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Ein Laie erklärt die Finanzwelt

John Lanchester ist von Hause aus Romanautor. Für seinen Weltbestseller "Kapital" hat er in der Londoner Bankenwelt recherchiert - und dabei so viel herausgefunden, dass er nun ein Sachbuch nachgelegt hat. Die Mechanismen der Geldwelt erklärt er seriös, verständlich und unterhaltsam.

Von Alexander Hagelüken | 06.05.2013
    John Lanchester schreibt normalerweise Romane. Sein Epochenroman "Kapital" erzählt vom boomenden, überbordenden London der Nullerjahre. Lanchester fand dafür weltweit Anerkennung und Leser. Doch als der heute 51-jährige Brite an "Kapital" schrieb, stellte er auch fest: Erzählen genügt nicht mehr. Jede noch so kunstvolle Fiktion kann die Realität manchmal gar nicht erfassen.

    Lanchester schrieb deshalb "Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt", ein Sachbuch über die Finanzkrise. Und das ist ein Glücksfall für den Leser.

    Wenn unsere Gesetze nicht dahingehend erweitert werden, dass die supermächtigen, super-komplexen und potentiell superriskanten Anlageinstrumente kontrolliert werden können, dann werden diese eines Tages eine finanzielle Katastrophe von globalen Ausmaßen verursachen.

    Diesen Satz brachte John Lanchester bereits 2007 zu Papier. Der Nicht-Ökonom war damals weiter als viele Ökonomen. Die sahen alle nicht den großen Finanzcrash nach der Pleite von Lehman Brothers kommen. Als Lanchester damals, 2007, für den Roman "Kapital" recherchierte, steuerte die Bank Northern Rock auf den Abgrund zu. Die Schlangen vor ihren Filialen erinnerten auf einmal an die Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre.

    Der Erzähler merkte, dass er sich in einem historischen Moment befand. Dass das Wohl der Menschheit auf dem Spiel stand. Er fing an, sich mit der Finanzwelt zu beschäftigen. Und diesen Zugang schenkt er seinen Lesern: Ein Laie, der sich in die Mechanismen der Geldwelt einarbeitet - und sie den Lesern erklärt. Seriös, verständlich, unterhaltsam, im Plauderton.

    In seiner derzeitigen Form stellt das Finanzsystem eine größere Bedrohung für die westlichen Demokratien dar, als es der Terrorismus je sein könnte. Keine demokratische Regierung ist je von einer terroristischen Bedrohung destabilisiert worden. Wenn aber die Geldautomaten kein Geld mehr ausspucken, hat das so weitreichende Folgen, dass es die heutigen Staaten mit demokratischer Verfassung an den Rand des Zusammenbruchs führen kann.
    Lanchester macht einfach, über was er schreibt. Das ist wichtig. Denn viele Menschen beschäftigen sich ungern mit Wirtschaftsfragen. Schon gar nicht mit so etwas Kompliziertem wie dem Finanzsystem. Sie standen deshalb 2008 fassungslos vor dem Weltenbrand, den die Banker und Broker auslösten.

    Seriös ist das Buch eines Literaten über die Finanzkrise natürlich nur, weil er Fachleute als Kronzeugen heranzieht. Wissenschaftler wie den ehemaligen Chefökonomen des Internationalen Währungsfonds, Simon Johnson, die den Irrweg der Welt unter die Dominanz der Finanzmärkte nachzeichnen.

    Die Finanzindustrie hat nicht immer eine so bevorzugte Behandlung genossen. Aber während der letzten 25 Jahre florierte der Finanzsektor und wurde immer mächtiger. Dieser Boom begann mit der Reagan-Ära und verstärkte sich noch durch die Deregulierung der Clinton- und Bush-Regierungen. Von 1973 bis 1985 betrug der Anteil des Finanzsektors am Gesamtgewinn aller US-amerikanischen Unternehmen nie mehr als 16 Prozent. Im gegenwärtigen Jahrzehnt erreichte der Anteil 41 Prozent.

    Lanchester beschreibt, wie die Finanzbranche die Oberhand gewann, weil die Politiker woanders hinschauten - auf den Terrorismus etwa. Und: Weil der Glauben an den Markt regierte. Im Windschatten dieses Glaubens wurden die Banken mathematisiert, bis das Risiko all der Milliardengeschäfte weggerechnet war. Vermeintlich.

    Das ist Lanchesters zentrale These, die er am Ende ausbreitet: Was letztlich die finanzielle Kernschmelze bewirkte, war der falsche Glauben, dass Menschen rational handeln - und dass die Risikoeinschätzungen stimmen.

    Das meiste davon veranschaulicht meiner Ansicht nach den am weitesten verbreiteten Irrtum, der klugen Menschen unterläuft, nämlich die Annahme, der Verstand anderer Leute funktioniere genauso wie der eigene. Auf einen Nicht-Ökonomen wirken die in der Wirtschaft weit verbreiteten, auf mathematischen Prinzipien aufbauenden Modelle und Annahmen über rationales Verhalten oft genug bestenfalls wie Spielzeug. Beim Bankwesen dreht sich alles um das Risikomanagement, und in dieser zentralen Frage sind die Banker komplett gescheitert. Sie scheiterten, weil sie sich auf fehlerhafte Rechenmodelle verließen, die sie selbst gar nicht hundertprozentig verstanden. Als Folge daraus scheiterten sie so radikal und uneingeschränkt, wie man überhaupt nur scheitern kann.

    Die Attacke auf den homo oeconomicus, auf das Scheinrationale: Das erinnert an andere Kritiker des Systems wie Frank Schirrmacher oder Joseph Vogl. Lanchester aber ist kein Epigone, sondern ein Original. Er war mit der englischen Ausgabe seiner Analysen schon früher auf dem Markt als andere Kapitalismuskritiker aus dem Feuilleton.

    Angenehmerweise ist die blinde Wut nicht sein Ding. Er liefert kein banales Bankerbashing. Und er vergisst auch nicht zu erwähnen, dass eine der Ursachen der Finanzkrise der politische Wille in den USA war, Menschen mit wenig Einkommen ein eigenes Haus zu ermöglichen - durch Kredite, die sie kaum zurückzahlen konnten.

    Man muss nicht mit allem übereinstimmen, was man bei Lanchester liest. Etwa mit seiner Ablehnung der schwäbischen Hausfrau Angela Merkel, mit seiner Ablehnung der Sparprogramme für die Euro-Krisenstaaten. Lanchester verkennt, dass die Währungsunion nur bestehen kann, wenn die Misswirtschaft im Süden Europas endet. Aber das ist ein Nebenthema seines Buchs.

    Zentral ist seine Beschäftigung mit dem wuchernden Finanzmonster, das die Welt 2008 fast verschlungen hätte. Denn nach der Krise ist vor der Krise. Die Regierungen haben zu wenig getan, um die Finanzmärkte zu zähmen. John Lanchester liefert uns allen Anschauungsmaterial, was wieder geschehen kann, wenn Wähler und Politiker nicht achtgeben.

    John Lanchester: "Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt. Die bizarre Geschichte der Finanzen".
    Klett-Cotta Verlag, 302 Seiten, 19,95 Euro. ISBN: 978-3-608-94747-2