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Ein "genialer Dilettant"

Egon Friedells Monumentalwerk, die "Kulturgeschichte", war gleich bei Erscheinen zwischen 1927 und 1931 ein Riesenerfolg. Doch trotz seiner Verbreitung ist das Werk des österreichischen Schriftstellers und Kulturphilosophen immer noch eine Art Insider-Lektüre.

Von Annette Meyhöfer | 08.01.2012
    Von Kritikern hielt er nicht viel. Waren doch die meisten bloß "lästige Nebenschösslinge der Kunst, müßige Volontäre ohne rechten Zweck". Und jene gar, die sich besonders scharfsinnig gaben, die großen Enthüller, die sich nichts vormachen ließen, sie waren "wohl die schädlichsten Patrone, die es überhaupt auf diesem Planeten gibt". Seine eigene Karriere als Theaterkritiker nahm Egon Friedell nicht besonders ernst. Als ihn der Chefredakteur der "B.Z am Mittag" ermahnte, ob er gelegentlich noch seiner Aufgabe gedenke, antwortete er:

    "Selbstverständlich denke ich daran, sogar täglich und stündlich, und weil mir vor diesem Gedanken ununterbrochen so furchtbar graust, ebendarum schicke ich Ihnen ja keine Berichte."

    Ohnehin hatte man an jedem seiner Beiträge etwas auszusetzen, auch an seinem so interessanten Aufsatz über "Macbeth", der allerdings bereits im "Prager Tagblatt", in den "Frankfurter Nachrichten" und in der "Düsseldorfer Lokalzeitung" zu lesen war. Nein, höflich ausgedrückt, man konnte doch nicht mit einem Gesäß auf mehreren Hochzeiten tanzen. Darauf schrieb er der sehr verehrten Redaktion, sie unterschätze sein Gesäß.

    Natürlich war dies auch die Koketterie des Kaffeehausliteraten, der um keinen Preis der seriösen Arbeit, eines Berufes gar verdächtigt werden wollte. Allein der Begriff war ihm verhasst, dem Mann, der sich in Wien und eine Weile auch in Berlin in so vielen Professionen erprobte, als Autor, etwa für die "Fackel", als Rezensent und Essayist, als Kabarettist, als Regisseur, als Schauspieler, unter anderem unter Max Reinhardt, als Satiriker und Parodist, zeitweise in Kooperation mit Alfred Polgar. Mehrere hundert Mal wurde ihr komischer Einakter "Goethe" aufgeführt, mit ihm in der Titelrolle. Felix Salten nannte den Doktor der Philosophie darob einen "Hofnarren des Publikums und wie die meisten Hofnarren dem Gebieter weit überlegen". Keiner sollte ahnen, dass der mächtige Esser und große Trinker, wie einer seiner Biografen schrieb, am liebsten Bücher fraß, um zwischen 1927 und 1931 seine ungeheure Arbeit zu vollbringen, sein Monumentalwerk, die "Kulturgeschichte der Neuzeit".

    Seine Anmerkungen über den Kritiker sind fast eine Gebrauchsanweisung, wie man dies Opus zu lesen hat: ursprünglich drei Bände umfassend, 1800 Seiten stark in der neuen Leinenausgabe des Diogenes-Verlags, so schillernd, funkelnd von Esprit, manchmal bösartig und polemisch, manchmal pathetisch, immer pointiert, oft dunkel, ja abstrus. Auf die richtige Optik kam es nämlich an, der Kritiker hatte sich, das war seine "verdammte Pflicht", an das Positive zu halten, an das Plus, statt die Mängel und Impotenzen des Künstlers aufzuzeigen, die dieser doch mit allen Menschen gemein hatte:

    "Im Nichtskönnen sind wir ja selber erste Fachleute ...Und was die Mängel betrifft, so gehen sie uns nichts an. Sie sind Müll, Abfall, Hobelspäne, wertlose Arbeitsüberschüsse, die für niemanden charakteristisch sind ... In dieser prekären Situation bedarf es eines Unterhändlers, Agenten, Vermittlers. Das sind die Kritiker; sie sind die Geschäftsträger der Dichter; Plänkler und Parlamentäre zwischen Künstler und Publikum."

    Sein Werk gehöre erst dem Übermorgen, glaubte Friedell. Er irrte. Es war gleich bei Erscheinen ein Riesenerfolg, und es wurde immer wieder neu aufgelegt, gerade jetzt in der wunderschönen Kassette des Diogenes Verlags, zusammen mit der unvollendet gebliebenen "Kulturgeschichte des Altertums" und parallel dazu, ebenfalls in einer Neuausgabe, dem Kompendium aus Friedells gesamtem Schaffen "Vom Schaltwerk der Gedanken", zusammengestellt von Daniel Keel und Daniel Kampa, das nun leider neben den vielen Schätzen, die er hinterlässt, eine Art Vermächtnis des im September verstorbenen Verlegers ist, der wie kein anderer jene Rolle des Geschäftsträgers und Parlamentärs auf sich nahm.

    Denn dessen bedarf Friedells Werk, trotz seiner Verbreitung immer noch eine Art Insider-Lektüre, sehr wohl, nicht nur seiner heute so fremd anmutenden idealistischen Weltanschauung, seines Geniekults wegen; von seinen rassistischen, ja antisemitischen Anwürfen ganz zu schweigen.
    Schon Arthur Schnitzler hatte, bei allem Vergnügen an der temperamentvollen und geistreichen "Kulturgeschichte", die "Paradoxe und Weltanschauungssnobismen" kritisiert, vor allem aber den "Religions- und Christentumsschwindel", so nachzulesen in Ulrich Weinzierls klugem Nachwort. Auch das ideologisch arg Bedenkliche, das Provokativ-Rassistische tadelt der Autor darin scharf: "Der Jude Friedell war, mit Verlaub, ein kämpferischer Antisemit", der die jüdische Religion für ein Verhängnis hielt, der während des Ersten Weltkriegs, ein "rabiater Deutschnationaler" war.

    Als am 16. März 1938 SA-Männer an seiner Wohnung im dritten Stock läuteten, sprang der 60jährige aus dem Fenster, nicht ohne die Passanten zu warnen. Das mag eine Legende sein, wie so vieles im Leben Friedells Legende war. Die meisten hat er selbst erfunden, der Sohn des vermögenden Tuchfabrikanten Moritz Friedmann, der sich erst 1916 seinen nom de plume Friedell amtlich beglaubigen ließ. Das Abitur bestand er nach einer bemerkenswerten Tour durch die Gymnasien Österreichs und Deutschlands erst mit 21 Jahren im vierten Anlauf, einer jener Schüler, mit denen die Lehrer stets unzufrieden sind, keiner der Braven. Aber fand sich Talent nicht weit häufiger unter den sogenannten Taugenichtsen?

    "Das schlimmste Vorurteil, das wir aus unserer Jugendzeit mitnehmen, ist die Idee vom Ernst des Lebens. Daran ist nur die Schule schuld. Die Kinder haben nämlich den ganz richtigen Instinkt: Sie wissen, dass das Leben nicht ernst ist, und behandeln es als ein Spiel und einen lustigen Zeitvertreib."

    Dann aber kamen die Lehrer, diese Spielverderber, und predigten den Ernst des Lebens. Andererseits verlangten sie doch immer wieder, man solle sich die Natur zum Vorbild nehmen.

    "Nun, in der Natur wird nichts als Unsinn getrieben. Die Schmetterlinge tanzen, die Käfer musizieren, der Pfau schlägt sein Rad, der Hahn benimmt sich grässlich albern, und unser nächster Verwandter, der Affe, hat nichts als Schabernack im Kopf ...Ich glaube, dass einem Apfelbaum seine Äpfel ziemlich unwichtig sind und dass er seinen Hauptspaß im Blühen und Duften und derlei zwecklosem Unsinn findet. Im Grunde ist es unter den Menschen auch nicht anders. Alles wirklich Wertvolle ist aus einer Spielerei hervorgegangen ... Ja, man kann soweit gehen zu sagen: Ein Menscher, der nicht weiß, dass er ein Narr ist, ist nicht nur kein Künstler, sondern versteht überhaupt nichts vom Leben."

    Nur mit der Religion hielt Friedell es anders, die war kein Spiel. Schon 1897 konvertierte er zum Protestantismus. Und immer wieder rekurriert er in seinem Werk auf das Genie Jesus, das größte vielleicht von allen. Auch sein Studium nahm er immerhin so ernst, dass er schon 1904, nach neun Semestern, in Wien promoviert wurde, mit der Dissertation "Novalis als Philosoph". Nun aber konnte die Karriere als Bohemien beginnen, die stets auch Einsamkeit zu verbergen hatte: "Wir alle leben im Exil", schrieb er, der sich insbesondere mit den Frauen schwer tat. Ja, sie waren, im Krieg hatte man das entdecken können, von Natur klüger als die Männer, aber das war ein höchst zweifelhaftes Kompliment. Ihre Klugheit war "ihre Nüchternheit, ihre Unoriginalität, ihr Mangel an Persönlichkeit, kurz ihre Phantasielosigkeit".

    In dem schönen Aufsatz zum 50. Geburtstag des Freundes Peter Altenberg findet sich so manches Attribut, das auf ihn selbst trifft. Nur die Begabung des "Frauenpsychologen" Altenberg, der sich hineinversetzen konnte in das Seelenleben "jener mysteriösen Geschöpfe, die unser Leben ununterbrochen begleiten und bestimmen und die uns dennoch stets fremd und unfassbar bleiben". Aber wie jener war er ein "leidenschaftlich herumirrender Wahrheitssucher", den nur die Philister, seine wahren Feinde, als "Paradoxenjäger und Aphorismenjongleur", als Dichter der Moderne, ihr Schimpfwort schlechthin, bezeichneten; den das Gros des Publikums als "genialischen Großstadtbohemien" goutierte, "obgleich er in Wahrheit eine reformatorische Persönlichkeit von fast religiösem Charakter ist".

    Und wie Altenberg war Friedell ein "poetischer Pointilist", der mit wenigen Strichen eine Figur skizzieren konnte: Jean-Jacques Rousseau, der für ihn den "Einbruch des durchtriebenen und brutalen Plebejers in die Weltliteratur" bezeichnet. Oder Nestroy, "den größten, ja den einzigen Philosophen" Österreichs, der seine bisweilen rohen Formen als "täuschende Emballage" benutzte, um eine ganz verbotene Ware, nämlich Philosophie, aufs Theater zu bringen", darin ähnlich der dem ungeübten Auge unsichtbaren Mimikry des amerikanischen Blattschmetterlings.

    "Aber darin, in dieser Ununterscheidbarkeit, beruht ja gerade der praktische Wert der Mimikry. Nestroys Mimikry an die Lokalposse war ein Mittel im Kampf ums Dasein, durch das er erreichte, dass seine Stücke aufgeführt, beklatscht und belobt wurden. Es wäre aber an der Zeit, heute, wo es dem Theatergeschäft Nestroys nicht mehr schaden kann, endlich zu erkennen, dass man es mit einem springlebendigen Blattschmetterling zu tun hat und nicht mit einem toten Blatt."

    Oscar Wilde beschreibt er als Wüstling und reinen Asketen zugleich, "verliebt in die Sünde und im Innern nur das Heiligste suchend", seinen "Dorian Gray" als die "moralistischste Dichtung", die je geschrieben wurde, mit Ausnahme der Bibel. Manchmal genügt ihm ein knappes Wort, etwa über Honoré de Balzac, der war einfach "das Magaphon seiner Zeit, ... Troubadour und Prophet des Geldes". Wenn er ihn vergleicht mit dem anderen Großen seines Jahrhunderts in Frankreich, Gustave Flaubert, dem Mönch der Literatur, so kommt er zu dem Schluss:

    "Es war in ihm dieselbe Arbeitswut wie in Balzac, aber aristokratisch getönt, in Selbstzweck, Sport und Liebhabertum sublimiert: Er verhält sich zu dem genialen Plebejer wie ein gleitendes Luxusmobil zu einem keuchenden Dampfpflug."

    Aber im Gegensatz zu dem Freund Altenberg war Friedell mehr als nur der begabte Pointilist, immer wieder sucht er das große Ganze. Und sah dabei manchmal nur den Wald, nicht die Bäume. Er interessierte sich weder für Soziologie noch für Ökonomie. Für den großen Zusammenhang hatten ihm vor allem die Dichter zu bürgen, "Salz der Erde", die Künstler, "ewig träumende Kinder". Denn vollkommene Dichter waren die Menschen nur in zwei Zuständen, im Traum und in der Kindheit: ein jeder im Traum ein Shakespeare und im wachen Zustand meist ein "feiger und impotenter Besserwisser". So ist seine "Kulturgeschichte", Max Reinhardt gewidmet, im Untertitel treffend benannt, "Die Krisis der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg", auch zutiefst romantisch, natürlich mit der dazugehörigen Ironie, nach streng philosophischen Kriterien allenfalls als Phänomenologie zu beschreiben. Er selbst nannte sie eine "seelische" oder auch "geistige Kostümgeschichte". In seinem Porträt des verehrten Lichtenberg wird er deutlicher:

    "Der echte Philosoph ist dem Künstler viel verwandter, als gemeinhin angenommen wird. Das Leben gilt ihm ebenso wie diesem als Spiel, und er sucht die Spielregeln zu ergründen – nicht mehr. Auch er erfindet und gestaltet, aber während der Künstler möglichst viele und vielfältige Individuen abzubilden sucht, zeichnet der Denker immer nur einen einzigen Menschen: - sich selbst, den aber in seiner ganzen Vielartigkeit. Jede tief empfundene Philosophie ist nichts anderes als ein autobiografischer Roman."

    Und die Methode ist nichts anderes als die der Beobachtung, der Aufmerksamkeit auf alle Sinneseindrücke, Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Deshalb sollte man statt des stolzen "cogito" lieber sagen: "Es denkt." Und wie es in dem Dichter-Philosophen Friedell dachte! Ein ganzes theatrum mundi entwarf er, dessen Helden die Genies und die großen Persönlichkeiten waren, Voltaire und Friedrich II., sein geliebter Ibsen und Napoleon, Schopenhauer und Nietzsche. Vor allem in den Passagen über diesen kann der Autor seinen Hang zur Übertreibung und zum Paradox kaum zügeln. Ausgerechnet Nietzsche erklärt er zum religiösen Genie, zum "gewendeten Christus".

    "Er ist die stärkste und feinste Spitze des idealistischen, sentimentalischen deutschen Ethos; ähnlich wie Goethe, der auch glaubte, Realist, Artist und Klassiker zu sein, und zeitlebens ein großer deutscher Sucher geblieben ist. An der Wiege der Völker Europas schenkte Gott dem Engländer das Talent zum Erfolg, dem Franzosen die Gabe der Form, dem Deutschen aber die Sehnsucht. Einer ihrer vorbildlichen Meister war Friedrich Nietzsche, der ebenbürtige Geistesbruder Rembrandts und Beethovens. Aber in seinen letzten Schriften verwirrte sich dieser edle und kräftige Geist. Er wurde, so kann man wenigstens allenthalben vernehmen, von Größenwahn erfasst. Er hielt sich nämlich für Friedrich Nietzsche."

    Es sind solch unerwarteten Pointen, die eine Lektüre Friedells, trotz all seiner Fehlurteile, zu einem unübertroffenen Vergnügen machen – und es so schwer machen, diesen Autor einzuordnen, den Karl Kraus als "munteren Seifensieder" verspottete, in dem Hilde Spiel "noch einmal die berauschende Fiktion vom universalen Menschen" sah. Sein ehemaliger Mitarbeiter Alfred Polgar verstieg sich zu dem Urteil, die "Kulturgeschichte" sei ein Buch, "dessen Irrtümer so erheblich sind, wie das geistige Kapital, das der Autor aus ihnen zu schlagen weiß". So mag man an seinen Äußerungen über die Natur des Menschen zweifeln, in der er stets dieselben Typen wiederkehren sieht, den Idealisten, den Realisten und den Skeptiker. Den Letzteren sah er verkörpert in Shakespeares "Hamlet", den Idealisten in Goethes "Faust" und den Realisten Ibsen in dem Durchschnittsmenschen Hjalmar Ekdal in der "Wildente". Im Grunde aber waren dies die drei Seelen, die in jedem Menschen wohnten:

    "Was ist nun der wahre Sinn des Lebens: die reife Skepsis, das ewige Streben oder das Butterbrot? Der Dichter antwortet: ‘Wir sind Menschen. Wir müssen zweifeln. Wir müssen streben. Wir müssen Bier trinken.’"

    Das war im besten Falle Trivialpsychologie von einem, der die Psychologie, vor allem ihre neueste Entwicklung, die Psychoanalyse, der er in seinen subtileren Porträts so viel verdankte, zutiefst verachtete, als "Mischung aus Talmud und Junggesellenliteratur", "Sklavenaufstand der Amoral", "schleichenden Racheakt der Schlechtweggekommenen", welche die Welt neurotisierten, sexualisierten, dämonisierten, kurz, die "erdumspannende Revolte" einer heidnischen Sekte gegen das Evangelium. Dabei war er durchaus bereit, Sigmund Freud selbst einige Verdienste zuzugestehen, aber seine Idee von der Seele als einem unbekannten Land, sein Irrationalismus war doch immer noch dem cartesianischen Rationalismus gegründet.

    Das musste Friedell verdammen. Und so beruft er sich in seiner unkonventionellen, den Lehrmeinungen widersprechenden Datierung der Neuzeit auf das Zeitalter der Pest ausgerechnet auf die fragwürdigen Theorien des abtrünnigen Alfred Adler, "Über die Minderwertigkeit von Organen", wonach, häufig gerade bei Künstlern, vor allem Schauspielern zu bemerken, die Krankheit eine Rolle spielt, die bei "Normalen" einem außerordentlichen Training gleichkommt. Kurz und paradox gesagt: "Gesundheit ist eine Stoffwechselerkrankung." Und überall, wo Neues entsteht, ist Schwäche, Krankheit, Dekadenz. So ist, laut Friedell, die Neuzeit zwar im 16. Jahrhundert in die Welt getreten, entstanden aber ist sie im 14. und 15. Jahrhundert, durch Krankheit. Höchst treffend, hat er der Einleitung seiner "Kulturgeschichte" ein Motto von Oscar Wilde vorangestellt:

    "Ausführlich zu schildern, was sich niemals ereignet hat, ist nicht nur die Aufgabe des Geschichtsschreibers, sondern auch das unveräußerliche Recht jedes wirklichen Kulturmenschen."

    Was konnte er anders erzählen als die "heutige Legende von der Neuzeit"? Die Sage, den Mythos? Jedes Zeitalter hatte sein eigenes Bewusstsein, sein eigenes Bild von der Vergangenheit, auf dem, wie hinter einem Schleier, die Dinge verschwommener und unklarer waren, aber auch geheimnisvoller und suggestiver. Wie oft hat er betont, dass die alten Griechen nicht antik waren, allein Aufklärung und Klassik hatten sie ins Museum verbannt, die vielleicht moderner waren als die Heutigen. Das waren die Meinungen eines "genialen Dilettanten", so hat Max Reinhardt ihn genannt, so hat er sich selbst gesehen, im scharfen Gegensatz zu den Oberlehrern, Professoren, Spezialisten, den gehassten Philistern:

    "Was den Dilettantismus anlangt, so muss man sich klarmachen, dass allen menschlichen Betätigungen nur so lange eine wirkliche Lebenskraft innewohnt, als sie von Dilettanten ausgeübt wird. Nur der Dilettant, der mit Recht auch Liebhaber, Amateur genannt wird, hat eine wirklich menschliche Beziehung zu seinen Gegenständen, nur beim Dilettanten decken sich Mensch und Beruf; und darum strömt bei ihm der ganze Mensch in seine Tätigkeit und sättigt sie mit seinem ganzen Wesen, während umgekehrt allen Dingen, die berufsmäßig betrieben werden, etwas im üblen Sinne Dilettantisches anhaftet: irgendeine Einseitigkeit, Beschränktheit, Subjektivität, ein zu enger Gesichtswinkel."

    Damit verteidigt er seine Methode des Fragmentarischen, des Anekdotischen als einzig berechtigte Kunstform in der Kulturgeschichtsschreibung. Verteidigt das Plagiat, in seinem Falle oft Selbstplagiat, und seinen Hang zur Übersteigerung. Kein "Matrikelbuch" wollte er schreiben, sondern eine Art Familienchronik oder chronique scandaleuse des Genies. Auch wenn nun über Egon Friedell selbst, über sein romantisch-idealistisches Denken ein wenig der Schleier des Vergangenen gefallen ist, einen amüsanteren, geistreicheren und ironischeren Cicerone durch die Geschichte wird man kaum finden. Dabei mag man sich, ein letzter Rat an die Leser, verführen lassen von Daniel Keels und Daniel Kampas Zusammenschau "Vom Schaltwerk der Gedanken".


    Egon Friedell: Kulturgschichte des Altertums und der Neuzeit
    2 Bände, Diogenes Verlag

    Egon Friedell: Vom Schaltwerk der Gedanken
    Diogenes Verlag