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Ein Kämpfer gegen die Nivellierung der Sprache

Er ist ein Liebhaber der Philosophie, der Literatur und der Künste. Mit seiner Verteidigung der Klassiker und dem Beharren auf dem Elitären in der Kunst hat George Steiner dem Zeitgeist stets Widerstand geboten. Zum 80. Geburtstag des Kulturphilosophen und Sprachwissenschaftlers ist das Sammelband "Die Logokraten" erschienen. In Aufsätzen, Erzählungen und Interviews wird ein Überblick über alle Aspekte der Gedankenwelt Steiners gegeben.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 23.04.2009
    An diesem Buch kann man vieles bewundern: die gelehrten Untersuchungen zum Verhältnis von "Mythos und Sprache” im ersten Teil, die engagierten Texte zur Bewahrung der Kultur des Buches ("Die Bücher brauchen uns”) im zweiten Teil und die Gespräche im dritten Teil. Sie vereinen alle Aspekte dieses großen, 1929 in Paris geborenen Sprach- und Literaturforschers und Lehrers, dieses Liebhabers der Philosophie, der Literatur, der Künste und der Musik.

    In zwei Interviews wird er uns lebendig in seiner Freude am Denken und Formulieren - der Leser bekommt eine gute Vorstellung von der dichterischen Präzision, die er in seinen Arbeiten, in seinen poetischen Traktaten und Essays vollends zur Entfaltung bringt. Seine Texte sind in Szene gesetzte Assoziationen und Meditationen, inszenierte Ideen und Forschungen - stets in engem Kontakt mit seiner ausgedehnten Lehrtätigkeit in Genf, Cambridge und Oxford entstanden und gebunden an einen tief verankerten moralischen Auftrag des Intellektuellen.

    ""Ich wäre froh, wenn man sich an mich als guten Lehrer des Lesens erinnert, und ich meine 'heilendes Lesen' in einem zutiefst moralischen Sinne: Das Lesen sollte uns einer Vision verpflichten, es sollte unsere Menschlichkeit aktivieren, sollte unsere Fähigkeit verringern, an Dingen vorbeizugehen.”"

    George Steiner trifft eine "ontologische Unterscheidung” zwischen der Barbarei des Nationalsozialismus, die von den Verantwortlichen über weite Strecken geheim gehalten werden konnte, und der offenen, beständig in Radio und Fernsehen übermittelten Barbarei von Pol Pot in Kambodscha.

    ""Wir hörten, dass Pol Pot einhunderttausend Männer, Frauen und Kinder bei lebendigem Leibe begrub. Ich bin fast wahnsinnig geworden vor bitterer Ohnmacht in jenen Tagen… und heute verkaufen wir ihm Waffen.”"

    Steiner fragt, warum nach dem Holocaust und dem Gulag ein Aufschrei des Entsetzens und eines sich formierenden Widerstands, gerade auch in Israel, ausblieb. Alles ging weiter so, im Alltagsleben und in der Politik.

    Und die Literaten, wie sollen sie sich grundsätzlich verhalten, dem Aufschrei die Form von Versen, Reimen und Strophen verleihen und damit dem Unfassbaren den Anschein von Formulierbarkeit geben? Was bedeutet es, dass die großen Dichter Paul Celan, Primo Levi und Jean Améry Adornos Diktum "kein Gedicht nach Auschwitz” nicht folgten und später ihrem Leben selbst ein Ende setzten, so als hätten ihr Leben und die Sprache, die sie verwendeten, doch keinen Sinn gehabt?

    George Steiner ist in seinen Betrachtungen von Geschichte und Literatur stets mit seiner eigenen Biografie präsent, verknüpft die großen historischen Zusammenhänge mit denen seiner Kindheit und Jugend. 1934 - er ist fünf Jahre alt - holt ihn sein Vater ans Fenster und zeigt auf die vorbeimarschierenden antisemitischen Gruppen.

    ""Ich war natürlich fasziniert, das wäre jedes Kind. Und er sagt: 'Du darfst dich niemals fürchten. Das, was du da siehst, nennt man Geschichte.' Ich denke, dieser Satz hat vielleicht mein ganzes Leben geprägt. So habe ich mich immer dafür interessiert, aus dem Fenster zu sehen, was sich abspielt, wo auch immer.”"

    Das Geschehen zu beobachten, es zu beschreiben und zu deuten, es aus der Erfahrung und aus den Büchern herauszulesen, erkennt er als seine Berufung. Und er lernt, dass Bücher auch als ein Vorspiel und als eine Rechtfertigung von Massakern benutzt werden können: Totalitäre Systeme beuten auf verbrecherische Weise die den Büchern innewohnende Macht für die Durchsetzung ihrer Ideologie aus.

    Aus George Steiners Büchern kommt dem Leser, trotz des erfahrenen und dargestellten Schreckens und der Dunkelheit in der Geschichte, eine große Helligkeit eines ganz von Sprache, Poesie und Musik umhüllten Denkens entgegen. Das Denken, das vor allem in seiner 2001 erschienenen Schrift "Grammatik der Schöpfung” auf einzigartige Weise entfaltet wird, ist licht und hell, auch wenn sein Gegenstand der länger werdende Schatten bis zur völligen Dunkelheit ist: der Zusammenbruch der Menschlichkeit inmitten der Zivilisation, das Drama des 20. Jahrhunderts. Einmal betont George Steiner, er würde immer darauf insistieren, dass man niemals die Verwunderung über die geschehenen Gräuel in diesem Jahrhundert aufgeben dürfe: Man müsse an der Frage festhalten, warum uns unsere Humanität nicht vor der Barbarei geschützt hat.

    ""Nichts hat uns auf unser Jahrhundert vorbereitet. Die erste Frage, die ich in allen meinen Büchern und während meiner ganzen Lehrtätigkeit stellte, war ganz einfach: Warum hat die humanistische Lehre (im weitesten Sinn dieses Wortes), warum hat die Vernunft der Wissenschaften uns keinerlei Schutz vor dem Inhumanen gewährt?”"

    Wie vertragen sich Rationalität, das hohe kulturelle Selbstbewusstsein und die praktizierte Bestialität? Warum hat die Zivilisation nicht mehr dem tief verwurzelten Destruktionstrieb entgegenzusetzen, und wird sich die Kultur gegen die geistige und materielle Fast-Food-Welt behaupten können?

    Es gibt einen Passus in einem seiner Gespräche, der auf exemplarische Weise George Steiners Glauben an die Einzigartigkeit der Literatur, inmitten von Niedergang und Zerstörung, offenbart. Mit äußerster Vehemenz wehrt sich da dieser stets so liebenswürdige Gelehrte gegen den Philosophen Jacques Derrida, den er abschätzig "Monsieur Derrida” nennt und dessen Formulierung, jeder Text sei nur ein "pretext”, ein Vorwand, ihm einfach nur lächerlich, irrig und trivial vorkommt.

    ""Walter Benjamin hat gesagt, ein Buch kann tausend Jahre ungelesen warten, bis zufällig der richtige Leser des Wegs kommt. Bücher haben es nicht eilig. Ein Schöpfungsakt hat es nicht eilig; er liest uns, er privilegiert uns unendlich. Die Vorstellung, dass er der Anlass für unsere Cleverness ist, erfüllt mich mit verwirrter Bitterkeit und mit Zorn.”"

    Es gibt originäre Sätze in diesem Buch, die ganze Regale sekundärer Literatur überflüssig machen. Steiners Angewohnheit, sich vor der Arbeit an einem eigenen Buch durch das Lesen von großer Prosa in einen eigenen Sprachrhythmus und in die Musik des Denkens einzustimmen, ist allen Autoren nur zu empfehlen, und sie könnten dabei auch Steiners essayistische Prosa als vorbildhaft mit einbeziehen.

    Über alle Maßen geprägt ist diese Prosa von der schier grenzenlosen Bildung des Autors und der Vielsprachigkeit, die der Kosmopolit George Steiner stets mit Stolz verkündet hat:

    ""Für mich ist die Tatsache, dass ich vielsprachig bin, ein grenzenloser Reichtum; sie ist das offene Fenster, durch das ich auf so viele Landschaften blicke. Über die Frage, ob es meinem Werk geschadet oder genützt hat, müssen Außenstehende entscheiden. Ich bin nun Mitglied vieler Akademien. An meinem Seminartisch an der Universität Genf wurden 20 Jahre lang oft 15 oder 20 Sprachen ganz selbstverständlich gesprochen, weil so viele meiner Studenten aus slawischen Ländern oder aus dem Nahen Osten kamen. Am 21. Oktober vergangenen Jahres habe ich die Rede zum 200. Jubiläum der École Normale in Paris gehalten, und sie kämen nicht auf den Gedanken, dass ich kein Franzose bin. Sie denken, ich mache nur diesen komischen Umweg durch die barbarischen angelsächsischen Länder, wie ein Missionar, und werde dann wieder nach Paris zurückkehren.”"

    George Steiner: Die Logokraten
    Aus dem Englischen und Französischen von Martin Pfeiffer
    Carl Hanser Verlag München, 254 Seiten, 21,50 Euro