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"Ein Kontinent in Bewegung“

Ich glaube, ich bin schon froh, ein Europäer zu sein. Wenn Sie mir die Frage vielleicht vor zehn Jahren gestellt hätten, dann hätte ich als Angehöriger eines doch sehr selbstkritischen Kontinents nicht so positiv geantwortet. Aber ich bin froh, ein Europäer zu sein und bin ja als Reiseautor auch eigentlich kaum aus Europa herausgekommen.

Von Karl-Markus Gauß | 19.05.2009
    Erstens habe ich entdeckt, dass Europa kein monolithischer Block ist, bei dem man sagen kann, so, das ist Europa, sondern dass Europa einerseits eine erstaunlich reiche Vielfalt an Ethnien, an Gebräuchen, auch sogar an Religionen und an Traditionen und Sprachen hat, die ich übrigens für den wahren Reichtum Europas halte. Und ich habe das Gefühl, dass sich dieses Wissen langsam weiter durchsetzt.

    Europa ist ein Kontinent, der eigentlich immer in Bewegung war, der ja auch - nebenbei bemerkt - also ich glaube, mindestens ein Drittel seiner Bevölkerung exportiert hat in andere Kontinente. Und innerhalb Europas hat es ja das, was man jetzt mit der Europäischen Union die Binnenwanderung nennt, das hat es ja bereits mehrfach in verschiedenen Schüben seit der frühen Neuzeit immer wieder gegeben. Die Europäer sind natürlich nicht aus Hochmut oder aus Abenteuerlust von einem Land ins andere gezogen, sondern weil sie religiös verfolgt waren, weil sie politisch keine Aussicht sahen oder weil sie sich ganz einfach für sich und ihre Kinder bessere Lebensverhältnisse suchen wollten. Und dieser Weg war nie so wie der jetzige, nur von Ost nach West, sondern der war ganz stark auch einmal einer von West nach Ost.

    Wenn ich etwas an Europa zu kritisieren habe, dann ist es ja das, dass ich den starken Eindruck habe, dass dieser Kontinent, kurz nachdem praktisch der Aufbruch dieses Kontinents stattgefunden hat, den Europäern selber fast schon wieder enteignet wird. Also wenn die Freizügigkeit der Grenzen eigentlich nur dazu dient, dass die Waren zollfrei verschoben werden können, dass die Arbeitskräfte dorthin marschieren müssen, wo sie die niedrigsten Nebenproduktionskosten hervorrufen, dann ist das natürlich nicht das Europa, das ich mir gewünscht habe und das sich auch nicht sehr, sehr viele Europäer gewünscht haben.

    Ich wünsche mir ein Europa der Vielfalt, das ist allerdings schon eine Plattitüde, das wünscht sich ja heute schon jeder mittlere politische Sonntagsredner. Ich wünsche mir außerdem ein soziales Europa, und zwar in dem Sinne, dass die Einigung Europas, die ich sehr begrüße und von der ich glaube, dass sie sehr, sehr viele wunderbaren Folgen zeitigt, dass diese Einigung Europas nicht von bestimmten Kräften als der Hebel benutzt wird, um sozialstaatliche Errungenschaften, die ja in allen Ländern schwer genug errungen wurden, über Bord geworfen werden unter dem Paradigma, ja, wir müssen ja als europäische Freihandelszone jetzt auch am globalen Weltmarkt mitmachen und wir können diese alterworbenen Rechte nicht mehr schützen.

    (Sein europäischer Erinnerungsort Anm.d.Red.) Das ist ein Ort, der heißt "San Martirio di Albanese" (sic), und der steht im Hochgebirge von Kalabrien. Dort lebt seit 500 Jahren eine albanische Minderheit, die sich immer noch ihren mittlerweile schon sehr veralteten albanischen Dialekt behauptet hat, von ihren italienischen Nachbarn zunächst freundlich aufgenommen, aber vor allem vom italienischen Staat immer schändlich behandelt wurde. Und da fiel mir Folgendes auf: In diesem Ort gab es ein neues großes, schönes Haus, und das war das albanische Kulturhaus. Dieses Heimathaus der Arbëresh ist nicht gefördert worden von Mitteln der kalabresischen Regionalverwaltung, es ist nicht gefördert worden aus Mitteln der italienischen Regierung, es ist gefördert worden mit Mitteln der Europäischen Union. Das heißt, die Europäische Union hat lange Arme und vor allem ist sie kein monolithischer Block, bei dem alles, was geschieht, nur nach einem Schema geschieht. Da gibt es solche und solche Gremien. Die einen werden den Minderheiten nicht sehr gerecht, weil sie mehr auf ökonomische Gleichschaltung setzen - und die Minderheiten haben ja immer kleinteilige Wirtschaftsstrukturen -, aber da gibt es auch Leute in Brüssel in den Kommissionen, die sagen, hoppla, da gibt es Minderheiten. Und wo die versuchen, das kulturelle Erbe fruchtbar zu machen, dann ist das etwas, was wir unterstützen. Und da habe ich eigentlich so ein ganz, ich möchte fast so sagen, ein stolzes europäisches Gefühl empfunden.

    Kurzbiografie:
    Karl-Markus Gauß, geboren 1954 in Salzburg, in eine Familie von Vertriebenen aus der Wojwodina im heutigen Serbien. Er studierte Geschichte und Germanistik an der Universität Salzburg und schrieb früh literarische Essays, die vor allem in der Kulturzeitschrift "Wiener Tagebuch" erschienen. Später verfasste er auch Prosabände sowie Literaturkritiken und Essays für größere Zeitungen und Zeitschriften im deutschen Sprachraum, darunter Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Der Standard und Die Presse.
    In seinen Essays beschäftigt sich Gauß mit Widersprüchen des modernen Lebens, zu lesen beispielsweise in der Sammlung "Der Mann, der ins Gefrierfach wollte. Albumblätter" (1999), und verknüpft Privates mit Zeitgeschehen wie in "Mit mir, ohne mich. Ein Journal" (2002). In seinen Büchern thematisiert er häufig die kulturelle Vielfalt in Europa. Dabei interessieren ihn weitgehend unbekannte nationale Minderheiten und Ethnien, vor allem in Mittel- und Südosteuropa, das er immer wieder bereist. So schreibt Gauß in "Die sterbenden Europäer" (2001) unter anderem über albanischstämmige Arbereshe in Süditalien, und in "Die Hundeesser von Svinia" (2004) über Roma in der Ostslowakei. 2005 erschien "Die versprengten Deutschen. Unterwegs in Litauen, durch die Zips und am Schwarzen Meer" und aktuell "Die fröhlichen Untergeher von Roana. Unterwegs zu den Assyrern, Zimbern und Karaimen" (2009). Seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt und mit etlichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Europäische Essaypreis "Charles Veillon" 1997 und der René-Marcic-Preis 2004. Seit 2006 ist Gauß Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Karl-Markus Gauß lebt als Essayist, Kritiker und Herausgeber der Zeitschrift "Literatur und Kritik" in Salzburg.


    Mehr zur Europawahl finden Sie auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung.