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Ein Jahr NSU-Prozess
110 Verhandlungstage und kein Ende in Sicht

Seit einem Jahr wird am Oberlandesgericht in München gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte verhandelt. Trotz bislang 110 Prozesstagen ist der Erkenntnisgewinn zu den zehn NSU-Morden dünn. Derweil klagen Opfer-Verteidiger über allzu zögernde Unterstützung seitens der Generalbundesanwaltschaft.

Von Rolf Clement und Paul Elmar Jöris | 05.05.2014
    Ein Schild mit der Aufschrift "Verteidigung Zschäpe" steht am 15.04.2014 auf der Anklageband im Gerichtssaal im Oberlandesgericht in München.
    Nach einem Jahr hat das Gericht gerade die Hälfte der ursprünglich 600 Zeugen gehört. (picture alliance / dpa - Peter Kneffel)
    O-Ton Prozessbesucherin:
    "Ich fand es sehr spannend. Beate Zschäpe zu sehen, fand ich sehr spannend, auch interessant."
    Interessant? Dabei gibt es gar nicht so viel zu sehen. Auch morgen nicht, wenn am Oberlandesgericht in München der 110. Prozesstag eröffnet wird. Seit einem Jahr wird gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte verhandelt.
    Wie zu Beginn eines jeden Prozesstages betritt Beate Zschäpe auch an diesem Tag den Saal am Oberlandesgericht mit gesenktem Kopf, damit kein Fotograf ihr Gesicht ablichten kann. Mit wenigen schnellen Schritten eilt sie zur Anklagebank, wo ihre Verteidiger sich in ihren schwarzen Roben bereits so aufgeplustert haben, dass sie sich dahinter mühelos verstecken kann. Den Fotografen und Kameraleuten dreht sie den Rücken zu und plaudert entspannt mit ihren Anwälten.
    So sehr sich diese Auftritte von Beate Zschäpe gleichen, so sorgfältig sind sie inszeniert. Denn jeden Tag variiert sie ihre Frisur: Mal sind die langen Haare zum Zopf geflochten, mal werden sie von einer Strassspange zusammengehalten, mal hängen ihr die lockigen dunkelbraunen Haare offen über die Schulter. Mal sieht sie im schwarzen Businessanzug aus wie eine junge ehrgeizige Anwältin, mal kommt sie lässig in knallengen Jeans und Pullunder.
    Erst wenn die Kameras aus dem Saal sind, dreht sie sich um. Jetzt sieht man ein altes, faltiges Gesicht, das so gar nicht zu einer 39-Jährigen passen will. Eifrig baut sie ihren Laptop auf, stellt einen Tetrapack-Kanister mit Mineralwasser bereit und legt eine kleine Blechdose mit Bonbons auf die Anklagebank. Während der Verhandlung wird sie gelegentlich Süßigkeiten mit ihren Anwälten austauschen. Ansonsten sitzt sie still auf ihrem Stuhl.
    Alles in allem bemüht sich Beate Zschäpe, den Eindruck zu erwecken als ginge sie das ganze Verfahren nichts an. Was in ihr vorgeht, sieht man nicht und ihre Anwälte sagen dazu nichts. Anja Sturm ist eine der drei:
    "Wir äußern uns einfach nicht zu dem, was unsere Mandantin denkt, fühlt oder mit uns intern bespricht."
    Dabei hat es Stunden und Tage in dem Münchener Gerichtssaal gegeben, die sonst niemanden gleichgültig ließen. Beispielsweise als am 1. Oktober vergangenen Jahres Ismail Yozgat schilderte, wie er seinen Sohn Halit in dessen Kasseler Internetcafé fand und wie der 21-Jährige in seinen Armen starb.
    "Sehr geehrter Herr Vorsitzender Götzl, geehrte Mitglieder des Hohen Gerichts, sehr geehrte Damen und Herren der Bundesanwaltschaft, sehr geehrte Familien der Märtyrer und ihre Anwälte. Sie haben Interesse an uns gezeigt und dafür bedanke ich mich. Ich bin Ismail Yozgat, der Vater von Halit Yozgat, den sie am 6. April 2006 erschossen haben."
    Ihm kamen die Tränen und seine Stimme wurde brüchig. Der Vorsitzende ermahnte ihn, bei der Sache zu bleiben, und so erzählte Ismail Yozgat, dass er mit seiner Frau in der Stadt gewesen sei und sich gewundert hätte, dass sein Sohn nicht bereits vor dem Café auf ihn wartete, weil er sich verspätet hatte. Auch im Eingangsraum hätte er ihn nicht gesehen, nur zwei Blutstropfen auf dem Tresen. Und als er dann weiter gegangen sei, sah er seinen Sohn dort liegen.
    "Herr Vorsitzender, ich habe noch nie einen Erschossenen gesehen! Ich dachte, ihm ist schlecht geworden. Ich habe ihn gerufen: Halit, Halit, aber er antwortete nicht."
    Die schweigende Angeklagte
    Ismail Yozgat stand auf und schien vergessen zu haben, dass er in einem Gerichtssaal war. Langsam drehte er sich um seine Achse und rief immer wieder:
    "Er antwortete nicht, er antwortete nicht!"
    Seine Frau und sein Anwalt eilten zu ihm, nahmen ihn in die Arme und versuchten Ismail Yozgat zu beruhigen.
    Währenddessen schaute Beate Zschäpe auf den Bildschirm ihres Laptops. Die Hauptangeklagte schwieg auch an diesem Tag, wie sie das ganze Jahr vor Gericht geschwiegen hatte. Und wie immer schwiegen auch ihre Verteidiger.
    "Wir äußern uns grundsätzlich nicht zu den Befindlichkeiten unserer Mandantin. Wir als Verteidiger stellen fest, dass eine erhebliche Vorverurteilung schon vor Beginn der Hauptverhandlung stattgefunden hat und man zumindest die Prozessberichterstattung bisweilen überrascht zur Kenntnis nimmt."
    Kann man Beate Zschäpe die Mittäterschaft an zehn Morden nachweisen, wenn sie schweigt? Die mutmaßlichen Mörder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos leben nicht mehr. Die Verteidigung setzt darauf, dass ein beharrliches Schweigen den Nachweis schwer oder gar unmöglich macht. So stellen die drei Zschäpe-Verteidiger nur dann Fragen, wenn Zeugen angeben, sie hätten konkrete Beobachtungen gemacht, die ihre Mandantin in die Nähe der Morde bringen könnten. Ansonsten schweigen auch sie ähnlich emotionslos wie Zschäpe selbst.

    Die Anwälte von Beate Zschäpe
    Die Anwälte von Beate Zschäpe (picture alliance / dpa - Tobias Hase)
    Beate Zschäpe fiel nur zwei Mal aus ihrer Rolle: Als die Mutter von Uwe Böhnhardt aussagte, blickte sie zur Zeugin hinüber. Da schien die Schilderung ihrer lange vergangenen Zweisamkeit mit Böhnhardt sie zu berühren. Ein anderes Mal zeigte sie wohl unfreiwillig eine Reaktion: Als im Münchener Gerichtssaal das sogenannte Paulchen-Panther-Bekennervideo gezeigt wurde, in dem sich der "NSU" zu hämmernder Rechtsrockmusik mit seinen Morden brüstete, klopfte sie auf der Tastatur ihres Laptops den Rhythmus mit - bis einer ihrer Verteidiger sie mit einer gezischten Bemerkung zur Ordnung rief.
    Der 2011 aufgeflogenen, rechtsextremen terroristischen Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" wird unter anderem eine Mordserie in den Jahren 2000 bis 2007 zugeordnet. Die Opfer waren acht türkischstämmige und ein griechischer Kleinunternehmer sowie eine deutsche Polizistin. Für die Angehörigen der Opfer ist die Aussage in München eine Belastung und gleichzeitig eine Befreiung: So auch für Gamze Kubasik, deren Vater Mehmet am 4. April 2006 in Dortmund erschossen wurde.
    "Ja, für mich war das sehr wichtig, dass ich vor allem dem Richter sage, was für ein Mensch überhaupt mein Vater war. Weil es gab ein Bild von meinem Vater jahrelang, was nicht mein Vater war. Und das war mir sehr wichtig, das noch einmal als Tochter zu sagen, dass es nicht so war und dass mein Vater ein sehr guter Mensch und Familienvater war."
    Migranten wurden verdächtigt
    Zeuge vor Gericht zu sein, ist für die Hinterbliebenen belastend, weil sie den Tätern und deren Helfershelfern gegenübersitzen. Sie sehen und müssen ertragen, wie gleichgültig Beate Zschäpe der Verhandlung folgt. Sie spüren bei der Hauptangeklagten weder Reue noch Anteilnahme. In der Regel lassen sich die Angehörigen durch Anwälte vertreten. Nur wenn die Fälle verhandelt werden, die ihre Familien betreffen, kommen manche noch in den Gerichtssaal. Die Zeugenaussagen sind für sie auch befreiend, weil sie endlich als Opfer einer rechtsterroristischen Gruppe anerkannt werden und sich nicht mehr gegen den Verdacht wehren müssen, mit den Mördern unter einer Decke zu stecken. Jahrelang hatte die Polizei die Mörder unter Migranten gesucht. Die Ermittlungsbehörden hatten geglaubt, dass es Killer der türkischen Mafia oder der kurdischen PKK waren.
    Von solchen Verdächtigungen berichtete auch Ismail Yozgat. Nachdem er seinen Sohn in der Türkei beerdigt hatte und nach Kassel zurückkam, fand er dessen Zimmer versiegelt vor. In seiner Abwesenheit hatte die Polizei die Wohnung durchsucht. In der Stadt machten Gerüchte die Runde, die Polizei hätte in Halits Zimmer eine große Bargeldsumme gefunden – wohl aus Drogengeschäften. Die Polizei dementierte zwar, doch die Gerüchte, sein Sohn sei in illegale Geschäfte verwickelt gewesen, wollten nicht verstummen. Selbst türkische Nachbarn und Freunde tuschelten. Für die Hinterbliebenen bietet der Prozess erstmals die Möglichkeit, sich und ihre toten Angehörigen öffentlich von diesen Verdächtigungen freizumachen. Und zudem haben alle die eine Frage: Warum wurde mein Mann, mein Vater oder Bruder von den Mördern ausgewählt, warum wurde gerade er zum Opfer?
    Antwort auf die Frage, warum ausgerechnet in ihrer Straße ein Anschlag verübt wurde, erhoffen sich auch die Opfer der Nagelbombe, die mutmaßlich vom NSU am 9. Juni 2004 in Kölner Keupstraße gezündet wurde. 22 Menschen wurden verletzt, vier davon schwer. Im Sommer wird sich das Gericht mit dem Kölner Anschlag befassen. Mustafa Kaplan vertritt als Rechtsanwalt eines der Opfer, einen Juwelier aus der Keupstraße:
    "Er erwartet keine finanzielle Entschädigung. Ihm geht es um Aufklärung, und er würde gerne in Erfahrung bringen, warum letztlich die Keupstraße ausgesucht worden ist? Warum da so ein Aufwand betrieben worden ist? Und warum diese Art von Attentat mit dieser Nagelbombe, warum das in dieser Form vonstatten gegangen ist? Das ist es, warum es ihm geht."
    Auch Gamze Kubaşık, die Tochter des Dortmunder Kioskbesitzers, will wissen, warum ihr Vater Mehmet erschossen wurde. Wer hat die Täter auf seinen Kiosk aufmerksam gemacht? Hatten Böhnhard, Mundlos und Zschäpe Helfer? Ihr Anwalt Sebastian Scharmer hakt bei Zeugenvernehmungen immer wieder nach:
    "Wir sind dabei, die Antwort zu suchen. Das Problem dabei ist, dass wir dafür Zeugen aus dem Umfeld des Trios hören müssten. Also aus dem NSU. Also für mich sind die Drei immer nur das Kerntrio. Das ist aber schwierig, weil die an vielen Stellen die Aussage verweigern können und es auch tun."
    Vor ihrem Abtauchen trafen sich Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe immer wieder mit ihren Freunden auf Konzerten, die von dem "Blood and Honour"-Netzwerk organisiert wurden. Dort hatten sie auch diejenigen kennengelernt, die ihnen später, als sie bereits im Untergrund abgetaucht waren, halfen.
    "Sie waren wahrscheinlich nicht Mitglied bei "Blood and Honour", aber sie haben die Struktur von "Blood an Honour" genutzt, um sich Hilfe zu verschaffen: Wohnungen, möglicherweise auch Waffen, möglicherweise auch Sprengstoff. Das werden wir alles hier noch erfragen müssen."
    Das rechtsextremistische Netzwerk "Blood and Honour" organisierte nicht nur Konzerte und vertrieb die Musik von Neonazibands, sondern verbreitete auch nationalsozialistische Propaganda. In Großbritannien, Skandinavien, aber auch in Deutschland gab es den bewaffneten Arm des Netzwerkes "Combat 18". 18 steht für den ersten und achten Buchstaben des Alphabets, für A und H, die Initialen Adolf Hitlers. In den Schriften des Netzwerkes diskutierten die Kameraden über einen hierarchiefreien, in Zellen organisierten rechtsextremistischen Widerstand. Hier findet sich auch die Blaupause für den NSU, aber auch für andere Terrorgruppen in Großbritannien, Skandinavien oder den Vereinigten Staaten. Im Jahr 2000 verbot der Innenminister die deutsche Division von "Blood and Honour". Die Drahtzieher des Netzwerkes in Sachsen zählten zu den Freunden von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe.
    Offene Frage: Gab es nur drei Haupttäter und vier Helfer?
    So versuchen Nebenklägeranwälte durch die Befassung mit Blood and Honour" herauszufinden, ob es eine breitere Unterstützerszene für das NSU-Trio gegeben hat. Dabei geht es sogar um die Frage, ob ein international operierendes Netzwerk existiert, in das der NSU eingewoben war. Denn für viele Hinterbliebene ist es schwer vorstellbar, dass eine deutschlandweite Mordserie allein von drei Haupttätern und vier Helfern begangen werden konnte.
    Während der Haft fing Beate Zschäpe eine Brieffreundschaft mit Robin S. an, der 2007 in Dortmund zu einer achtjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Sechs Monate zuvor hatte er bei einem Überfall auf ein Lebensmittelgeschäft einen tunesischen Kunden niedergeschossen. Robin S. gehörte zur Dortmunder Skinhead-Szene und war in der "Streetfighting Crew" der Neonazi-Band "Oidoxie" aktiv. Gab es bereits während der Mordserie Kontakte des ostdeutschen "NSU" in den Westen, nach Dortmund zum Beispiel? Die Vertreter der Nebenkläger vermuten das.
    "Der Kiosk von Mehmet Kubasik in der Dortmunder Mallnickrottstraße befindet sich an einem Ort in Dortmund, wo man auf der Durchreise oder als Nicht-Dortmunder nicht unbedingt hingeht. In dem Laden war eine Videokamera installiert, die aber defekt war. Das konnte man nur erfahren, wenn man den Laden vorher ausspioniert hatte. Es gab aber über diesen Laden in Dortmund bei dem Trio – anders als bei anderen Tatorten - auch keine Ausspähnotizen oder ähnliches. Zudem gibt es auch Anhaltspunkte, die darauf hinweisen, dass - Dortmund hat eine sehr große Naziszene und auch eine radikale Naziszene - dass da Unterstützung gelaufen ist. Es liegt insofern nah, dass es vor Ort Helfer und Helfershelfer gab, die zumindest die Auswahl des Opfers mitbestimmt haben."
    Um solche Hintergründe zu beleuchten, stellten die rund 50 Vertreter der Nebenkläger zahlreiche Beweisanträge. Sie wollen Freunde und mögliche Unterstützer des Trios hören und fordern immer wieder weitere Akten der Bundesanwaltschaft, aber auch aus den Untersuchungsausschüssen des Bundestages und einiger Landtage an.
    "Wir kennen verschiedenste Aktenbestandteile nicht, die uns nicht zur Verfügung gestellt werden. Deswegen können wir auch schwer auswerten, wo, wer, zu was etwas sagen kann. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass es auch lokale Strukturen und Helfer gab, nicht nur in Chemnitz und Zwickau, sondern auch an den Tatorten, die zum Beispiel vorher das Ausspähen der Tatorte und die Auswahl der Opfer mitbestimmt haben."
    Streiten um Zeugen und Akten
    So streiten Nebenklägervertreter, Bundesanwälte und auch die Verteidiger der Angeklagten um weitere Zeugen und weitere Akten. Das bestimmt immer wieder den Verhandlungsverlauf in München. Auch wenn Rechtsanwalt Mustafa Kaplan, der Vertreter des Juweliers aus der Kölner Keupstraße, grundsätzlich die Ermittlungsarbeit der Bundesanwaltschaft anerkennt, ärgert er sich:
    "Worüber ich mich manchmal schon ein bisschen ärgere, ist natürlich auch der Umstand, dass wir nicht alle Aktenbestandteile zeitnahe bekommen. Das ist richtig. Da erhoffe ich mir, dass das bei der Generalbundesanwaltschaft teilweise zügiger geht."
    In einem Strafprozess soll über Schuld oder Unschuld entschieden werden. Die Vertreter der Bundesanwaltschaft pochen darauf, dass man sich im Münchner Prozess strikt an die Anklage hält und die Frage der Schuld oder Unschuld der Angeklagten in den Mittelpunkt stellt. Bundesanwalt Herbert Diemer:
    "Die Aufgabe des Strafprozesses in einem Rechtsstaat ist, dass die Vorwürfe, die gegen einen Angeklagten von der Staatsanwaltschaft erhoben werden, vor Gericht aufgeklärt werden."
    Diesen Grundsatz beachten einige der Nebenklägeranwälte jedoch nicht. Ihnen geht es auch um die Ausleuchtung der rechtsextremistischen Szene, um das Umfeld der Angeklagten und um mögliche Versäumnisse der Behörden. Antworten auf diese Fragen zu finden, war beziehungsweise ist Aufgabe der Untersuchungsausschüsse des Bundestages und einiger Landesparlamente. Eine Gruppe der Nebenklägeranwälte will diese Aufklärung nun vor Gericht betreiben und stößt dabei auf den Widerspruch von Bundesanwalt Diemer:
    "Bestimmte Fragestellungen, die mit der Sache nichts zu tun haben, können nach der Strafprozessordnung nicht geklärt werden. Die Strafprozessordnung enthält insofern nicht nur eine Handlungsempfehlung, sondern das ist bindendes Recht und an dieses Recht fühlen wir uns gebunden, und der Senat sicherlich auch."
    Die Anklageschrift der Bundesanwaltschaft im Verfahren gegen Beate Zschäpe und andere umfasst rund 500 Seiten. Ihr werden die Mittäterschaft an zehn Morden, zwei Bombenanschlägen, 15 Banküberfällen sowie die Gründung beziehungsweise die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Zudem soll sie – unmittelbar nach dem Selbstmord von Böhnhard und Mundlos – im November 2011 die letzte Wohnung der Drei in Zwickau in Brand gesteckt haben, um Beweismittel zu vernichten. Dabei soll sie billigend in Kauf genommen haben, dass eine stark gehbehinderte Nachbarin und Handwerker, die in einer anderen Wohnung arbeiteten, ums Leben kommen könnten. Es geht um Brandstiftung in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit mehrfachem Mordversuch. Allein dafür droht der Hauptangeklagten eine lebenslange Freiheitsstrafe.
    Von den fünf Angeklagten - das sind neben Zschäpe der ehemalige NPD-Funktionär Ralf Wohlleben, André E., Holger G. und Carsten S. - befinden sich Zschäpe und Wohlleben in Untersuchungshaft. Sie werden an jedem Verhandlungstag mit einer Kolonne Polizeifahrzeugen mit Blaulicht aus dem Gefängnis in das Gerichtsgebäude geschafft. Der Bundesgerichtshof wacht argwöhnisch darüber, dass ein Prozess so zügig wie nur möglich durchgeführt wird, damit kein Angeklagter über Gebühr lange in Untersuchungshaft sitzen muss. Zschäpe sitzt seit November 2011 ein, insofern steht das Münchener Gericht unter Zeitdruck.
    "Es gibt ja den Grundsatz der Beschleunigung. Das ist ein Grundsatz, der nicht nur im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland niedergelegt ist, sondern auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Aus diesem Grundsatz folgt der Anspruch eines jeden Angeklagten, dass das Gericht auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe in der Hauptverhandlung konzentriert und dass die Hauptverhandlung mit Dingen belastet wird, die da nicht mit hinzugehören, sodass es zügig voranschreitet die Aufklärung."
    Nach einem Jahr hat das Gericht gerade die Hälfte der ursprünglich 600 Zeugen gehört. Im Laufe der Verhandlung wurden vor allem von den Vertretern der Nebenkläger mehr als 50 weitere Zeugen benannt. Obwohl das Gericht im Regelfall an drei Tagen in der Woche verhandelt, wird der Prozess erst im nächsten Jahr zu Ende gehen.
    Doch die Fragen der Hinterbliebenen, warum ihre Angehörigen von den Neonazis als Opfer ausgewählt wurden und wer die Hintermänner der Täter waren, werden auch nach einem Urteil weitgehend unbeantwortet bleiben. Insofern ist fraglich, ob der Prozess sein zweites Ziel, den Rechtsfrieden in Deutschland wiederherzustellen, erreichen kann.
    Ismail Yozgat, dessen Sohn 2006 in Kassel erschossen wurde, machte unlängst einen Vorschlag, um zu zeigen, dass ihn das Münchner Verfahren mit dem Leben in Deutschland wieder versöhnt hat. Nachdem weitere Zeugen zum Komplex Halit Yozgat vernommen waren, bat er das Gericht dafür einzutreten, dass die Straße, in der sein Sohn sein ganzes Leben verbracht hatte, nach ihm benannt wird. Und dann fügte er hinzu:
    "Wenn sie entscheiden darüber, werde ich als Vater des Märtyrers Halit, werde ich die Angehörigen der Familien Böhnhardt und Mundlos zur Eröffnung der Halitstraße einladen. Wir werden gemeinsam weiße Tauben hochfliegen lassen und gemeinsam die Halitstraße eröffnen. Ich reiche Ihnen alle meine lupenreine Friedens- und Freundschaftshand."
    Das Oberlandesgericht in München erklärte sich für nicht zuständig für die Straßenumbenennung in Kassel. Aber wäre das nicht ein Signal, dass zumindest einige der Opferfamilien zur Versöhnung bereit sein könnten?
    Die NSU-Protokolle. Die Prozess-Dokumentation der ARD-Reporter, jetzt auf www.br.de/nsu-protokolle