Donnerstag, 25. April 2024

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Ein Jahr nach der Explosion in Beirut
Lüders: Rahmenbedingungen im Libanon "sind katastrophal"

Der Libanon steckt tief in einer Politik- und Wirtschaftskrise. Innenpolitisch wirkten zu viele Akteure, auch andere Staaten, die nicht dazu beitrügen, das Land voranzubringen, sagte Nahost-Experte Michael Lüders im Dlf. Die Anführer seien nicht bereit, das überkommene politische System zu reformieren.

Michael Lüders im Gespräch mit Dirk Müller | 04.08.2021
Menschen auf Balkonen eines Wohnhauses in Beirut, im Libanon, warten einen Stromausfall ab.
Mehr als die Hälfte der rund fünf Millionen Libanesinnen und Libanesen leben in Armut (picture alliance / Houssam Shbaro )
Am 4. August 2020 detonierten in einem Lagerhaus im Hafen von Beirut 2.700 Tonnen Ammoniumnitrat. Das Salz, das zur Herstellung von Düngemittel, aber auch von Sprengstoff, genutzt werden kann, lagerte dort offenbar jahrelang ungesichert - und mit dem Wissen von Regierungsmitgliedern. Durch die Explosion wurden mehr als 200 Menschen getötet und rund 6.000 verletzt. Große Teile des Hafens und der anliegenden Wohngebiete wurden massiv zerstört. Bis heute sind die genauen Ursachen für die Katastrophe nicht geklärt, Verantwortliche nicht identifiziert.
Blick auf den zerstörten Hafen von Beirut, im Vordergrund ein Schiffswrack
Ein Jahr nach der Explosion in Beirut​ - Die Last des Status quo
Viele der rund 300.000 Menschen, die bei der gewaltigen Explosion im Beiruter Hafen obdachlos wurden, können noch immer nicht zurück. Hinzu kommt eine schwere Wirtschaftskrise – und ein erstarrtes politisches System.
Die ohnehin schwierige Lage im Libanon hat sich infolge der Explosion und des darauffolgenden Rücktritts der Regierung weiter verschärft. Noch immer ist das Land ohne handlungsfähige politische Führung. Wie viele andere ringt es mit der Corona-Pandemie, leidet inzwischen aber auch unter der schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Nach Angaben der Weltbank leben mehr als die Hälfte der rund fünf Millionen Libanesinnen und Libanesen in Armut.
Der Politik- und Islamwissenschaftler Michael Lüders ist Nahost-Experte und Kenner des Libanon. Der Libanon habe viele Probleme, "innenpolitisch wie auch durch die Einwirkung von Akteuren", sagte er im Deutschlandfunk. Das große innenpolitische Problem sei, dass es sich beim Libanon immer noch um einen Feudalstaat handele, in dem verschiedene religiöse und ethnische Anführer einander gegenüberstünden und nicht wirklich bereit seien, das überkommene, politische Proporzsystem zu überwinden und eine wirkliche Demokratie zuzulassen.
Weiße Luftballons fliegen über dem zwerstörten Hafen in Beirut, 10. Oktober 2020
Geberkonferenz für den Libanon - "Finanzhilfen sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein"
Frankreich hilft dem Libanon mit Geberkonferenzen und Soforthilfen. Der Libanon brauche aber mehr als nur Hilfsgelder, sagt der Nahostexperte Shahin Vallée.
Hinzu kämen externe Akteure, die Einfluss nähmen. So spiegele sich auch der Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran im Libanon wider. Letztlich gäbe es zu viele Interessensgruppen, die eine Öffnungen des Landes verhinderten. Das Ergebnis seien Staatszerfall und der Zusammenbruch der Wirtschaft. Möglicherweise müsse das Land erst noch weiter in die Krise abgleiten, bevor die politische Klasse bereit sei, zu handeln, meint Lüders.

Das Interview im Wortlaut:
Dirk Müller: Die Forderung nach tiefgreifenden Reformen machte nach der Explosion im Libanon die Runde und die Politiker im Libanon versprachen, genau dies zu tun. War das alles heiße Luft?
Lüders: Zum Teil, andererseits gab es schon Versuche, das Land voranzubringen. Die Lage vor Ort ist aber komplex. Der Libanon ist ein kleines Land, hat aber viele Probleme, innenpolitisch wie auch durch die Einwirkung von Akteuren, die von außen auf den Libanon einwirken. Das große innenpolitische Problem ist: Wir haben es hier mit einem Feudalstaat zu tun, in dem verschiedene religiöse und ethnische Anführer einander gegenüberstehen, sich die Butter auf dem Brot gegenseitig nicht gönnen und in der Regel nicht wirklich willens und bereit sind, Kompromisse zu schließen – vor allem nicht das völlig überkommene politische System, Proporzsystem zu überwinden und eine wirkliche Demokratie zuzulassen. Das Ergebnis ist der Staatszerfall und der Zusammenbruch der Wirtschaft.

"Massiver Verfall der libanesischen Wirtschaft"

Müller: Das hört sich so an, Michael Lüders, dass das nicht zu lösen ist, dieses strukturelle Problem.
Lüders: Es wird lange Zeit brauchen, diese Probleme zu lösen, und möglicherweise muss das Land erst noch weiter in die Krise abgleiten, bevor die politische Klasse bereit ist zu handeln. Die Rahmendaten im Libanon sind katastrophal. Die Hälfte der Bevölkerung lebt mittlerweile unterhalb der Armutsgrenze. Die Hälfte der schulpflichtigen Kinder geht nicht mehr zur Schule. Die Hälfte der Bevölkerung genießt keine Lebensmittelsicherheit mehr. Das bedeutet: Wenn die Menschen morgens aufwachen, wissen sie nicht, ob sie tagsüber etwas zu essen bekommen.
Der Grund ist der massive Verfall der libanesischen Wirtschaft. Wer ein festes Einkommen hat, der hat umgerechnet nur noch 50, 60 Euro im Monat zur Verfügung. Auch die Armee steht im Libanon kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Die Menschen, die Soldaten können einfach nicht mehr ihre Familien ernähren. Das alles ist ein wirklich übles Szenario – vor allem, weil die Sorge besteht, dass es irgendwann zu Hungerunruhen kommt oder Kriminalität die Politik des Landes mehr und mehr bestimmt.

"Gegen die Hisbollah kann man im Libanon keine Politik machen"

Müller: Viele werden sich jetzt wundern, die den Libanon auch in den 60er-, 70-, 80er-, 90er-Jahren verfolgt haben, zumindest in den Medien aus unserer Sicht. War das nicht einmal das Land mit dem größten Potenzial im Nahen Osten?
Lüders: Das ist leider lange her. Viel Zerstörung hat dort stattgefunden. In den 1970er-, 80er-Jahren gab es einen zerstörerischen Bürgerkrieg, der bis heute nicht aufgearbeitet ist, und dieselben politischen Anführer diverser Milizen, die damals schon das Land ins Unglück gestürzt haben, haben auch heute noch maßgeblich das politische Sagen.
Hinzu kommt, dass die Hisbollah, die Partei Gottes, die gleichermaßen Miliz und Partei ist, mittlerweile einen sehr, sehr großen Einfluss ausübt im Libanon. Vor allem Frankreich und die USA wollen diesen Einfluss um jeden Preis zurückdrängen, um damit den Iran zu schwächen. Das Problem ist nur: Gegen die Hisbollah kann man im Libanon keine Politik machen. Und diejenigen Politiker, die das versuchen, die haben keine Chance.
Pro-iranische Hisbollah-Kämpfer halten während des Trauerzuges von fünf ihrer Kollegen, die bei Zusammenstößen mit der türkischen Armee in der syrischen Provinz Idlib getötet wurden, Fahnen in der Hand. 
Libanon - Im Griff der Hisbollah
Im Libanon formiert sich zunehmend Widerstand gegen die pro-iranische Schiitenpartei Hisbollah. Doch noch mobilisiert diese neben Kritikern viele Anhänger. Was bringt junge Leute dazu, sich ihr anzuschließen und für sie in Stellvertreterkriege zu ziehen?
Vor einem Jahr etwa kam der langjährige libanesische Botschafter in Berlin zum Zug als Ministerpräsident im Libanon, Mustapha Adib. Nach knapp einem Jahr musste er das Handtuch werfen, weil die Franzosen und die Amerikaner ihn davon zu überzeugen versuchten, die Hisbollah in eine neue Regierung nicht mit aufzunehmen, stattdessen ein Technokratenkabinett zu bilden unter Ausschluss der Partei Gottes. Er war auch gewillt, dieses zu tun, aber in Verbindung mit dem Unwillen der übrigen Akteure, Kompromisse einzugehen, konnte er nicht gewinnen, konnte er nur scheitern bei diesem Projekt.
Es scheint so, dass Frankreich und die USA dazugelernt haben, dass sie begriffen haben, dass man die Hisbollah nicht fernhalten kann, so unsympathisch dieser Akteur aus unserer Sicht ist. Denn der neue Ministerpräsident, Nadschib Miqati, der jetzt seit zehn Tagen im Amt ist, der ist zwar auch Sunnit, er hat auch einen saudischen Pass, er hat gute Beziehungen in Richtung Frankreich und USA, aber gleichzeitig auch gute Beziehungen zu Damaskus und Teheran. Deswegen glauben viele Beobachter, dass er erstmals eine Chance haben könnte, nun doch das Land wieder aufs Gleis zu setzen.
Müller: Das heißt, er müsste sich politisch, von außen betrachtet, Pariser Perspektive, Washingtoner Perspektive, mit den Bösen gut arrangieren?
Lüders: Man muss zur Kenntnis nehmen, wie sich die Realitäten vor Ort gestalten, und die Hisbollah ist ein Machtfaktor und den kann man nur reduzieren, in seinem Einfluss zurückdrängen, indem man sich auch mit dem Iran ins Benehmen setzt, und das findet zurzeit nicht statt. Die Beziehungen zwischen den USA und Iran sind nach wie vor sehr angespannt und das französische Engagement im Libanon ist einerseits zu begrüßen, insoweit Frankreich immer wieder dafür Sorge trägt, dass Gelder in Richtung Beirut überwiesen werden, aber andererseits fällt die französische Politik auch gerne in ihre alte Rolle als de facto Kolonialmacht zurück. Den Libanon gibt es ja de facto nur, als er in den 1940er-Jahren gegründet wurde, weil Frankreich einen Außenposten in der Levante haben wollte, ein christlich geprägtes Land, das es auch ursprünglich mal war, aber heute sind die Schiiten die Bevölkerungsmehrheit und sie fordern natürlich auch ihre Rechte ein.

"Politische Klasse hat sich hemmungslos bereichert"

Müller: Bleiben wir bei den Finanzen. Gibt es Erkenntnisse darüber, Untersuchungen, wo diese französischen Gelder, wenn wir dabei als Beispiel mal bleiben, hinfließen, wo die ankommen?
Lüders: Ich glaube, mittlerweile sind alle ausländischen Geberländer sehr, sehr vorsichtig, dass sie nichts überweisen, wo nicht am Ende auch klar ist, wo das Geld landet. Die politische Klasse im Libanon hat sich in den letzten Jahrzehnten ohne Scham hemmungslos bereichert. Es gibt sehr, sehr viele Milliardäre unter den Politikern im Libanon.
Menschen haben sich vor dem zerstörten Hafen versammelt, sie schwenken Nationalflaggen
Libanon: "Es ist nicht nur Politik, es ist Korruption"
Nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut gab es viele Proteste. Sie richteten sich gegen korrupte Politiker, gegen die Regierung, die nichts für das Land getan habe, so der Basketballprofi Fadi El Khatib.
Müller: Ganz gleich welcher Couleur?
Lüders: Ganz unterschiedlicher Couleur. Die meisten sind Sunniten oder Christen. Die Schiiten gehören nach wie vor zu den ärmeren Teilen der Bevölkerung, aber auch dort wächst der Reichtum, aber der ist extrem ungleich verteilt. Sie haben eine kleine Schicht von Leuten, die sehr, sehr gut leben können, und die breite Masse der Bevölkerung lebt im großen Elend. Wer allerdings aus dem Ausland Geld bekommt als Libanese, weil er dort Verwandte hat beispielsweise, und dieses Geld dann anschließend auf dem Schwarzmarkt im Libanon umtauscht zum Schwarzmarktkurs, der kann im Libanon leben wie Gott in Frankreich und das tun auch vor allem die Reichen, die Hotels in den Amüsiervierteln der christlichen Enklaven von Junie oder anderen Orten sind gut gefüllt, die Hotels ausgebucht. Es ist ein Leben, wirklich ein Tanz auf dem Vulkan. Es ist allerdings nur eine Frage der Zeit, bis es dort im Libanon zu wirklichen sozialen Explosionen kommt.

Besser ausgebildete Libanesen auf der "Flucht ins Ausland"

Müller: Das wollte ich Sie fragen. Braucht der Libanon den Aufstand der Straße?
Lüders: Den hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben. Es gibt genügend junge Libanesen, die in der Regel gut ausgebildet sind, die mit diesen politischen Strukturen nichts mehr zu tun haben wollen, die einen neuen, einen freien demokratischen vielfältigen Libanon haben wollen. Aber die Armee und die Behörden haben in der Vergangenheit immer diese Jugend kartätscht oder ihr wenig Luft zum Atmen gegeben und im Augenblick sieht es so aus, dass die besser ausgebildeten Libanesen, vor allem die Christen die Flucht ins Ausland anstreben, übrigens mit dramatischen Folgen für das Gesundheitssystem im Libanon, das im Zusammenhang mit der Covid-Epidemie, die auch dort natürlich grassiert, kurz vor dem Zusammenbruch steht, weil jeder, der die Chance hat, die Möglichkeit hat, ein Visum für Frankreich oder anderswo hin oder für andere Länder zu bekommen, der geht ins Ausland und das fällt den Christen sehr leicht, weil sie in Frankreich beispielsweise gerne gesehen sind.

Ein "Zustand feudalstaatlicher Selbstherrlichkeit"

Müller: Wir haben zwei internationale Player angesprochen, Frankreich und die Vereinigten Staaten. Die Hisbollah haben wir thematisiert. Wir haben noch gut eine Minute, Herr Lüders. Wer spielt noch von außen eine entscheidende Rolle?
Lüders: Israel spielt eine wesentliche Rolle, indem es vor allem die Souveränität des Libanon ständig missachtet und über libanesisches Territorium Angriffe in Syrien fliegt, was man im Libanon nicht sehr schätzt. Und natürlich will Israel genauso wie die USA die Hisbollah geschwächt sehen. Die Franzosen spielen wie erwähnt eine wichtige Rolle, aber auch Saudi-Arabien ist ein wichtiger Akteur, der hinter den Kulissen dafür Sorge trägt, dass die Schiiten nicht zu viel Macht bekommen. Der Konflikt, den wir haben zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, der spiegelt sich auch im Libanon.
"Meine Regierung hat das gemacht", steht am Straßenrand vor der Ruine des Lagerhauses in Beirut, das Anfang August 2020 explodierte
Libanon - Zwischen Kreuz und Koran
Schwache politische Führung und Misswirtschaft: Der Libanon steckt in einer schweren Krise. Die Bevölkerung traut ihrer Regierung nicht zu, einen Ausweg zu finden. Die Religionsgemeinschaften sind ein Teil des Problems.
Ein libanesischer Historiker hat mir mal gesagt, die Tragik des Libanon besteht darin: "Wir haben zu viel Geschichte". Und da ist etwas dran. Es ist ein so kleines Land, ein wunderbares Land, in jeder Hinsicht, aber es spiegeln sich hier zu viele Interessensgruppen wieder und sie tragen nicht dazu bei, das Land nach vorne zu bringen, sondern zu verharren in einem Zustand feudalstaatlicher Selbstherrlichkeit von überwiegend älteren Männern in diesem Fall, die nicht gewillt sind, das Land zu öffnen, vor allem nicht der Jugend zu öffnen, und wahrscheinlich muss es erst noch eine Weile schlimmer werden, bevor es besser werden kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.