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Ein großer Wurf

Mit Sicherheit ist es kein "Wunder", dass der australische Autor - ein spät berufener Schriftsteller - vor kurzem in Mainz mit dem renommierten Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis der Deutschen Bischofskonferenz ausgezeichnet wurde. Martina Wehlte hatte Gelegenheit, mit Gerard Michael Bauer während seines Deutschlandaufenthaltes zu sprechen.

Von Martina Wehlte | 20.09.2008
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    2003 legte der Australier Michael Gerard Bauer seinen ersten Jugendroman "Running Man" vor. Das Buch wurde ein großer Erfolg. Es liegt mittlerweile in mehreren Sprachen vor, erhielt in Deutschland den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis und ist in diesem Jahr für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Herr Bauer, war das auch der Startschuss für Ihre schriftstellerische Arbeit oder haben Sie zuvor beispielsweise Kurzgeschichten geschrieben?`

    "Das einzige, was ich vor "Running Man" geschrieben habe und was veröffentlicht wurde, ist eine Kurzgeschichte. Ich unterrichtete und hatte seit Jahren vor, eine Kurzgeschichte zu schreiben, schaffte es aber zeitlich nicht. Bis eines Tages in Brisbane ein Wettbewerb für das Verfassen einer Kurzgeschichte von exakt einhundert Wörtern stattfand und da dachte ich, dass ich das schaffen würde. Ich reichte meinen Beitrag neben sechshundert anderen Teilnehmern ein und ich gewann den Wettbewerb. Alles, was ich bis zum "Running Man" geschrieben hatte, war also eine Kurzgeschichte von einhundert Wörtern."

    Es war für den heute dreiundfünfzigjährigen Englischlehrer Michael Gerard Bauer eine Frage der Zeit, aber auch des Selbstvertrauens mit dem Schreiben anzufangen.
    Über zweieinhalb Jahre hin entstand eine tragische Geschichte mit einem zwar nicht glücklichen, aber hoffnungsvollen Ausgang. Die Initialzündung für das Romanthema war ein Erinnerungsschnipsel Michael Bauers. Er erinnerte sich an einen Mann seiner Kindheit, der in alten Kleidern und ohne jemals mit jemandem zu reden die Straßen entlang hastete und vor dem sich der Junge damals fürchtete.

    "Als ich älter war, erfuhr ich, dass er nie etwas verbrochen hatte, niemandem etwas zuleide tat. Er war nicht gefährlich, nur anders. Und das war Teil meiner Motivation als Autor über die Art, wie wir andere Leute sehen, zu schreiben. Und die Idee mit den Seidenraupen kam hinzu, weil sie sich in ihrem Leben stark verändern. Wenn wir eine Person kennen lernen, dann in einem bestimmten Lebensstadium. Wir wissen nicht was sie zuvor erlebt hat und wir wissen nicht, was in der Zukunft geschehen könnte."

    Der zeichnerisch begabte vierzehnjährige Joseph, die Hauptfigur, wird von einer Nachbarin gebeten, ihren völlig zurückgezogen lebenden Bruder Tom zu porträtieren. Dieser schwer zugängliche Endfünfziger, vom Autor psychologisch hervorragend erfasst, züchtet Seidenraupen, die ihr ganzes Leben in einem Karton verbringen. Sie sind ebenso abgesondert von der Welt wie Tom Leyton, dessen kantige, abweisende Persönlichkeit sich dem Jungen langsam entpuppt.

    Das Vexierspiel zwischen dem Schein der Menschen und ihrem wahren Wesen, das sich hinter einer Maske versteckt; das unbekannte Vorleben, das die Menschen zu denen gemacht hat, die sie bei unserer Begegnung sind, ihr Einspinnen in eine Schutzhülle und die Vorurteile, mit denen wir ihnen begegnen, schließlich das Erkennen und das befreiende Sich-Bekennen seiner Figuren: das ist das Themenfeld Michael Gerard Bauers. Das Sich-Einspinnen des Menschen kommt in "Running Man" im Motiv der Seidenraupen zum Ausdruck. Welchen Aufwand an Zeit und Energie dieser Prozess kostet, wird daraus ersichtlich, dass jede Raupe mit sechzig Kilogramm Maulbeerblättern gefüttert werden muss, denn vom Schlüpfen bis zur Verpuppung frisst Bombyx mori bis zu 40.000 mal das eigene Körpergewicht.

    Im "Running Man" steht Joseph in einem Beziehungsgefüge mit drei Männern, die auf unterschiedliche Weise vor ihrem Leben und sich selbst flüchten: seinem Vater, dem titelgebenden unbekannten Running Man, und dem Nachbarn Tom Leyton, der am Vietnamkrieg teilgenommen hatte und sich die letzten dreißig Jahre in seinem Haus versteckt.

    "... Ich mochte sie als Kind und ich liebe ein Gedicht des australischen Dichters Douglas Stewart, der darin das Leben dieser Tiere in einem Schuhkarton beschreibt, wie sie nur fressen, anstatt ins Leben zu gelangen."

    In Tom Leytons Kindheit - wir befinden uns im Australien der späten fünfziger Jahre - war es Mode, die Raupen zu verkaufen oder zu tauschen. Aber Tom selbst hatte keine und so suchte er den Maulbeerbaum im Garten von oben bis unten ab, hob jedes Blatt hoch, - vergeblich.

    "Ich hatte immer gelernt, dass Gebete erhört werden. Man musste nur bitten. Daran glaubte ich. Also betete ich ... und hoffte auf ein Wunder, ... ein winzig kleines, dummes Wunder.... Aber jedes Mal war das Blatt leer. Am Ende konnte ich vor lauter Tränen die Blätter nicht mehr erkennen, und als es dunkel wurde, verfluchte ich Gott mit der ganzen Leidenschaft des Betrogenen." Noch am selben Abend brachte ihm ein Nachbarjunge völlig unerwartet einen ganzen Schuhkarton voller Seidenraupen, weil er sie nicht mit in die Ferien nehmen konnte. Und da hatte Tom doch noch sein Wunder: "Ich hatte Angst, wie noch nie zuvor im Leben. Ich dachte an all die schrecklichen Dinge, die ich an diesem Nachmittag gesagt hatte. Es war, als hätte ich eine wichtige Prüfung nicht bestanden... von da an glaubte ich, dass alles wahr war, dass meine Gebete erhört werden würden, weil es tatsächlich jemanden gab, der sie hörte."

    Jahrzehnte später will er - mit den Erfahrungen eines Vietnamveteranen - die ihm so wertvollen Seidenraupen ins Feuer werfen, denn durch die Begegnung mit dem Jungen Joseph hat sein eigener Kokon die Schutzfunktion verloren. Er hat von dem Hinterhalt erzählt, in den er und seine Kameraden von einem vietnamesischen Jungen gelockt worden waren und den er als einziger überlebt hatte. Und er, der sich schon für dieses tragische Ereignis schuldig fühlt, beichtet Joseph bald darauf seine zweite schwere Schuld, - nämlich das vietnamesische Kind bei einer späteren Begegnung erschossen zu haben. Den Menschen hinter der Maske zu erkennen, darum geht es. Und der Autor hätte kein schlichteres, aber auch kein überzeugenderes Bild hierfür finden können als die nächtliche Szene, in der Joseph sein fratzenhaftes Porträt von Tom Leyton verbrennt, weil es ihm nach seiner schrecklichen Lebensbeichte überhaupt nicht mehr ähnlich sieht. Er wartet sinnbildlich vor Toms Kokon, bis er ihn ins Leben zurückholen kann; und der wiederum hinterlässt ihm einen über und über mit Seidenfäden umsponnenen Maulbeerbaum, von dem Joseph weiß:

    "Er hat es für mich getan ... als so eine Art Zeichen ... dass ich nicht die Hoffnung aufgeben sollte. Es sei ein Wunder, hat er gesagt."

    "Running Man" ist ein ganz großer Wurf: die Geschichte einer behutsamen Annäherung zweier Außenseiter, die einander zum Leben in einem umfassenden Sinne erwecken; eine eindringliche Charakterstudie, ein spannendes und beglückendes Buch. Somit sind die Kriterien vollständig erfüllt, nach denen der Katholische Kinder- und Jugendbuchpreis für herausragende Werke verliehen wird: Religiöse Erfahrungen zu vermitteln, Glaubenswissen zu erschließen und christliche Lebenshaltungen zu verdeutlichen.

    Das Bemühen um den Nächsten jenseits aller Vorurteile, das Ringen um Selbsterkenntnis und der Mut zu sich selbst sind auch ein zentrales Thema in Michael Bauers zweitem Roman, der sich in seiner Stimmung und dem Sprachstil stark von dem ernsten und geheimnisvollen "Running Man" unterscheidet. Die deutsche Ausgabe ist gerade im Hanser Verlag unter dem Titel "Nennt mich nicht Ismael".erschienen, - eine Reverenz an Melvilles "Moby Dick", der im humorvoll überzeichneten zweiten Kapitel des Ismael-Buches eine ausschlaggebende Rolle für die Namensgebung der Hauptfigur spielt. Ein anderes zentrales Thema dieses Buches ist die Macht der Sprache, die der scheue Ismael für sich entdeckt und die sich im lebhaften, stellenweise schnoddrig überzogenen Sprachstil des Buches selbst niedergeschlagen hat. Eine wichtige Rolle spielt Im Laufe der Geschichte auch die Freundschaft:

    Das Ismael-Buch handelt wesentlich von Freundschaft und ihrer Bedeutung ... und davon, wie wichtig es ist ein guter Freund zu sein, die Freunde, die man hat, zu unterstützen; deshalb habe ich es meinen Freunden gewidmet.

    Eine Fortsetzung des Ismael-Buches ist bereits in Australien erschienen und soll im kommenden Jahr in deutscher Übersetzung bei Hanser aufgelegt werden. Eine Abenteuergeschichte, die prähistorische Zeit, Mittelalter und Science Fiction miteinander verbindet, hat der auch in anderen europäischen Staaten und in Amerika bekannte Autor ebenfalls abgeschlossen.