Dienstag, 16. April 2024

Ein Jahr nach Mord an Walter Lübcke
"Zäsur in unserer deutschen Geschichte"

Mit einem Kopfschuss wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke am 1. Juni 2019 vor seinem Haus getötet. Als Hauptverdächtiger und Komplize gelten der Neonazi Stephan E. und sein Freund Markus H. Die Hintergründe der Tat und welche Rolle die beiden in der Szene gespielt haben - ein Überblick.

01.06.2020
    Der Stuhl auf der Ehrentribühne, der für den erschossenen Kasseler Regierungspäsidenten Walter Lübcke reserviert war, ist am Tag des Festumzugs mit einem Foto und einem Blumenstrauß geschmückt. Der Festumzug markiert auch in diesem Jahr wieder das Ende des Hessentages.
    Gedenken an den ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten: Walter Lübcke war im Juni 2020 mutmaßlich von einem Neonazi ermordet worden. (picture alliance / Yann Walsdorf)

    Schatten von Menschen, Text: Rechtsextremismus
    Rechtsextremismus (dpa / Martin Schutt)
    Der Mord: Was ist am 01. Juni 2019 passiert?
    Am späten Abend des 01. Juni 2019 saß der Kasseler Regierungspräsident auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-Istha und ließ den Tag bei einer Zigarette ausklingen. An diesem Abend fand in dem Ort eine Kirmes statt. Der Neonazi und mutmaßliche Mörder von Lübcke, Stephan E., soll sich diesen Tag bewusst ausgesucht haben um nach seiner Tat unerkannt entkommen zu können, so die Ermittler. Im "Schutze der Dunkelheit" habe sich E. gegen 23:30 Uhr dem Wohnhaus des CDU-Politikers genähert und ihm dann aus kurzer Entfernung mit einem Revolver in den Kopf geschossen. Ein Familienmitglied fand ihn kurze Zeit später leblos auf der Terrasse. Lübcke verstarb noch in derselben Nacht an den Folgen des Schusses.
    Suizid wurde von den Ermittlern gleich ausgeschlossen. Die Kasseler Staatsanwaltschaft eröffnete ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Tötung. Für eine rechtsextremistisch motivierte Tat gebe es aktuell keine Hinweise, sagte die Präsidentin des hessischen LKA noch am 03. Juni 2019 während einer Pressekonferenz. Dabei hatte es Morddrohungen aus rechten Kreisen gegen den Politiker schon länger gegeben. Zwischenzeitlich hatte Lübcke sogar unter Polizeischutz gestanden.
    02.07.2019, Baden-Württemberg, Karlsruhe: Stephan E., Tatverdächtiger im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, wird nach einem Haftprüfungstermin beim Bundesgerichtshof (BGH) zu einem Hubschrauber gebracht. Foto: Uli Deck/dpa | Verwendung weltweit
    Mord an Walter Lübcke: Welche Rolle spielte der NSU in Hessen?
    Die Hintergründe des Mordes an dem früheren Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke sind unklar: Gab es neben dem mutmaßlichen Täter E. und dessen mutmaßlichen Mitwisser Markus H. auch Verbindungen zum rechten NSU?
    Den Hass auf sich gezogen hatte er vor allem mit einem Satz, den er am 14. Oktober 2015 während einer Bürgerversammlung gesagt hatte. Als zuständiger Regierungspräsident, wollte er die Menschen über eine geplante Flüchtlingsunterkunft informieren. Laut Zeugen war die Stimmung aggressiv. Lübcke soll ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern gedankt und betont haben, dass es sich lohne, in diesem Land zu leben und für Werte einzutreten. Dann fügte er hinzu: "Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist." Diesen Satz gab der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, Stephan E. in einem ersten - und später widerrufenen - Geständnis als Tatmotiv an.
    Die mutmaßlichen Täter: Was weiß man über Stephan E. und Markus H.?
    Am 15.06.2019 wurde der Rechtsextremist Stephan E. festgenommen und unter dringendem Tatverdacht in die JVA Kassel I gebracht. Auf seine Spur gekommen waren die Ermittler, weil seine, in einer DNA-Analyse-Datei gespeicherte Probe, mit einer DNA-Spur am Tatort des Mordes von Walter Lübcke übereinstimmte. Der 42-Jährige E. war schon in der Vergangenheit immer wieder durch seine Gewaltbereitschaft und seinen rassistischen Hass aufgefallen. Mit 15 hatte er Benzin im Keller eines Hauses vergossen, in dem überwiegend Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte lebten. Sechs Jahre später baute er eine Rohrbombe, die vor einer Flüchtlingsunterkunft in Hessen hochgehen sollte, was aber noch verhindert werden konnte. Der Verfassungsschutz beobachtete ihn fortan.
    Später sei er wieder vom Radar des Inlandsgeheimdienstes verschwunden, so Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz im April 2020. Erst im Laufe der Ermittlungen um den Mord an Walter Lübcke ergaben sich Hinweise auf weitere, möglicherweise von Stephan E. begangene Straftaten. Unter anderem 2003 der Mordversuch an einem Kasseler Lehrer, der sich gegen Rechtsextremismus engagierte und in seiner Wohnung nur knapp einer Kugel entging. Und der versuchte Mord im Januar 2016 an einem irakischen Asylbewerber. Der Mann überlebte schwer verletzt.
    Das Konterfei von Walter Lübcke (CDU) ist hinter einem Bundeswehrsoldaten am Sarg bei einem Trauergottesdienst in der Martinskirche zu sehen. 
    Anklage im Fall Walter Lübcke
    Elf Monate nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erhebt die Bundesanwaltschaft Anklage. Juristisch wie politisch weist der Fall weit über sich hinaus.
    Im April 2020 wurde gegen Stephan E. wegen des Mordes an Walter Lübcke Anklage erhoben. Unterstützt haben soll ihn Markus H. - auch kein Unbekannter in der nordhessischen Neonazi-Szene. H. muss sich wegen Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke verantworten. In der Anklageschrift des Generalbundesanwalts heißt es: Markus H. sei zwar nicht in die konkreten Anschlagspläne eingeweiht gewesen, jedoch "hielt er es spätestens ab Juli 2016 für möglich, dass Stephan E. aus seiner rechtsextremistischen Weltanschauung heraus einen politischen Entscheidungsträger töten würde". Markus H. habe dies billigend in Kauf genommen. Mitte Juni soll der Prozess gegen Stephan E. und Markus H. am Oberlandesgericht Frankfurt beginnen.
    Politik und Sicherheitsbehörden: Was ist seitdem passiert?
    Nach dem Mord an Walter Lübcke hat das Land Hessen eine starke personelle Aufstockung der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität, kurz ZIT, bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main beschlossen. Die ZIT-Staatsanwälte waren bis zum Lübcke-Mord gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt in Wiesbaden auf Ermittlungen im sogenannten "Darknet" spezialisiert. Seitdem kümmern sie sich auch um strafbare Hass-Kommunikation im gesamten Internet. Die hessische Polizei hat beim Landeskriminalamt in Wiesbaden außerdem eine sogenannte "Besondere Aufbauorganisation" eingerichtet, um den Druck auf die rechtsextreme Szene und rechte Straftäter zu erhöhen.
    Parallel zum Prozess gegen die beiden Angeklagten ab Mitte Juni soll in einem Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag zudem den Fragen nachgegangen werden, ob es möglicherweise in Kassel eine Zelle des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gegeben hat. Ob die beiden Angeklagten dieser Zelle möglicherweise angehörten, und ob Beamte, etwa des hessischen Verfassungsschutzes und der Polizei, zu Unterstützern dieser möglichen Untergrundstruktur gehörten.
    Das Foto zeigt ein Absperrband mit der Aufschrift "Polizeiabsperrung" ist vor dem Haus des getöteten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.
    Gesetz gegen Hetze - "Spüren, dass Rechtsradikale aktiver geworden sind"
    Das geplante Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität sei ein klares Zeichen, sagte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) im Dlf. Es zeige der Gesellschaft, dass man vieles nicht mehr tolerieren werde.
    Im Februar 2020 gestand der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) ein, dass es eine Verbindung zwischen dem ehemaligen hessischen Verfassungsschützer Andreas Temme und dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder Stephan E. gibt. Temme sei mit dem Rechtsextremisten Stephan E. "dienstlich befasst" gewesen, erklärte der CDU-Innenminister damals im Innenausschuss des hessischen Landtags auf Nachfrage von SPD-Abgeordneten. Temme war als Verfassungsschützer 2006 am NSU-Tatort in Kassel, als Halit Yozgat, der Betreiber eines Internet-Cafés, von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ermordet wurde. Temme bestreitet, etwas davon mitbekommen zu haben.
    Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, die Erinnerung an die Ermordung von Walter Lübcke treibe ihn an, "jeden Tag das Menschenmögliche zu tun, um den Rechtsextremismus und den Rechtsterrorismus in Deutschland mit Nachdruck zu bekämpfen". Der Mord sei eine "Zäsur in unserer deutschen Geschichte und eine Mahnung für uns alle".