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Ein Leben voller schwerer Prüfungen

Mit archaischer Wucht und wenig kirchentreu imaginiert Patrick Roth in seinem Roman "Sunrise. Das Buch Joseph" die Biografie des Pflegevaters von Jesus Christus. Joseph ist ein zweifelnder Einsamer, dessen Leidensweg schließlich in ein Heilendes, irgendwie Göttliches mündet.

Von Jörg Plath | 10.09.2012
    Die Apostel Lukas und Matthäus verlieren Joseph von Nazareth bald nach Jesu Geburt aus den Augen. Man mutmaßt, Marias Mann sei früh gestorben. Mit dem Pflegevater des Gottessohnes gehen Überlieferung und Kirche wenig pfleglich um. Patrick Roth lässt also irdische Gerechtigkeit walten, wenn er mit "Sunrise. Das Buch Joseph" einen Roman vorlegt, der Josephs Leben erzählt.

    Das wenige Bekannte über Joseph – die Ehe mit Maria, der anfängliche Zorn über ihre scheinbar aus heiterem Himmel sich einstellende Schwangerschaft, die Liebe zum Sohn und heiligen Kind – rückt im Roman allerdings an den Rand. Patrick Roth erdichtet Joseph ein Leben voller schwerer Prüfungen. Josephs erster Sohn ist durch seine Schuld gestorben, aus Gram folgte ihm seine Mutter, Josephs erste Frau, und als er dann Gottes Befehl, seinen zweiten Sohn Jesus zu opfern, nicht folgt, scheint es seiner Familie so, als sei er gestorben. Tatsächlich lebt er jahrelang als stummer Sklave unter gefährlichen Räubern, bis er am Ende Jesus wieder nahe kommt. "Sunrise. Das Buch Joseph" setzt auch sprachlich alles daran, als bisher unbekanntes apokryphes Buch der Bibel durchzugehen. Es erdichtet Joseph aber wenig kirchentreu eine Biografie, in dem nicht Gott, auch nicht der Gottessohn, sondern Kinder schlechthin ein neues Leben verbürgen.

    "Es begab sich aber, nah an ein halbes Jahr nach der Geburt, dass Joseph vor Morgengrauen Kind und Frau küsste und loszog gen Sepphoris. Denn in der Stadt hatte er Arbeit in jenen Tagen.
    Er ging aber nicht den Weg, den er einst genommen, sondern mied im Bogen die Umgegend jenes Landguts des Römers, das am Pfad lag vor der Stadt."


    Denn Monate zuvor hatte Joseph im Garten des Landguts einem Aufseher sein Beil in die Kehle geschlagen und den von diesem gequälten ägyptischen Sklaven fortgetragen. Er versteckte ihn in einer alten Zisterne – dort, wo Joseph einst Maria kennengelernt hatte, seine Frau – und tauchte für Monate unter, um den Häschern zu entgehen. Nun ist Joseph zurück bei Maria und Jesus und geht zur Arbeit. Plötzlich tauchen Söldner auf und treiben ihn und andere zu der Villa des Römers. Sie steht lichterloh in Flammen. Eine Sklavin taumelt aus dem Feuer, in dem sie ihr Kind nicht gefunden hat. Joseph wird in das brennende Haus gezwungen, um das Kind des Römers zu retten. Er kriecht am Boden, der sich plötzlich auftut und ein surreales Traumbild freigibt: Eine alte Amme, die ein schlafendes Kind in den Armen hält, sitzt inmitten der Flammen.

    "Und weil die Flammenköpfe stoßen nah bei ihr her, streicht sie manchmal nach ihnen, wie nach der Schnauze des Tieres, das, zu nahe gekommen, kuscht, nicht stören darf den Schlaf jenes Kleinen."

    Dann ist da noch ein Kind: Ein Mann, den ein herabgestürzter Balken einklemmt, hält es im Arm. Joseph nimmt den Kleinen an sich, befreit mit Mühe den Mann, und sie schleppen sich voran.

    "Und sie gerieten, am Boden kriechend, ins Dunkel, ins schwarze Land brennender Räume, durch deren Rauch hin selbst Flammen kein Licht mehr warfen.
    Da schnellte – von woher aus dem Dunkel, war nicht zu sagen – ein Funke ans Kind, das Joseph im Arm trug.
    Und fing Feuer das Haar des Kinds, vom Hinterkopf her, als schien ein Licht unterm Kopf. Und umfuhr rings die Locken des Kleinen, bis hinauf zu den Schläfen. Und Joseph löschte rasch, umfahrend und dämmend das Licht mit den Händen."


    Alle drei gelangen glücklich aus dem Haus. Das Kind ist allerdings nicht das des Römers, sondern das der Sklavin.

    Und der Mann ist, Joseph erkennt es starr vor Angst, jener Aufseher, den er damals glaubte mit der Axt erschlagen zu haben; nun hat er ihm das Leben gerettet. Verbunden werden die Männer durch das gerettete Kind, jenes Kind, das sie zu Feinden machte: Der Aufseher hätte es der ägyptischen Sklavin gern gemacht, daher wütete er gegen seinen erfolgreichen Nebenbuhler und erhielt von Joseph den vermeintlich tödlichen Axthieb.

    Alte Bekannte also am selben Ort in neuer Konstellation: Patrick Roth kombiniert die Bestandteile seines Romans immer wieder neu. Nicht nur Archetypen wie Vater, Mutter und Kind, Herrscher und Beherrschte, Pilger und Räuber, auch Orte und Dinge wie das von Joseph durch alle Unbill getragene Stück Tuch von Maria kehren beständig wieder. Manches taucht zwar nur einmal im Roman auf, ist jedoch eine Reinszenierung bekannter Stoffe: die schweren Prüfungen, die Joseph durchstehen muss, sind denen einiger Vorfahren im Alten Testament entlehnt, darunter Abraham, Hiob, Jonas. Roth holt vertraute, abgesunkene Stoffe herauf und verbindet Josephs Leben mit einer mythischen Vorzeit.

    "Sunrise. Das Buch Joseph" ist daher trotz seiner archaischen Wucht nicht nur mit Roths Christus-Trilogie vergleichbar, auch mit seinen letzten Prosabänden "Die Nacht der Zeitlosen" und "Starlite Terrace". In ihnen verschmilzt er populäre Mythen mit kulturellen Archetypen, Gegenwärtiges mit Vergangenem, Film mit Literatur. Auf den Western hat Roth dieses Mal verzichtet, doch sein Palästina liegt unter glühender Sonne da wie auf dem "screen", und Josephs abenteuerlich-existenzielle Erlebnisse werden filmisch erzählt. Mit ihm steht wie auch sonst bei Patrick Roth ein zweifelnder Einsamer im Mittelpunkt, dessen Leidensweg schließlich in ein Anderes, Heilendes, irgendwie Göttliches mündet. Schließlich besitzt auch "Sunrise" eine ungeheure Intensität. Nicht selten ist es ein "Da", das den Augenblick ankündigend auflädt:

    "Da, plötzlich, hört er den Säugling, den er unrettbar unter sich in flammend zusammenstoßenden Wogen verschwinden gesehen.
    Hört ihn schreien, nur wenige Schritte vor sich."


    Patrick Roth möchte eine leidende Gegenwart erlösen. In einem seiner vielen Träume schlägt Joseph auf Geheiß Gottes einen Tiegel entzwei und fügt ihn nicht zufällig mit seinem Speichel wieder zusammen. Derselbe Speichel fließt in der mündlichen Erzählung, der Roth vertraut wie weiland Martin Buber und Franz Rosenzweig, an deren Bibel-Übersetzung er im Gestus, in der Verknappung und mit einigen Neologismen anzuknüpfen scheint. Zudem lässt er eine Frau namens Neith Josephs Lebensgeschichte zwei Männern erzählen, die im Jahre 70 Jesus' Grab in Jerusalem vor den römischen Eroberern sichern sollen. Dank der Erzählung von Neith, die Joseph noch persönlich kannte, "glauben" die zwei Christen am Ende nicht mehr nur – sie erkennen sich als Teil einer Tischgemeinschaft, die bis zu Abraham zurückreicht. "Da" ist alles, ineinander gefügt, ganz.

    Diese Rahmenhandlung ist allerdings auch ein wenig lästig, führt sie doch vor, was der Leser selbst erfährt. Denn Patrick Roth nutzt eine ästhetisch avancierte und hochgradig reflektierte Erzählstimme zur Betörung. Sie verströmt schweren Zauber, vermeidet glücklich alle Peinlichkeit des biblisch-archaischen Altertümelns und läuft doch beschwörend auf ein Wunder zu – auf das Wunder einer metaphysischen Gewissheit, die nichts Esoterisches oder mystisch Raunendes besitzt.

    Das Wunder erinnert auch nur von fern an Gott. Denn Roth versteht das Wunder auf eine sehr bestimmte Weise, das zeigt die Szene, in der er einen Beobachter interpretieren lässt, wie Jesus ein totes Kind wieder zum Leben erweckte:

    "Denn er hatte den Säugling ins Becken gelegt, bis das Wasser sich schloss überm Kleinen.
    Und er betrachtete das Tote und sah es ausgestreckt liegen, wie es die Mutter zuvor wohl gefunden.
    Und erneut beugte er sich übers Wasser und sah hinab.
    Sah aber hin – so dachte ich später, als ich seinen Blick mir zurückrief –, sah aber hin wie einer, der einen erkennt.
    Ja, das war's. Und das rätselhaft.
    Ich sage: Er sah's an, als sei es sein Kind, über das er sich beugt. Sein Kind.
    Und doch war das nicht der Blick, den ich sah, nicht der Blick, den ich wiedersah, als ich mir später zurückrief, ja zurückrufen musste, denn – was war dieser Blick.
    Nicht, als liege da in den Wassern sein Kind, sah er hin und hinab. Sondern:
    Als liege er da.
    Er selbst.
    Als sei er es, der da ertrunken lag unter Wasser.
    Er, der sich endlich erkennt."


    Das Wunder verdankt sich der Selbsterkenntnis im Anderen, die Auflösung der Identität löst auch die Grenze zwischen Leben und Tod auf. Nun kann das neue Leben beginnen, für das die vielen Kinder dieses Buches, nicht nur der Gottessohn, stehen. Es wird, auf andere Weise, auch Joseph zuteil. Die reine Kirchenlehre ist das natürlich nicht. Patrick Roths "Sunrise. Das Buch Joseph" ruft die biblischen Geschichten mit großer Sprachmacht vielmehr herauf, um auf faszinierende, höchst überzeugende Weise den Glauben an die existenzielle Bedeutung der Literatur zu entzünden.

    Patrick Roth, Sunrise. Das Buch Joseph.
    Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2012, 509 Seiten, 24,90 Euro