollten das Spiel gemacht, auf unsere Chancen gesetzt haben, bevor der große Croupier am Ende flüstert: "Rien eine va plus!"

    In einer historischen Rückschau erfährt der Leser vom wechselvollen Umgang der Kultur mit dem Glücksspiel. Während im Alten Rom die Spielleidenschaft geradezu entfesselt wurde, verteufelte das Mittelalter den Spieler, der dem Zufall frönt und damit Gottes Allmacht herausfordert. In den Adelskreisen des 18. Jahrhunderts erlebte das Glücksspiel hingegen seine Hochzeit, bis das aufstrebende Bürgertum die Redlichkeit anstelle des Roulettetisches ins Zentrum der Bestrebungen rückte. Im Deutschen Reich wurde der Spielbetrieb gänzlich verboten. Erstaunlicherweise waren es dann die Nazis, die das Kasino wieder belebten. Jedoch nicht, um die Spielleidenschaft der Volksgenossen herauszufordern, sondern um von Ausländern Devisen für ihre Feldzüge zu beschaffen. Kohtes gelingt es, gleichsam vom Roulettetisch aus den Charakter der jeweiligen Epoche zu erfassen - bis hinein in unsere Gegenwart, die den Spieler pathologisiert. Kein Wunder, da es ihm in einer Zeit der ubiquitären Profitmaximierung gar nicht so unbedingt ums Gewinnen geht:

    "Tatsächlich ist es so, dass ein leidenschaftlicher Spieler noch nie zum Millionär geworden ist in einem Spielkasino. Das mag Amateuren, Laien, gelingen, aber der habituelle Spieler spielt, nur um zu spielen. Für ihn gibt es im Leben eigentlich nur zwei Dinge: Die schönste Sache ist: Spielen und gewinnen. Die zweitschönste Sache ist: Spielen und verlieren. Es ist dieses Spiel gegen den Zufall, das ihn fasziniert. Er wird, wenn er gewinnt, den Gewinn an den Zufall zurückwerfen, weil er so leidenschaftlich gerne spielt."

    Selten begegnet man einem Buch, das bedingungslose Leidenschaft so präzise einfängt, wie es Kohtes mit "Va Banque" gelungen ist. Ein Muss für jeden, der in seinem Leben noch nie alles auf eine Karte gesetzt hat.

    Michael Kohtes: "Va Banque - Über Glücksspieler und Spielerglück",
    Transit Verlag, 110 Seiten, 14,80 Euro