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Ein Jahr nach dem Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien
Kirche contra Verfassung?

Nicht nur katalanische Nationalisten setzen sich für die Unabhängigkeit der Region von Spanien ein, sondern auch Vertreter der katholischen Kirche. Sie behaupten: Das Recht auf Selbstbestimmung ist Teil der kirchlichen Sozialdoktrin – auch wenn es nicht verfassungskonform ist.

Von Hans-Günter Kellner | 01.10.2018
    Kathedrale "Sagrada Familia" des spanischen Architekten Antoni Gaudi in Barcelona.
    Steht sie irgendwann in einem unabhängigen Katalonien? Die Kirche "Sagrada Familia" in Barcelona (Deutschlandradio / Ellen Wilke)
    Sonntag auf dem Platz vor der Kathedrale Barcelonas. Menschen strömen aus dem Gottesdienst und bilden Kreise, fassen sich an den Händen, beginnen dann langsam, sich zu drehen. Jeden Sonntag tanzen sie hier die Sardana, den katalanischen Volkstanz.
    Ein paar Meter weiter hat Antoni Matabosch im Bischofspalast sein Büro. Der Priester erinnert sich noch gut an die Abstimmung über die Unabhängigkeit vor einem Jahr, an die Schlagstoßeinsätze der Bereitschaftspolizei, die den Auftrag hatte, die Wahlurnen zu beschlagnahmen. Wie er hatten insgesamt 400 katholische Geistliche die Katalanen dazu aufgerufen, an der Wahl teilzunehmen.
    "Ich hatte ein Manifest unterschrieben, in dem gesagt wurde, dass die Katalanen das Recht haben, über die Unabhängigkeit abzustimmen. Das war kein Manifest zugunsten der Unabhängigkeit, sondern für das Recht auf Selbstbestimmung. Das ist ein Grundrecht. Eine Frage ist die Unabhängigkeit, eine andere, abstimmen zu dürfen."
    "Moralische und ethische Fragen stehen über Gesetzen"
    Genau in dieser Frage hatte jedoch das spanische Verfassungsgericht schon mehrmals das Gegenteil entschieden: Es gebe kein Recht auf Sezession, folglich könne darüber auch nicht abgestimmt werden, urteilte das Gericht. Schon zuvor hatte es auch einen vom katalanischen Parlament verabschiedeten Gesetzeskatalog über das Referendum und einen anschließenden juristischen Übergang in einen eigenen Staat für ungültig erklärt. Trotzdem bleiben Matabosch und viele andere Vertreter der katholischen Kirche bei ihrer Haltung:
    "Die moralischen und ethischen Fragen stehen über den Gesetzen. Während des Francoregimes gehörte ich zu denen, die sich aus Protest im Kloster Montserrat eingeschlossen hatten. Das war völlig illegal. Aber wir verteidigten die Grundrechte der Katalanen. Als Pfarrer darf ich niemandem sagen, wen ich wähle. Aber ich darf sagen, was nach der Sozialdoktrin der Kirche die Grundrechte sind."
    Hundertausende Menschen demonstrieren in Barcelona für Kataloniens Unabhängigkeit.
    Hundertausende Menschen demonstrieren im September 2018 in Barcelona für Kataloniens Unabhängigkeit. (AFP/ Catalan National Assembly / Roser Vilallonga)
    Denn in der Debatte ginge es um sogenannte präpolitische Grundrechte, argumentiert der Theologieprofessor mit einem Begriff aus der politischen Philosophie. Diese Grundrechte stünden außerhalb des Verfassungsrahmens. Dies widerspricht allerdings der Idee des modernen Staates, in dem die Verfassung den Rahmen für ein demokratisches Zusammenleben bildet, und nicht kirchliche Dogmen, sagt der Journalist Xavier Mas de Xas Xas von der katalanischen Tageszeitung La Vanguardia:
    "Ich verstehe schon, dass es ethische Prinzipien gibt, die über den Gesetzen stehen und der Gesetzgeber versuchen muss, seine Gesetze danach auszurichten. Das ist die Utopie, dass alle Gesetze gerecht sein sollen. Aber das hat doch nichts damit zu tun, dass man die Verfassung einhält. Danach muss man sich richten. Ich halte es für sehr gefährlich, wenn ausgerechnet die Kirche sagt, dass ihre politischen Vorstellungen höhere ethische Prinzipien erfüllen als die Gesetze, die im Parlament beschlossen werden."
    "Eher Theokratie als Demokratie"
    Denn damit stellten Kirchenvertreter das demokratische System in Frage. Gerade in Spanien kommt es auch schnell zu Protesten, wenn die Kirche versucht, auf die Politik Einfluss zu nehmen. Denn sie hat in der Vergangenheit ja auch schon den Staatsstreich Francos von 1936 gegen die demokratische Zweite Republik als Kreuzzug gerechtfertigt. Kirche dürfe sich nicht als übergeordnete Instanz in Fragen der politischen Moral sehen, sagt der Journalist:
    "Das entspricht eher den Vorstellungen von einer Theokratie als denen einer Demokratie. Im Iran ist es so. Der oberste Führer ist ein religiöser Führer. In den laizistischen, liberalen Demokratien Europas hat so etwas keinen Platz. Das ist völliger Unsinn."
    Umfragen zufolge kümmern sich die Katalanen jedoch wenig darum, was die Kirchenvertreter sagen. Weit mehr als die Hälfte der Spanier geht so gut wie nie in die Kirche, unter den Katalanen sind es fast 90 Prozent. Dennoch ist der Einfluss der katholischen Kirche nicht zu unterschätzen. Mit den gesellschaftlichen Eliten ist sie eng verzahnt:
    "Der Katalanismus ist ohne die katholische Kirche gar nicht denkbar. Die Demokratische Konvergenz Kataloniens, die Partei, die hier 23 Jahre lang regiert hat und die nun zur Unabhängigkeitsbewegung Puigdemonts mutiert ist, wurde im Kloster von Montserrat unweit von Barcelona gegründet. Die Kirche hat die katalanische Sprache während der Francodiktatur verteidigt, daraus ist jetzt der Kampf um Unabhängigkeit geworden. Die Kirche vertritt da keine einheitliche Position, aber ein wichtiger Teil von ihr verteidigt die Thesen der Nationalisten."
    "Katalonien wird christlich sein oder es wird gar nicht sein"
    Vor allem im Benediktinerkloster von Montserrat, ganz in der Nähe von Barcelona, äußern sich die Mönche im Gottesdienst immer wieder zur politischen Zukunft Kataloniens. Und sie predigen von der Kanzel auch vom Selbstbestimmungsrecht, das es der spanischen Verfassung zufolge gar nicht gibt.
    "Katalonien wird christlich sein oder es wird gar nicht sein", steht am Eingang zum Kloster. Ein Satz, der viel über die Geschichte des katalanischen Nationalismus aussagt, meint der Mönch und Historiker Hilario Roguer in seiner kleinen Klosterzelle:
    "Der Satz stammt von Bischof Josep Torras i Bages. Er war eine Art spiritueller Vater des Katalanismus. Er hatte große Angst vor den linken Nationalisten, die sehr antiklerikal waren. In seinem Buch 'Katalanische Tradition' schrieb er 1892, dass für ihn das authentische Katalonien das christliche ist. Andere sagten, das authentische Katalonien sei das der Arbeiter, der Anarchisten. Dieser Satz bildet sein Denken gut ab."
    Blick auf des Kloster in Montserrat (Katalonien). Undatiert. | Verwendung weltweit
    Die Benediktinerabtei Santa Maria de Montserrat in Katalonien - ein Geburtsort des katalonischen Nationalismus? (picture-alliance / dpa)
    So gibt es in der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung sowohl bürgerlich-kirchliche wie auch links-anarchistische Strömungen. Doch der 92-Jährige findet nicht, dass sie sich gegenseitig ausschließen.
    "Das Selbstbestimmungsrecht ist Teil der Sozialdoktrin der Kirche. Ich habe ein Buch geschrieben: Es heißt: ‚Separatist sein ist keine Sünde.‘ Als es 2012 vorgestellt wurde, sagte ein bedeutender Theologe: ‚Separatist sein ist sogar eine Tugend.‘ Denn nach der traditionellen Doktrin der Kirche ist die Liebe zum Vaterland Teil des vierten Gebots. ‚Du sollst Vater und Mutter ehren‘, bedeutet auch die Kirche als Mutter und das Vaterland als Vater. Aber welches ist mein Vaterland? Das kann mir niemand diktieren!"
    "Kirche war Separatisten immer näher als Verfassungstreuen"
    Andere sehen darin jedoch eine theologische Rechtfertigung für den Verfassungsbruch. Denn es gibt ja auch Katalanen, die Spanien als ihr Vaterland betrachten, viele halten sogar Katalonien und Spanien für ihr Vaterland. Bislang war dies nie ein Problem, heute hingegen verläuft ein harter Konflikt unterschiedlicher Loyalitäten quer durch die katalanische Gesellschaft.
    Manchmal wird er auf offener Straße ausgetragen, etwa, wenn Anhänger und Gegner der Unabhängigkeit die gelben Schleifen, das Symbol für die Sezession, an Straßen und Plätzen auf- und wieder abhängen, oder wenn Familien Feste nicht mehr gemeinsam feiern wollen. Journalist Mas de Xas Xas wirft der katholischen Kirche Kataloniens vor, ihrer Aufgabe in diesem Konflikt nicht gerecht zu werden:
    "Die Kirche hat zwar auch schon zur Besonnenheit gemahnt. Aber zu den wirklich kritischen Anlässen wie dem 1. Oktober vor einem Jahr hat sie nicht alle katalanischen Gläubigen vertreten. Sie berücksichtigt die katalanischen Katholiken, die sich auch als Spanier verstehen, nicht im selben Maße wie die Anhänger der Unabhängigkeit. Die Kirche war den Separatisten immer näher als den Verfassungstreuen - oder wie man diese Gruppe auch immer nennen möchte."