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Ein konservativer Freigeist

Zafer Senocak kam mit acht Jahren aus der Türkei nach Deutschland – und brachte bereits preußische Traditionen mit. Vielleicht fällt sein Urteil über seine deutschen Landsleute deshalb so milde aus. Der 51-jährige Schriftsteller bringt frischen Wind in die nationale Debatte.

Von Lewis Gropp | 08.12.2011
    In Deutschland zu leben ist ein Privileg. Es gibt kaum ein Land auf der Erde, in dem ein so dichtes kulturelles Angebot zur Verfügung steht. Die Deutschen werden als Kulturnation wahrgenommen, die mit großem Geschick und Fleiß ein lebenswertes Land aufgebaut haben.

    Deutsche hadern gerne mit sich und der Welt, und ihr Verhältnis zu deutschen Identität ist ebenso schwierig und gebrochen. Umso bemerkenswerter ist es, dass jetzt ein deutsch-türkischer Autor Deutschland und Deutschsein ausgesprochen positiv konnotiert. In seiner Essaysammlung diskutiert Zafer Senocak die bemerkenswerten kulturellen Leistungen der Deutschen und legt seinen Landsleuten nahe, ein kritisch-reflektiertes, aber unverkrampftes Verhältnis zu ihrer Identität zu entwickeln. Senocak selbst kommt aus einer türkischen Familie, die nach Deutschland umsiedelte, als er acht Jahre alt war. Aufgewachsen ist er in der ländlichen bayrischen Idylle um das Städtchen Murnau. Das positive Verhältnis zum 'Deutschsein' wurde ihm durch seinen Vater quasi in die Wiege gelegt.

    Die emsigen und korrekten Deutschen wurden nicht selten als vorbildhaft verklärt. Mein Vater war Preuße in seiner Seele, der sich sein ganzes Leben lang in der Türkei fremd gefühlt hatte. Es kam mir vor, als würde mein Vater den Deutschen ihr Deutschsein vorleben. Die akribisch der Länge nach sortierten Stifte auf seinem Schreibtisch, der kleine Koffer, den er für seine Reisen vorbereitete und der aufgrund der Raum sparenden Füllung eine außerordentlich große Menge an Sachen aufnahm. Bis heute scheitere ich daran, einen Koffer mit ähnlicher Effizienz zu packen.

    Senocaks Text wird nicht selten von einer subtilen Ironie und Selbstironie getragen. Und seinem Blick in die faustische Seele der Deutschen hat er viele schöne und treffende Beobachtungen abgerungen. So schreibt er zum Beispiel:

    Die Deutschen werden nervös, wenn sie sich mit anderen beschäftigen müssen. Sie brauchen die ganze Energie für sich selbst.

    Die Essaysammlung "Deutschsein" ist also keine einseitige Studie, die nur das Positive betont. Senocak attestiert dem Land unter anderem eine unangemessene Politikverdrossenheit und gesellschaftliche Schwarzmalerei. Die Integrationspolitik sei gescheitert, heiße es immer wieder. Dabei macht Senocak nicht ohne Süffisanz darauf aufmerksam, dass es bis vor kurzem gar keine Integrationspolitik gegeben hat. Und die Erfolge, so Senocak, würden weitgehend ausgeklammert.

    "Ich finde, dass auch im internationalen Vergleich Deutschland gar nicht so schlecht dasteht, was die Integration angeht, wenn man den Aufstiegswillen oder auch die Aufstiegsmöglichkeiten anschaut. Wenn man das mit Frankreich vergleicht, mit den Zuständen in den Banlieues, mit Großbritannien, das sind ja beides Länder, die eine lange Erfahrung haben mit Zuwanderung, steht Deutschland gar nicht so schlecht da."

    Senocak kritisiert indessen, dass sich die Wahrnehmung von Türken in Deutschland Ende der 90er-Jahre gewandelt habe: Früher, so Senocak, habe man ihn einfach nur als deutschen Lyriker und Autor wahrgenommen; inzwischen habe aber eine zunehmende Ethnisierung der Debatte eingesetzt.

    "Später wurde eine Welle losgetreten, unter dem Titel 'Fremde' oder 'Ausländer schreiben Deutsch', und plötzlich fand ich mich in dieser Welle wieder, die über mich hinwegschwappte; das hat mich dann etwas irritiert, weil ich mich weder als Ausländer noch als Fremder gefühlt habe, sondern eben als Autor, als Lyriker, der in deutscher Sprache schreibt. Ich habe mir diese Fragen nicht gestellt, wo gehörst du hin, was ist dein Hintergrund. Das war vielmehr ein Aufwachsen in Deutschland, in der deutschen Sprache sozusagen, das relativ natürlich vor sich ging."

    Senocak ist indessen kein linker Revoluzzer, der überall dort, wo Integration nicht gelingt, Chauvinismus und mutwillige Ausgrenzung wittert. Im Gegenteil: Senocak schreibt, dass ohne Abgrenzungen keine Identität möglich ist, und dass es ohne Abgrenzung auch kein Gefühl von Geborgenheit geben könne. Manche Passagen seines Bandes sind durchaus kulturkritisch und wertekonservativ ausgerichtet.

    Der Niedergang in einer Gesellschaft beginnt mit der Verwahrlosung der Sprache. Wenn ich heute auf den Straßen oder in der U-Bahn Jugendliche höre, die Deutsch, Arabisch, Türkisch miteinander vermischen, keiner der Sprachen wirklich zuhörend, keiner zugehörig, fühle ich eine tiefe Verletzung in mir. Ich kann nicht begreifen, dass es Stimmen gibt, die dieser Halbierung, Viertelung, diesem Verschwinden von Sprachen irgendetwas wie Kreativität oder gar Avantgardismus abgewinnen können. Diese zerstückelten Sprachen sind für mich der Ausdruck einer Unbehaustheit.

    Auch in Bezug auf den Islam nimmt Senocak kein Blatt vor den Mund. Er beklagt zwar, dass Muslime oft unter Generalverdacht gestellt würden und man in Deutschland noch wenig Verständnis für die Vielfalt islamischer Lebenswelten habe. Doch in Bezug auf das Thema Gewalt und Islam sieht Senocak das Problem nicht nur in der Politik, sondern auch in der Religion selbst begründet.

    "Sehen Sie, wir haben ja in der islamischen Welt eine unglaubliche Anzahl von Opfern. Das ist ja nicht nur eine Frage vom Kampf zwischen dem Westen und dem Islam – ich halte das für einen absurden Quatsch –, sondern das ist ein innerislamischer Kampf. Und leider, leider schauen nach wie vor alle Muslime weg. Ich sage das betont, ich nehme da niemanden aus. Ein gutes Beispiel ist für mich der türkische Premierminister, der sehr, sehr viel für sein Land geleistet hat, der aber nicht den Mut hat zu sagen, Leute, wir müssen in diese Quellen reinschauen, wir müssen in die Hintergründe reinschauen – warum kommt da so viel Gewalt. Da ist nicht immer Amerika, Israel und ich weiß nicht was schuld, es kommt aus dieser Kultur heraus."

    Gleichwohl betont Senocak, dass der Islam selbstverständlich zu Deutschland gehöre – schließlich gebe es deutsche Staatsbürger muslimischen Glaubens. Damit sei diese Frage ganz eindeutig beantwortet. Und auch an anderer Stelle nimmt Senocak den Islam gegen Anfeindungen in Schutz, nämlich in Bezug auf das Konstrukt eines christlich-jüdischen Europas, demzufolge für den Islam kein Platz in Europa sei.

    Dieser tumbe Identitätsentwurf eines christlich-jüdischen Abendlandes bezweckt nur eines: Die Abgrenzung gegenüber dem Islam. (…) In diesem christlich-abendländischem Kulturkreis geht es nicht um Fragen der Spiritualität in der säkularen Gesellschaft, um ein christliches Menschenbild, um das Erbe der Religionskriege, es geht dabei vor allem um die anderen, die angeblich nicht dazu gehören. In der islamischen Welt wird eine ähnliche Denkweise von religiösen Fanatikern verfochten.

    Senocak geht es im Kern seines Buches um die universelle Botschaft der Aufklärung, darum dass es beim Thema "Leitkultur" nicht um Bratwurst und Sauerkraut gehe, sondern um die Werte eines Rechtstaates, der seinen Bürgern Freiheit und Menschenrechte garantiert. Diese Werte, schreibt Senocak, seien viel besser universell aufgehoben als in einem nationalen Identitätsprogramm. Schließlich könnte die Wertegemeinschaft des Grundgesetzes der Humus jeder Vielvölkerrepublik sein. Zafer Senocak ist ein konservativer Freigeist, der mit seinem Beitrag frischen Wind und Klarheit in eine zunehmend verbissene nationale Debatte einbringt. Wer Anregungen gegen Scheinargumente und eine verlogene Rhetorik sucht – hier wird er fündig.


    Zafer Senocak, "Deutschsein – Eine Aufklärungsschrift"
    Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2011, 190 Seiten, 16,00 Euro