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Ein gescheiterter Staat?

Politisch befindet sich der Libanon in der Sackgasse. Die Lager blockieren sich gegenseitig und verhindern die Wahl eines neuen Präsidenten. Seit November letzten Jahres ist der Zedernstaat ohne Staatsoberhaupt. Zugleich spitzt sich die wirtschaftliche und soziale Lage zu.

Von Birgit Kaspar | 24.01.2008
    Michel Suleiman in Ausgehuniform oder der Armeechef mit ernstem, sorgenvollem Blick - überlebensgroße Poster des libanesischen Präsidenten in-spe schmücken nahezu jedes Haus im Dorf Amchit, nördlich von Byblos. "Der Retter" steht in großen arabischen Buchstaben darunter, oder "Du bist der Schild der Nation und ihr Stützpfeiler". Daneben flattern fröhlich rot-weiße libanesische Nationalflaggen mit der grünen Zeder in der Mitte. Amchit, der pittoreske Geburtsort Suleimans mit seinen alten Natursteinhäusern und roten Ziegeldächern, steht ganz im Zeichen des auserkorenen Konsenskandidaten für die libanesische Präsidentenwahl.

    Barbar, der Supermarktbesitzer, schneidet eine Scheibe Rindfleisch für eine Kundin zurecht. Michel Suleiman ist seine große Hoffnung:

    "Wir wissen, dass Suleiman etwas ändern könnte, aber ich weiß nicht, was die Libanesen tun werden. Jede Woche sagen sie, diesmal wählen wir den Präsidenten. Aber vielleicht wollen sie den Libanon gar nicht mehr, ich weiß es nicht."

    Suleimans Wahl bedeute einen Neubeginn, so der 50-Jährige im weißen Metzgerkittel. Ansonsten sehe er schwarz. Der Bürgermeister von Amchit, Bahjat Lahoud, nennt Suleiman ebenfalls den idealen Kandidaten.

    "Ich kenne ihn seit langem, er ist mein Cousin. Er gehört keinem politischen Lager an, er denkt gerade aus und er hat den Kopf fest auf seinen Schultern, wie wir sagen."

    Diese Standfestigkeit wird General Suleiman brauchen, wenn er das absurde Theater um die libanesische Präsidentenwahl unbeschadet überstehen will. Denn obwohl er Konsenskandidat ist, finden die beiden rivalisierenden politischen Lager immer wieder neue Gründe, warum er noch nicht gewählt werden kann. Dreizehn Mal wurde die Präsidentenwahl bereits vertagt. Osama Safa, Direktor des Lebanese Center for Policy Studies, meint, das könnte bis zu den geplanten Parlamentswahlen in 2009 so weitergehen.

    "Die Situation könnte so oder so ähnlich bleiben, und je mehr Ablenkungsinitiativen wir haben, desto größer die Chancen, dass die Leute reden und nicht kämpfen. Das könnte den Deckel auf dem Topf halten bis zu regionalen Entwicklungen, die eine Öffnung in Beirut gewährleisten. Doch im Augenblick wird der Libanon als Stellvertreter-Schlachtfeld voll ausgenutzt und hängt deshalb von all dem ab, was in der Region passiert."

    Ein Jahr nach der großen Geberkonferenz von Paris erlebt der Zedernstaat eine politische Totalblockade. Die Regierung um Premierminister Fuad Siniora wird nach dem Rücktritt all ihrer schiitischen Minister im November 2006 von rund der Hälfte der Bevölkerung nicht mehr als legitim betrachtet. Das Parlament hat seither nicht mehr getagt und seit dem 24. November 2007 ist der Libanon ohne Präsident. Außerdem wird das Land immer wieder durch Anschläge und Explosionen erschüttert. Der Zedernstaat ist tief gespalten zwischen der Opposition, angeführt von der radikal-schiitischen Hisbollah und Christengeneral Michel Aoun, und der pro-westlichen Regierungsmehrheit um Premierminister Fuad Siniora und Saad Hariri. Die Opposition fordert eine Regierung der nationalen Einheit, in der sie Vetorecht erhält, die Loyalisten lehnen das ab. Amal Saad Ghorayeb, Hisbollah-Expertin der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden in Beirut, sieht darin eine taktische Maßnahme:

    "Ich würde sagen, die Opposition als Ganzes will nicht mehr politische Macht als Selbstzweck. Dies ist ein Mittel zum Zweck. Das bedeutet: zu verhindern, dass der Libanon sich zu einem US-Satelliten entwickelt oder ein weiterer moderater arabischer Staat wird."

    Zudem wolle die Hisbollah sicherstellen, dass ihr niemand gegen ihren Willen die Waffen wegnimmt. Die Entwaffnung der Schiitenmiliz wird in mehreren UNO-Resolutionen gefordert, insbesondere US-Amerikaner und Israelis drängen darauf. Die Libanesen wissen allerdings, dass dies ohne Zustimmung der schiitischen Partei Gottes praktisch nicht möglich ist. Die Hisbollah wurde als nationale Widerstandsbewegung anerkannt und erhielt damit das Ausnahmerecht zur Bewaffnung. Viele Libanesen, vor allem Christen und Sunniten, sehen aber die Notwendigkeit dafür nicht mehr. Einen Ausweg sollte eine Integrierung der Hisbollah-Kämpfer in eine neue nationale Verteidigungsstrategie bieten. Doch darauf konnte man sich bis jetzt nicht einigen. Nach dem Krieg gegen Israel 2006, der durch die Entführung zweier israelischer Soldaten seitens der Hisbollah provoziert wurde, wurde bald deutlich, dass es den Waffen der Partei Gottes an den Kragen gehen sollte. Saad-Ghorayeb:

    "Nach dem Juli-Krieg fühlte die Hisbollah sich als Zielscheibe. Sie verloren vollständig das Vertrauen in das politische Lager um Saad Hariri, sie gingen sogar so weit, den politischen Gegnern vorzuwerfen, diese seien für die israelische Attacke mitverantwortlich, zumindest hätten sie davon im Vorfeld gewusst."

    Es ist dieses totale gegenseitige Misstrauen sowie die massive Einmischung ausländischer Mächte, die zur gegenwärtigen Sackgasse im Zedernstaat geführt haben. Die USA und Saudi-Arabien sind dabei die wichtigsten Stützen der Siniora-Regierung, während die Opposition von Syrien und Iran Schützenhilfe erhält. Dabei geht es nicht nur darum, wer im Libanon den Ton angibt, sondern auch um den Machtkampf in der Region zwischen den USA und Iran. Der Posten des libanesischen Präsidenten, der gemäß dem libanesischen Nationalpakt maronitischer Christ sein muss, ist das jüngste Opfer dieses Machtkampfes. Nichts deutet darauf hin, dass sehr bald ein Präsident gewählt werden könnte, so Amal Saad-Ghorayeb:

    "Ich glaube, die Opposition setzt jetzt auf Zeit. Was wir erleben, ist ein schwebendes Patt, getragen von beiden politischen Lagern. Keiner will im Moment eine Lösung. Die Opposition ist entschlossen, es bis zu den Parlamentswahlen im nächsten Jahr auszusitzen, weil sie davon überzeugt ist, dann ohnehin die Mehrheit zu erringen."

    Der Muezzin im Beiruter Stadtteil Basta ruft zum Mittagsgebet. Der 27-jährige Mustafa sitzt mit seinem Kollegen Mahmoud auf dem Bürgersteig und spielt auf einem selbst gebastelten Papp-Brett Dame.

    "Ich hoffe, sie wählen einen neuen Präsidenten, aber im Augenblick bin ich nicht sehr zuversichtlich."

    Die beiden sitzen vor der Glaserei, in der sie eigentlich arbeiten sollten, doch bereits seit Tagen gibt es nichts zu tun. Mustafa fordert ganz neue Politiker, die die Probleme des Landes tatsächlich angehen. Aber Leute wie ihn frage ohnehin niemand.

    "Wir tun alles, um die Schmerzen zu betäuben, die uns die Politik und diese Politiker zufügen."

    Die soziale Krise im Libanon spitzt sich zu. Die Arbeitslosigkeit liegt geschätzt bei mindestens 20 Prozent, fast ein Viertel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Qualifizierte Libanesen aller Konfessionen verlassen das Land in Scharen. Zwar sind viele Straßen, Brücken und auch einige Häuser seit dem Krieg wieder hergestellt worden, aber die Wirtschaft ist nicht auf die Beine gekommen. Fady Abboud, Präsident der libanesischen Industriellen-Vereinigung:

    "Die Regierung interessiert sich nicht für Wirtschaftsthemen, es gibt keinen Ansprechpartner. Sie realisieren nicht, dass es das wichtigste ist, Jobs zu schaffen, damit die jungen Leute im Land bleiben können."

    Für Georges Corm, Politologe, Wirtschaftswissenschaftler und ehemaliger Finanzminister, ist dies ein ererbtes Problem:

    "Die soziale Krise ist sehr alt, sie ist das Resultat der Politik des verstorbenen Herrn Hariri, sie existiert seit 1996, das ist nichts Neues."

    Kernproblem der libanesischen Wirtschaft sei, dass sie lediglich auf zwei Füssen stehe, dem Immobilien- und dem Bankengeschäft. Diese Problematik werde aber in dem in Paris versprochenen Reformpaket der Regierung nicht berücksichtigt. Notwendig sei ein radikales Umdenken hin zu einer breiter angelegten Produktivität. Corm:

    "Was ich über eine Revolution im Wirtschaftsmanagement sage, ist komplett außerhalb des Denkhorizonts dieser Regierung, sie wollen weiter Immobilien verkaufen, Profite machen, sonst haben sie kein Interesse. Und politisch wollen sie im Schlepptau Saudi-Arabiens und des Westens bleiben, das ist alles."

    Die Geberkonferenz von Paris vor einem Jahr war ein Erfolg für den vom Krieg gegen Israel geschüttelten Zedernstaat. 7,6 Milliarden US-Dollar wurden versprochen, teils als Darlehen, teils als Budgethilfe, teils Projekt bezogen. Rund die Hälfte dessen sollte aus den Kassen der EU sowie einzelner Mitgliedsländer kommen. Die Bundesregierung hat insgesamt 107 Millionen Euro zugesagt. Doch das Gesamtpaket war gekoppelt an ein umfangreiches Reformprogramm der libanesischen Regierung. Bei diesem dritten Hilfspaket seit dem Ende des Bürgerkrieges wollte man parallel zu den Zahlungen Fortschritte in Sachen Transparenz und guter Regierungsformen sehen. Patrick Laurent, Chef der EU-Delegation in Beirut, nennt das bisherige Ergebnis durchaus ermutigend, unter den gegebenen Umständen.

    "Ich würde sagen, im Bereich Wirtschafts- und Finanzmanagement haben wir die besten Entwicklungen gesehen. Im Gegensatz dazu gab es wenig Fortschritte bei der Entwicklung und Umsetzung einer umfassenden sozialen Strategie zur Reduzierung der Armut. Es hat nur wenige Fortschritte in den Bereichen Menschenrechte und Justizreform gegeben. Wenn es um Menschenrechte geht, sagt die Regierung meist, das seien zu empfindliche Fragen. Und bei der Justizreform sehen wir keinen ausreichenden politischen Willen. Das ist sehr schade."

    Die Siniora-Regierung habe jedoch Mechanismen geschaffen, die erstmals eine sinnvolle Koordination zwischen den einzelnen Ministerien und damit die Umsetzung der Reformen erleichtern sollen.

    "Darüber hinaus? Ich meine Mechanismen sind gut, aber die Umsetzung der Reformen kommt erst später, wenn das politische Umfeld günstiger ist."

    Weder die versprochenen Privatisierungen wurden bislang umgesetzt, noch wurden Subventionen für Brot oder Benzin gekürzt. Dennoch hat der Libanon nach Angaben von Finanzminister Jihad Azour inzwischen Vereinbarungen in Höhe von mehr als vier Milliarden Dollar mit Geberländern unterzeichnet. Azour, ein Technokrat, den westliche Diplomaten für Transparenz und Professionalität loben, verteidigt die Arbeit der Regierung:

    "Bis Jahresende 2007 haben wir es geschafft, alle wirtschaftlichen und finanziellen Indikatoren zu verbessern, die Schulden wurden stabilisiert, wir haben mit der Umsetzung der Reformen begonnen, wir haben unsere Glaubwürdigkeit in den Augen der internationalen Gemeinschaft verbessert, all das zeigt, dass die libanesische Regierung trotz aller Schwierigkeiten das Management verbessert hat und dass 'Paris 3' nicht tot ist, sondern dass wir es am Leben erhalten."

    Fortschritte in diesem Jahr zu erzielen, werde hingegen schwieriger, so Azour:

    "Weil wir dringend das Parlament brauchen, um Gesetze zu ratifizieren. Wir improvisieren schon, wir versuchen einige Reformen umzusetzen bevor wir die Gesetze haben, durch Dekrete oder andere administrative Wege."

    Für Khalil Gebara von der Lebanese Transparency Association haben all diese Bemühungen nichts spürbar verändert.

    "Im Endeffekt haben sie bisher nur Versprechungen gemacht. Was daraus wird? Wir wissen es nicht. Es könnte sein, dass ein Teil davon wieder im typisch libanesischen Kuhhandel untergeht. Die Exekutive hat ihre Hausaufgaben gemacht, hat neue Vorschläge gemacht und wir warten."

    Die Probleme des Schuldenberges – immerhin 41 Milliarden US-Dollar, das sind rund 180 Prozent des Bruttoinlandproduktes – sind langfristig nicht gelöst. Jedes Jahr kommen durch ein rund 40-prozentiges Budgetdefizit neue Schulden hinzu. Die Administration sei in großen Bereichen weiterhin ineffektiv und korrupt, sagt Khalil Gebara.

    "Wenn wir über Korruption reden, dann sprechen wir über ein System, das den Staat als Geisel nimmt, wenn nämlich das gesamte System korrupt ist. Dann ist die Frage, was kann man tun?"

    Zwar habe die Korruption beim Wiederaufbau nicht im großen Stil zugenommen wie in den 90er Jahren, doch:

    "Jeder war irgendwie beteiligt und hat von Entschädigungen profitiert. So ist uns beispielsweise ein Fall bekannt, wo jemand vor zehn Jahren gestorben ist, und jetzt wurde er zum Märtyrer des Krieges deklariert."

    Mit all dem müsse dringend aufgeräumt werden, so Gebara, doch das habe im Moment für niemanden Priorität. Der Westen wolle vor allem die Siniora-Regierung stützen.

    "Sie wollen, dass die Regierung überlebt. Wir wussten von Anfang an, dass das Geld der Pariser Konferenz politisches Geld ist. Doch gleichzeitig wird es den internationalen Gebern schwer fallen, Entschuldigungen dafür zu finden, dass sie so viel zahlen und sich im Grunde im Libanon doch nichts ändert."

    Michel Geraitini sitzt mit dunkelgrüner Winterjacke vor dem blauen Plastik-Zelt der Freien Patriotischen Bewegung und raucht Wasserpfeife. Ein großes Poster des christlichen Generals Aoun schmückt den Eingang. "Ein Mann für alle" steht darauf. Michels Freund Charles kaut lustlos Popcorn. Sonst ist weit und breit niemand zu sehen in Tent City, der Zeltstadt, die von hunderten Demonstranten der Opposition vor über einem Jahr errichtet wurde, um die Regierung Siniora zu Fall zu bringen.

    "Wir sind bereit hier noch zehn Jahre zu bleiben, wenn es sein muss. Wir fordern keine Wunder, alles was wir verlangen ist eine Beteiligung an der Regierung."

    Gelangweilt flattern die Zeltwände im Wind, die Matratzen sind unbenutzt, aber die Zelte bleiben – bis es eine Regierung der nationalen Einheit gibt, sagt die Opposition vollmundig. Dass die Zelte immer noch stehen, auch wenn sie leer sind, ist ihre Art der Machtdemonstration.

    "Wir brauchen keine starke Präsenz hier, die Leute haben schließlich ihre Jobs und müssen arbeiten. Aber wann immer General Aoun uns zusammenruft, werden wir alle sofort kommen und der Platz wird voll sein."

    Die Minister der Siniora-Regierung verschanzen sich derweil nur wenige Meter von diesen verwaisten Zelten entfernt hinter hohen Schutzmauern und Stacheldrahtrollen im Serail, dem imposanten Gebäude aus osmanischer Zeit, in dem eigentlich nur der Premierminister seinen Amtssitz haben sollte. Trotzig führen sie hier weiter die Regierungsgeschäfte. Finanzminister Azour:

    #"Wir haben gewisse Entscheidungen getroffen, damit die Regierungsinstitutionen weiter funktionieren. Denn ich glaube, der Libanon führt einen großen Krieg um den Erhalt der Demokratie, des Pluralismus und starker Institutionen."

    Die Menschen in Beirut, wo täglich mindestens drei Stunden lang der Strom ausfällt, spüren allerdings seit Jahren nichts von starken Institutionen, sie verlieren zunehmend den Glauben an ihre politischen Führer. Erstaunlich sei, dass in einem solchen Nicht-Staat Gewalt und Kriminalität nicht um sich griffen, meint Amal Saad-Ghorayeb von der Carnegie-Stiftung.

    "Aber der Libanon überlebt, nicht wegen seiner Institutionen sondern wegen ihres Fehlens. Es gab sie nie. Ich glaube dies beweist, dass das Land von den Zouama, den konfessionellen Führern, geleitet wird. Wir haben keine funktionierenden Institutionen, aber das Land funktioniert."

    Osama Safa erwartet weiterhin vereinzelte Anschläge, aber keinen Bürgerkrieg, solange es einen Konsens unter den politisch-konfessionellen Führern gegen Gewalt auf den Straßen gebe. Doch der Libanon befinde sich sehr nahe am Abgrund:

    "Dies ist ein sehr zerbrechlicher Staat, am Rande des Scheiterns. Aber noch nicht ganz gescheitert, wie Somalia oder Irak. Äußerst verwundbar, er kann scheitern oder sich berappeln. Ich hoffe sehr, dass er nicht scheitern wird."